An diesem Mittwochvormittag ist nicht viel los im „Basislager“, der Kletterhalle der Sektion Stützpunkt Inntal in Bad Aibling. Gute Voraussetzungen also für den Routenbau. Eine Ecke in der Halle ist bereits mit rot-weißem Band abgesperrt. Heute soll eine besondere Route entstehen – eine, die speziell für Menschen mit Behinderung gedacht ist. Kisten mit blauen Griffen, Werkzeuge und Seile liegen schon bereit. Der Routenbauer Julius Kerscher und der Paraclimber Marcel Richter begutachten das Baumaterial.
Inklusive Routen werden auch gern von Kindern, Älteren und Anfänger*innen geklettert.
Mal Hand aufs Herz: Wie oft denkt man darüber nach, wie viele Überlegungen in die Route eingeflossen sind, die man gerade klettert? Dabei ist Routenbau alles andere als ein trockenes Nischenthema. Julius und Marcel sprudeln vor Begeisterung, wenn sie nach ihrer Motivation und Taktik gefragt werden. „Routenbauen ist zuallererst ein kreativer Akt“, findet Julius. „Der Reiz liegt für mich darin, sich in andere hineinzuversetzen und etwas zu schrauben, wo sie mit Freude wieder aus der Halle hinausgehen“, erzählt Marcel. Der gebürtige Dresdner machte seine Passion zum Beruf und arbeitet seit ein paar Jahren in der Kletterhalle in Ehrwald an der Zugspitze. Sich hineinversetzen zu können – das ist besonders beim inklusiven Routenbau wichtig. Nicht nur für Menschen mit Behinderung bestehen besondere Anforderungen. Inklusive Routen werden auch gern von Kindern, Älteren und Anfänger*innen geklettert. Oder, wenn der Genuss im Vordergrund steht und man sich beim Klettern auch ein wenig unterhalten möchte. Auch für die Physiotherapie werden die Routen genutzt, um mit Menschen nach Schlaganfällen oder mit Schulterverletzungen zu arbeiten. „Viele finden bei uns durch therapeutisches Klettern wieder zurück zur Normalität – oder zu einer neuen Normalität“, erzählt Marcel.
Routen für möglichst viele verschiedene Handicap-Muster zu bauen, das ist eine der Herausforderungen. Für Kletter*innen mit nur einem Arm oder einem Bein, mit Spastiken oder Lähmungen, die teilweise aus dem Rollstuhl heraus an die Wand kommen. Eine Route zu bauen, die all diesen Zielgruppen gerecht wird, ist aber unmöglich, räumt Julius ein. Er entdeckte seine Leidenschaft in der Kletterhalle in Thalkirchen, als er dort beim Routenbau zuschaute und es selbst ausprobieren durfte. Als Trainer B Alpinklettern setzte man Vertrauen in ihn. „Damals gab es noch keine Ausbildung, es war alles Learning by doing“, erzählt Julius, zieht sich Helm und Schutzbrille an, greift sich den Akkuschrauber und schleift eine Kiste mit Griffen zum Fuß der Wand.
Für wen baue ich eigentlich?
Diese Frage sollte man sich immer stellen. Die Fähigkeit, sich in unterschiedliche Menschen hineinzuversetzen, müssen Routenbauer*innen mit der Zeit entwickeln. Julius nennt inklusive Routen auch „zugängliche“ Routen. Denn es kommt besonders auf die Einstiegsbereiche an. „90 Prozent der Routen sind gerade unten zu schwer“, erzählt Marcel. „Damit alle Kletter*innen eine positive Erfahrung machen, schrauben wir die Routen so, dass der Körperschwerpunkt leicht an die Wand kommt, ohne dass man viel dafür machen muss.“
Man sollte keine Showstopper einbauen.
Des Weiteren sollte man keine „Showstopper“ einbauen. „Das ist ein Begriff, den wir oft verwenden. Es ist sehr schade, wenn man 95 Prozent einer Tour klettern kann und dann kommt mittendrin eine Stelle, bei der es nicht weitergeht. Im dümmsten Fall ist das gleich beim Einstieg der Tour. Dann kann ich die restlichen 15 Meter gar nicht klettern“, erklärt Julius. Den Einstieg der Route hat er fertig geschraubt. Er klettert nun ein paar Meter höher, mit zwei Seilen selbst gesichert. Mit einem zusätzlichen Seil zieht er die Materialkisten nach oben.
