Vier Personen steigen am Seil Berg hinauf, weiter unten ein blauer Bergsee
In leichter Kletterei über Blockwerk und Platten geht es auf das Bortelhorn. Foto: Iris Kürschner
Die drei Großen vom Simplon

Auf der Schneide

Drei große Hörner überragen den Simplon. Grenzgipfel, Schmugglerterrain. Ein wildes Gelände abseits des Mainstreams ist es bis heute geblieben. Unterwegs auf einer aufregenden Kammtour.

Wie der bekannte japanische Vulkan Fujijama überragt der Dreitausender das Rhonetal. Die Augenweide bei der Anfahrt und das Ziel einer spannenden Kraxelei auf drei Gipfel im Grenzkamm: das Wasenhorn, das Furggubäumhorn und das Bortelhorn. Sie trennen die Schweiz von Italien, das Wallis vom Piemont. Hausrevier von Fredy Tscherrig. Der Bergführer führt mit seiner Familie eine Herberge auf der unterm Grenzkamm gelegenen Wasenalp und kennt hier jeden Winkel.

Eine stille Gegend fern der großen Touristenströme. Traumhaft zum Wandern, für alpine Touren oder einfach nur zum Ausspannen. Allein schon wegen des Panoramas.

Die Wasenalp liegt auf einem Aussichtsbalkon sondergleichen. Von dort lässt sich, abgesehen von Goms, das ganze Rhonetal überblicken und am nördlichen Horizont reihen sich die Berner Alpen. Formschöne Beaus wie das Bietschhorn, das Nesthorn, das Aletschhorn. Ewig könnte man da sitzen, gebannt von der Morgenstimmung und beobachten, wie das Licht die Schatten aufleckt, emporklettert, die Flanken modelliert und die Gipfel zum Leuchten bringt. Aber dafür ist dann doch nicht die Zeit, zumindest dann, wenn man sich mit einer Gruppe im Zustieg befindet. Zu fünft – zwei Pärchen und Fredy – sind wir schon früh von der Wasenalp gestartet und bewegen uns noch durch ein Schattenreich, während auf der anderen Talseite schon das Licht tanzt.

Die Morgenstimmung im Wallis lässt sich schon beim Frühstück im Berghotel Wasenalp ausgiebig genießen. Foto: Iris Kürschner

Vom Schmugglerpfad zum Sonnengrat

Über uns hängen die düsteren Nordflanken des Wasenhorns. Geschichtsträchtige Schleichpfade ziehen hüben wie drüben durch. Manch tragisches Schicksal habe sich da zugetragen, so Fredy. Ihm ist noch lebhaft in Erinnerung, wie er das Berggasthaus Wasenalp übernahm und ausmistete. Sein Vorgänger, der Furrer Erni – der letzte Krämer von Brig, wie dieser sich nannte – führte es über Jahrzehnte als Umschlagplatz für ein reges Schmugglergeschäft. „In den Dreißiger- und Vierziger-Jahren gab es in Italien auf einige Konsumgüter starke Zollbeschränkungen und so versuchte man, sie auf der anderen Seite der Grenze zu besorgen, wo sie viel billiger waren. Man benutzte die schwierigen Grenzübergänge.“ Im Keller fand Fredy noch die alten Jutesäcke, in denen man die unverzollten Waren transportiert hatte. Vor allem der Handel mit Zigaretten lohnte sich wohl. Kiloweise wurden sie in die Jutesäcke verstaut und dann bei jedem Wetter über die Furggubäumlicke ins Piemont gebracht. Einige hat es das Leben gekostet, wenn sie zu früh aufbrachen im Frühjahr und tonnenschwerer Nassschnee südseitig von den Flanken rutschte. In Gedanken versunken schreiten wir eine Weile still dahin, das Bodmertälli hinauf.

Im Aufstieg zum Mäderhorn blickt man zurück zu Wasenhorn und Monte Leone, im Hintergrund leuchtet der Chaltwassersee. Foto: Iris Kürschner

Immer steiler werden die Serpentinen und dann, fast wie mit einem Paukenschlag, stehen wir im gleißenden Licht. Die Mäderlicke ist erreicht. Nach dem eisigen Schatten eine Wonne, sich von der Sonne wärmen zu lassen. Genau richtig für eine Pause. Wir sitzen nach Süden gerichtet über einer ockerfarbenen Trockenwüste – so wirkt das Chaltwassertälli, aus dem der Chaltwassersee wie eine türkise Perle heraus leuchtet. Kaum, dass die Monte-Leone-Hütte in den Sandfarben auffällt, so perfekt ist sie in die Landschaft eingepasst. Abgetrennt wird das Hochtal vom wuchtigen Eisriegel des Monte Leone. Beim Blick nach Westen stechen jenseits des Simplonpasses im Gipfelmeer Fletschhorn, Mischabel und Weisshorn ins Auge. Und im Norden drapieren sich über dem tief eingekerbten Rhonetal wieder die Berner Alpen mit Aletschhorn, Nesthorn, Bietschhorn als Eyecatcher.

