Im dritten Bergsommer laufen wir von Ost (Triest) nach West (Menton) auf unserer selbst zusammengestellten „Alpenwanderung“. Diesen Begriff haben wir dem Buch „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“ von Johann Gottfried Seume entliehen. Er schrieb am Gotthardpass in sein Notizbuch: „Es müsste das größte Vergnügen sein, einige Jahre nacheinander Alpenwanderungen machen zu können.“
Und die Vermutung war richtig: Für uns ist es wirklich das allergrößte Vergnügen! Dabei haben es uns die Südseite der Alpen und in Italien besonders der Sentiero Italia angetan.
Über den Scatta d'Orogna-Pass zum Monte Leone
Nach 32 Tagen Bergwandern erwischt uns auf der Alpe Devero der erste komplette Regentag. Wir nehmen ihn als Chance, sitzen faul herum und genießen im Ristorante Alpino Geselligkeit, Wärme und köstliches Essen. Am Folgetag steigen wir mit frischem Elan im Naturpark Veglia-Devero auf schmalen Pfaden über die Pässe Scatta d'Orogna (2462 m) und Valtendra (2431 m), schlängeln weiter durch das mit Lärchen besetzte Hochtal des Rio Frua und haben dabei stets den mächtigen Monte Leone auf der italienisch-schweizerischen Grenze vor Augen.
Der GPX-Track der Etappe E60 des Sentiero Italia gibt uns bei Bedarf Orientierungshilfe. Gerade noch rechtzeitig vor dem angekündigten Regen erreichen wir das Rifugio Arona auf der Alpe Veglia. Wir sind im Piemont hoch über dem Ossolatal in den östlichen Westalpen unterwegs. Durch den Simplontunnel ist das Tal gut mit der Bahn erreichbar.
Abstecher in die Schweiz
Die nächsten Abschnitte des Sentiero Italia (E59 bis E57) kennen wir bereits von unserer Wanderung auf der Grande Traverse delle Alpi (GTA). Die führte uns vom Griespass durch die piemontesischen und ligurischen Berge bis zum Mittelmeer. Dieses Mal zweigen wir für zwei Tage in die Schweiz ab.
Hier überrascht uns nach einem knackigen Steilabstieg von über 2000 Höhenmetern in die Gondoschlucht der Stockalperturm aus dem 17. Jahrhundert. Damals diente er als Warenlager und Unterkunft für Säumer, die den Simplonpass überquerten. Heute ist er eine außergewöhnliche Herberge für Wander- oder Radtouren und andere Aktivitäten. Durch das Zwischbergental mit seinem im Oberwallis einzigartigen Buchenbestand und über den Passo Andolla gelangen wir fast weglos wieder auf den Sentiero Italia, Etappe E53N.
Wilde Schönheit: Der Naturpark Alta Valle Antrona
Noch ein Abstieg und wir erreichen das malerisch gelegene Rifugio Andolla. Hier treffen sich allabendlich Fuchs, Reh und Steinbock – natürlich in gebührendem Abstand vom Menschen. Mit wenigen anderen Gästen teilen wir uns mit Blick auf die Tiere ein köstliches Risotto mit Heidelbeeren, ein Hirschragout mit Polenta und zu guter Letzt Grappa von der Arneis-Traube. Köstlich!
Der Unterschied zwischen den Bergpfaden in der Schweiz und Italien ist auffällig: Dort sind die Wege sauber ausgemäht, die Grün-Erlen zurückgeschnitten und die Steine und Felsplatten, wenn nötig, in Stufen gelegt. Hier sind es grasüberwachsene Trampelpfade, die über abschüssige Steine führen, von denen wir durch wuchernde Grün-Erlen manchmal vom Weg abgedrängt werden. Wir schätzen diese wilde Schönheit Italiens!
Weiter geht es auf Etappe E52N über die verlassene und zugewachsene Alpe Camasco hinauf zum Passo Coronette. Kurz vor dem Pass ändert sich wie angekündigt das Wetter und es ziehen Wolken auf.
Beim Abstieg fordert uns eine (ziemlich) lange und steile Passage mit Kettensicherung (T4) heraus. Cornelia ist in ihrem Element und kraxelt einfach herunter. Chapeau! Doch meistens liegen die Schwierigkeitsgrade der Etappen bei T3, manchmal T2 und seltener T4 gemäß SAC-Wanderskala.