Bitte keinen Zugzwang
„Zugzwang heißt, um eine Stelle zu bewältigen musst du unbedingt eine bestimmte Bewegung machen. Diese ist aber immer auf eine bestimmte Person zugeschnitten, in der Regel den Routenbauer selbst“, erzählt Marcel. „Inklusive Routen sind eher Bühnen mit vielen Ebenen“, erklärt Julius. Das bedeutet, dass es auch verschiedene Lösungen geben kann, wie man etwas klettert. „Es gibt keine fixe Choreografie, die man quasi erzwingen muss. Es geht mehr darum, viele Chancen für positive Bewegungserfahrungen zu bieten.“ Beim Blick auf den Einstieg fällt gleich auf: Dafür wird mehr Material benötigt. „Beim inklusiven Routenbau verwenden wir teilweise doppelt so viele Griffe und Tritte“, berichtet Julius. Das ist für Kletterhallen oft ein wirtschaftliches Problem. Andererseits macht eine solche Route den Routenbauer*innen mehr Arbeit und sie schaffen in derselben Zeit weniger Routen. Da sie jedoch in der Regel nach deren Anzahl bezahlt werden, ist der zugängliche Routenbau für sie weniger attraktiv. Hier im Basislager ist das anders. Die Halle versteht sich als inklusive Kletterhalle und hat sich darauf eingestellt, nicht die Menge der Routen, sondern die Arbeitszeit zu bezahlen. Kletterhallen sollten abwägen, ob sich der Mehraufwand lohnt. Denn letztlich spricht man mit mehr Vielfalt auch ein viel größeres Publikum an.
Der Akkuschrauber hallt durch das Gebäude. Julius ist nun fast oben beim Umlenker angekommen. „Ich schraube zwar allein, aber Marcel sitzt immer auf meiner Schulter“, witzelt er. Heißt übersetzt: Er orientiert sich beim Setzen der Griffe und Tritte an den körperlichen Voraussetzungen des Paraclimbers.
Schwierigkeiten anders denken
„Jede*r Routenbauer*in hat sich ein eigenes Schraubmuster angeeignet. Wenn man keine Vorgaben macht, schrauben sie die Griffe weit auseinander. Auch, weil sie dann weniger nachdenken müssen und schneller arbeiten können“, erklärt Marcel. Der inklusive Routenbau erfordert hingegen mehr Planungszeit. Zum Beispiel, wie der Schwierigkeitsgrad berücksichtigt wird. „Beim inklusiven Routenbau ist es wichtig, die Schwierigkeiten der Route nicht durch Längenzüge, sondern über technische Varianten einzubauen." Außerdem sollte nicht jeder Zug dem Schwierigkeitsgrad der Route entsprechen. Um die Kletternden nicht zu überfordern, reicht es, diesen zum Beispiel bei zwei Zügen zu verlangen.
Im Klettersport bist Du voll drin in diesem Zahlendenken.
Hier ist nach Julius gar ein Geisteswandel notwendig: „Wir müssen wegkommen von den Zahlen.“ Schwierigkeitsgrade seien immer vage und eher Pi mal Daumen. Denn unterschiedlichen Menschen fallen unterschiedliche Dinge schwer. „Klar, man will Trainingsziele haben, aber Zahlen wirken immer so, als wären sie objektiv. Dabei stochert man eigentlich im Nebel. Das checkt man umso mehr, je intensiver man sich mit dem Inklusionssport befasst, wo die persönlichen Voraussetzungen sehr verschieden sind. Ein und dieselbe Route würden die Leute aus ihrer Sicht ganz unterschiedlich bewerten. Im Klettersport bist Du aber voll drin in diesem Zahlendenken. Ich kenne einige Leute, die deshalb den Spaß am Klettern verloren haben. Wie befreiend kann es sein, wenn man sich einfach mal sagt: Die Zahlen sind Quatsch.“ Stattdessen müsse das eigene Erlebnis im Mittelpunkt stehen. So sieht es auch Marcel: „Klettern muss Spaß machen. Das ist die wichtigste Aussage dabei.“
Die Kunst des Hineinversetzens
Wie entsteht eine Kletterroute? Zu Beginn hat Julius eine Art Landschaft im Kopf, die dann gestaltet und schließlich weiter optimiert wird. Beim inklusiven Routenbau verfolgt man immer ein bestimmtes Motto. Zum Beispiel, dass nur Griffe verwendet werden, die ein „Einrasten“ erlauben. Bei Spastiken oder Teilspastiken werden beim Klettern Hilfsmittel benutzt, die Greifhaken ähneln. Wie trifft man eine solche Zielgruppe am besten? „Die Routen werden durch einen Feedback-Loop verbessert. Dadurch kann man lernen, sich immer mehr in andere hineinzudenken. Sich zum Beispiel als große Person vorzustellen, dass andere mit dem Arm nicht so weit kommen. Dabei ist es hilfreich, wenn man im Team arbeitet und Tipps von anderen bekommt.“
Es ist schwerer, leichtere Routen zu bauen.