Blick von der Wasenalp auf Bietschhorn, rechts drapieren sich Breithorn und Nesthorn. Foto: Iris Kürschner

In diesem eindrucksvollen Panorama geht es nun den Westgrat des Wasenhorns empor. Das anfängliche Gehgelände wechselt schnell in leichte Blockwerkkletterei. Mal müssen wir auch in die Südflanke ausweichen, ein heikles Couloir queren, wo in dem weichen Bröselmaterial jeder Schritt großer Sorgfalt bedarf, während der Tiefblick an den Nerven zerrt. Der Rest ist wieder stabil und griffig. Eine Freude, so unterwegs zu sein.

Wilder Westen an der Südgrenze

Erst oben beim Gipfelkreuz kommt auch der Blick nach Italien ins Spiel. Man steht direkt über dem großen Wiesenkessel der Alpe Veglia, wo man sich dereinst mit Schmuggel ein Zubrot zur bäuerlichen oder gastwirtschaftlichen Haupteinnahmequelle verdiente. So wie Severino Orio, Seniorwirt vom Albergo della Fonte, wo Dieter und ich im letzten Sommer übernachteten. Er erzählte uns, dass er in seinen 20er Jahren fast eine Dekade lang Zigaretten geschmuggelt hatte. Damals arbeitete er noch als Bäcker in Varzo und der karge Lohn reichte nicht aus, die Familie zu ernähren. Der illegale Handel mit der Schweiz war lukrativ, aber extrem riskant. Die Route über den Chaltwasserpass im Westen des Alpkessels konnten sie nicht nehmen, da stand die Hütte der Grenzsoldaten, die heute als SAC-Unterkunft genutzte Cabane Monte Leone.

Die Monte-Leone-Hütte im Chaltwassertälli ist optimal in die Landschaft eingebettet. Foto: Iris Kürschner

Also mussten sie über die nördlich gelegene Furggubäumlicke kraxeln. Gelegentlich sorgten Verfolgungsjagden mit den Grenzwärtern für Schlagzeilen. Vom „Wilden Westen an der Südgrenze“ war in den Schweizer Medien gar die Rede. Aber in der Regel stand man in freundschaftlicher Kommunikation mit den Zöllnern der Furggubäumlicke. „Wir wussten genau, wann sie abends in ihrer schlichten Hütte am Pass aßen, und schummelten uns dann vorbei“, verriet uns Severino. An die vierzig Kilo schleppten die Spalloni (Träger) auf dem Buckel. Seine Bricolla (Tragekiste) hat Severino im Albergo della Fonte ausgestellt, wo er 1968 als Wirt anfing. Heute wird die Unterkunft am Südfuß des Furggubäumhorns von seinen Kindern, den Geschwistern Katjuscia und Danilo, in zweiter Generation geführt.

Rot sehen

Scharf am Abbruch zur Alpe Veglia kraxeln wir das Wasenhorn südlich ab. Das ginge nicht immer so problemlos, oft läge im Frühsommer noch ein Schneefeld und Steigeisen seien notwendig, freut sich Fredy. An der Monte-Leone-Hütte schauen wir zum Gipfelgrat empor. So schroff und unnahbar das Wasenhorn vom Rhonetal aus gewirkt hat, so freundlich und warm zeigt es sich hier von seiner Südseite.

Es leuchtet in Rottönen, weshalb es auf italienisch Punta Terrarossa heißt.

Nach einer Stärkung folgt wieder ein Gegenanstieg zur Mäderlicke, wo sich über den ausladenden Grat ganz leicht das Mäderhorn überschreiten lässt. Direkt unter uns liegt der breite Simplonpass, über den Spielzeugautos kriechen. Selbst die Sattelschlepper sehen niedlich aus. „Mit dem Bau des NEAT-Tunnels hatte man dem Volk versprochen, den Warentransport von der Simplonpassstrasse fortzubringen“, wettert ein einheimischer Wanderer, der mit uns den Tiefblick studiert. „Genau das Gegenteil ist passiert. Anstatt durch den Tunnel fahren die tonnenschweren Monster über den Pass und sorgen für Dauerbaustellen. Gelogen haben die Politiker und das Volk hat’s schon wieder vergessen. Da weiß doch jetzt niemand mehr, warum der NEAT gebaut wurde. Solche Beispiele häufen sich zunehmend. Es wäre eigentlich die Aufgabe der Medien, darauf aufmerksam zu machen und dies zur Diskussion zu stellen.“ Beim Wandern hole er sich wieder Luft und klare Gedanken, da helfe eine andere Perspektive, verabschiedet er sich.