Unser Ziel, das Bivacco Camposecco am gleichnamigen Stausee, erreichen wir etwas erschöpft nach sieben Stunden. Die wenigen Kilo- und Höhenmeter hatten es heute in sich. Mit zwei jungen Italienern, die im See Forellen fischen, teilen wir uns Tisch und Lager. Nach erfolgreichem Fischfang berichten sie sofort mit Begeisterung und Stolz ihren Müttern daheim via Smartphone über ihre Beute.
Durch den Tunnel zum Lago Cingino
Ein erlebnisreicher Tag steht uns auf der folgenden Etappe bevor. Zwei Stauseen im oberen Antronatal sind mit einem mächtigen Wasserrohr über mehrere Kilometer miteinander verbunden. Fast drei Kilometer begleiten wir dieses durch einen dämmrigen, gerade noch begehbaren Tunnel. Wir ersparen uns dadurch einen ermüdend mehrstündigen Abstieg ins Tal und auch den entsprechenden Wiederaufstieg.
Der Lago Cingino ist sowohl in Fotografie- als auch in Steinbockkreisen einschlägig bekannt. Für die Steinböcke bietet das Lecken an den gehauenen Steinen der Staumauer eine tolle Nahrungsergänzung. Leichtfüßig bewegen sie sich in dieser steilen Mauer auf und ab – was wiederum die anlockt, die auf der Suche nach dem perfekten Foto sind. Wir haben Glück und können den weit und breit einzigen „Steinbock an Staumauer“ fotografisch festhalten.
Wer es schafft, früh am Morgen aus dem warmen Schlafsack zu krabbeln, kann einen wunderbaren Sonnenaufgang am Bivacco Antigine (2893 m) erleben und tief beeindruckt in den Tag starten.
Vor unserem Abstieg ins hintere Saastal dürfen wir am Ofentalpass erleben, wie sich das Lichtspiel langsam auf die Mischabelkette mit dem Dom als höchste Erhebung überträgt.
Hinab ins Valle Anzasca
Ab dem Monte-Moro-Pass (2857 m) sind wir wieder in Italien. Von der wilden Schönheit ist hier nur noch wenig übrig. Das Skigebiet von Macugnaga am Ende des Valle Anzasca erstreckt sich fast bis hierher. Jetzt im Sommer sieht es vermutlich noch trostloser aus als im Winter, wenn eine dicke Schneeschicht einen Großteil des Raubbaus an der Natur verdeckt.
Im Waschsalon des Ortes können wir endlich mal unsere Kleidung waschen – lediglich die Regenkleidung bleibt am Körper. So sind wir wieder startklar, um auf dem Sentiero Italia entlang des Monte Rosa und hoch über dem Aostatal in diesem Jahr noch weitere 25 Etappen auf unserer Alpenwanderung zu erleben.
Unsere Erfahrungen auf dem Sentiero Italia beschränken sich derzeit auf die Etappen, die durch den italienischen Alpenbogen führen. Einige Etappen sind wegen ihrer Kilo- und Höhenmeter recht lang. Wir teilten dann zwei offizielle Etappen in drei für uns sinnvolle Tagestouren (Zelt sei Dank!). Um einen Übernachtungsplatz auf einer italienischen Hütte zu bekommen, reicht oft eine Anmeldung am Vorabend aus. Ausnahmen davon sind Hütten in touristisch stark frequentierten Gegenden sowie die Zeit um "Ferragosto" (15. August) herum. Das italienische Abendessen steckt voller lokaler Spezialitäten, z.B. dem friaulischen Frico, den Canederli del Trentino, den lombardischen Pizzoccheri oder den Crespelle alla piemontese. Trotz eingeschränkter italienischer Sprachkenntnisse konnten wir uns gut mit Unterstützung einer Übersetzungs-App oder in englisch verständigen.
Die Lust auf mehr Sentiero Italia ist bei uns gestiegen. Wir hoffen, dass wir die anderen Regionen, durch die der Weg führt, wie z.B. Ligurien, die Abruzzen, Kalabrien, Sizilien und Sardinien noch erwandern und entdecken dürfen.