Sich hineinzuversetzen – das kommt häufig beim Routenbau zu kurz. „Es ist schwerer, leichtere Routen zu bauen“, erklärt Marcel. „Die ausgebildeten Leute schrauben am liebsten in dem Bereich, in dem sie selbst klettern. Schon bei einem Grad leichter oder schwerer wird es für sie kompliziert.“ Erschwerend kommt hinzu, dass Routenbau eine kreative Tätigkeit ist – und Routenbauer*innen sich gern als Künstler*innen sehen. „Für uns ist Routenbau auch Selbstwirksamkeitserfahrung. Ein Künstler malt ein Bild – wir schrauben eine Route. Und manch einer sieht sein Kunstwerk dann als nicht angreifbar an“, so Julius. „Wir sollten aber die Funktion in den Vordergrund stellen und immer offen für Kritik sein.“
Testen und optimieren
Julius seilt sich ab. Der erste Entwurf der Route ist nun geschraubt. Marcel bindet sich ins Seil und steigt in die Route ein. Er klettert zügig aber mit Bedacht, um alles in Augenschein zu nehmen. Sind die Tritte ausreichend groß? Ist dieser Griff für jemanden mit wenig Armkontrolle erreichbar? Ab und zu tastet er mit den Händen oder Füßen umher und versucht, Stellen auf verschiedene Weisen zu klettern. Einmal klopft er mit dem Kletterschuh an die Wand und ruft „Hier fehlt aber noch ein Tritt“.
Mehr zum inklusiven Klettern:

Fortbildung Klettern und Inklusion
Klettern für alle
Mut haben, Dinge auszuprobieren und sie immer wieder zu verbessern – vielleicht die wichtigste Erkenntnis der Tagung zum Thema Klettern und Inklusion in Bad Aibling.
Wieder am Boden lobt er Julius. Er habe geschickt in der Route bestimmte Muster eingebaut, die sich wiederholen. „Wenn man das einmal gelernt hat, geht es beim nächsten Mal einfacher.“ Die Schlüsselstelle war anspruchsvoll, aber zu meistern. „Der Griff da oben links muss noch etwas höhergeschraubt werden“, bittet er Julius. Ein anderer scheint überflüssig zu sein. „Aber lass ihn mal dort, er hilft jemandem, dem der linke Arm fehlt.“ Als nächstes klettert Julius. Auch ihm fehlt noch ein Griff. „Also gut, Marcel: einer für dich, einer für mich!“, lacht Julius.
Keine Route kann und muss gleich perfekt sein.
Feedback hilft, sich besser auf die Zielgruppe einzustellen. „Es ist ein komplexerer Prozess, da man viel mehr im Team arbeitet. Sicherlich eine Herausforderung. Dadurch macht es aber auch mehr Spaß.“
Nach der Mittagspause macht Julius noch einmal einen Kontrollgang. „Am Anfang musst du an so vieles denken. Und gleichzeitig musst du kreativ sein. Da kann man mal was übersehen. Deshalb braucht es ein sauberes Abnahmeprotokoll.“ Wie ist der Seilverlauf? Sind die Griffe passend gegen Verdrehen gesichert? - und ähnliche Fragen. Dies verdeutlicht auch, warum eine Ausbildung als Routenschrauber*in, wie sie der DAV anbietet, so wichtig ist.
Einfach mal starten
… sollte man, findet Julius. Am Anfang macht man sich oft große Sorgen und denkt, „inklusiver Routenbau? Oh Gott, ich weiß gar nicht wie das geht.“ Es hilft, sich mit Leuten aus der Zielgruppe auszutauschen, aber auch mit Trainer*innen. „Die haben oft gute Ideen, obwohl sie nicht im Routenbau tätig sind. Wir haben gemerkt: Es ist schon ein Gamechanger, in der Halle alle an einen Tisch zu setzen.“ Oder der Zielgruppe, um die es geht, einfach mal gemeinsam beim Klettern zuzuschauen. Sicherlich kann man es am Ende nicht allen recht machen. Das ist bei anderen Dingen im Leben auch so. „Also, liebe Routensetzer, alle mal cool bleiben. Ihr werdet nie eine Route bauen, die allen gefällt“, beruhigt Julius. Aber es ist ein erreichbares Ziel, in jeder Halle mehrere Routen anzubieten, in die alle einsteigen können, egal mit welchen körperlichen Voraussetzungen. Denn Klettern soll allen Spaß machen dürfen.