Bei der Mäderlicke lässt sich, nach einer Stärkung in der Monte-Leone-Hütte, das Mäderhorn über den ausladenden Grat leicht überschreiten. Foto: Iris Kürschner

Wir steigen wieder ab zum Bodmertälli. Im Schutt der steilen Flanke fällt ein unscheinbares Pflänzchen kaum auf. Nur wer es kennt, sieht es. Wenn man die Blättchen zwischen den Fingern reibt, duftet es verführerisch. Richtig, nach Hochprozentigem, lacht Fredy. „Gabüüsa“ oder „Gratreifa“ nennen die Einheimischen die Schwarze Edelraute (Artemisia genepi), ein Heilkraut, das in Hochprozentigem angesetzt, in Stimmung bringt. Sie steht auf der roten Liste gefährdeter Arten und unter Naturschutz, weshalb man sie mittlerweile kultiviert, um den beliebten Kräuterlikör herzustellen.

Zurück im Berggasthaus Wasenalp steht uns der Sinn eher nach einem Durstlöscher, als die Tür aufgeht und ein älterer Herr die Gaststube betritt. Er stellt sich als Heli Wyder vor, dereinst Lehrer und Oberst beim Militär. Ein Urgestein der Wasenalp. Jetzt als Pensionär pflegt der 89-Jährige die Wanderwege und reinigt die Wiesen von Grünerlensprösslingen, was ihm ein agiles Alter beschert. Als er erfährt, dass wir anderntags das Furggubäumhorn besteigen wollen, kommt er ins Erzählen. Sein Onkel sei dort droben Grenzsoldat gewesen. Mit netten Kollegen aus dem Nachbarland. Solidarisch war man. Wer schmuggelte, wusste, was abzugeben war, damit beim Risotto ein ungestörtes Durchhuschen möglich gemacht wurde. Später kaufte Heli die Passhütte für den symbolischen Betrag von einem Franken. Doch Schlitzohren seien nach wie vor unterwegs. Letztens waren seine dort aufgehängten Petroleumlampen verschwunden. Deshalb belasse er es bei einer rudimentären Notunterkunft.

Auf dem Weg zum Furggubäumhorn muss man immer wieder die Hände zu Hilfe nehmen. Foto: Iris Kürschner

Süßes hinterm Viehgatter

Ein zeitiger Aufbruch führt uns erneut ins Schmugglerleben. Der recht lange Zustieg zur Furggubäumlicke lässt viel Zeit für die Fantasie, für Szenen, wie es damals zugegangen sein könnte. Die letzten Meter beansprucht ein Klettersteig, wo es wahrscheinlich zu Schmugglerzeiten noch ungesichert über diese Felsstufe ging. Oben am Pass trifft man dann nicht nur auf die Hütte, sondern auch unzählige Steinböcke. Nicht wenige mit mächtigen Hörnern. Sie trollen sich schwerfällig, als wir am Kamm aufsteigen. Die Kletterei über den Südwestgrat auf das Furggubäumhorn zeigt sich abwechslungsreich und nur wenig anspruchsvoller als am Wasenhorn. Die Schwierigkeiten gehen nicht über den II. Grad hinaus. Fantastische Tiefblicke zur Alpe Veglia und ins Rhonetal begleiten. Nordseitig unter den Flanken liegt die Bortelhütte, in der wir die nächste Nacht verbringen.

Schon bevor man die Bortelhütte erreicht, bekommt man einen Eindruck der Gastfreundschaft der Hüttenwirtin. Foto: Iris Kürschner

Der süße Gruß, eine Milchkanne mit Bonbons gefüllt, hängt am Viehgatter, bevor man die Hütte erreicht, und lässt eine von Herzen kommende Bewirtschaftung vermuten. Seit 2018 führt Irmtraud Chastonay, die alle nur Irmi nennen, die Bortelhütte und man spürt, dass sie das mit großer Freude tut. Längst hat sie sich einen Namen mit all ihren leckeren Kuchen gemacht. Da kosten wir uns gerne durch nach der anstrengenden Tour.

Früh geht es wieder aus den Betten und bergwärts. Nun steht das Bortelhorn an. Die erste Stunde lässt sich gut noch im Halbschlaf bewältigen. Im gemütlichen Trott dringt Fredys Stimme ans Ohr: „Mein Vater pflegte zu sagen: Um schnell zu sein, muss man langsam laufen.“ Eine uralte Bergführer-Weisheit, die uns durch das Gelände hilft, dass nun zunehmend heikler wird. Wo es dereinst leicht mit Steigeisen über den Gletscher ging, muss man sich jetzt zwar ohne Steigeisen, doch um einiges mühsamer durch instabilen Moränenschutt schuften. Freudiges Aufatmen, wenn man dann endlich an der Wand steht, ein plattiger Felsaufschwung unterhalb der Scharte, über den Fixseile hinauf in die Sonne helfen. Wir genießen die Gratkletterei. Und dann stehen wir droben auf unserem „Fujijama“ des Rhonetals.