Wolkenkratzer über der Reiteralm, Foto: Axel Klemmer
Wolkenkratzer über der Reiteralm, Foto: Axel Klemmer
Weitwandern zwischen Bergsteigerdörfern

Vom Wallberg zum Watzmann

Fernreisen auf die sanfte Tour, ökologisch korrekt und außergewöhnlich spannend: zu Fuß durch die Bayerischen Alpen und über die Bergsteigerdörfer von Kreuth nachRamsau, über Sachrang und Schleching.

Von Axel Klemmer

Die Gufferthütte ist das erste Quartier am Weg, Foto: Axel Klemmer

Von Bergsteigerdorf zu Bergsteigerdorf

Weitwandern, das ist heute ganz einfach: Man bucht bei einem einschlägigen Anbieter die Tour, findet sich zur gegebenen Zeit am gegebenen Ort ein und hofft auf gutes Wetter. Dagegen ist nichts zu sagen. Doch die Alpen sind groß, das Wegenetz ist dicht, und in der Praxis sollte es problemlos möglich sein, A und B selbst zu bestimmen und eigene Wege zu finden, die von hier nach dort führen. Zum Beispiel von Bergsteigerdorf zu Bergsteigerdorf, im speziellen Fall also genau dort, wo oberbayerische Bergfreunde ihre Heimspiele austragen: zwischen Wallberg und Watzmann. Genauer: zwischen Kreuth, Sachrang, Schleching und Ramsau. Bergsteigerdörfer sind in erster Linie Bergwanderdörfer. Doch was beim Bergsteigen das Wichtigste ist, die Selbstständigkeit, schließt Bergwanderer ja nicht aus.

Auf neuer Route

Wer heute auf dem E5 „zu Fuß über die Alpen“ wandert, steigt bei geführten Touren zwischen Oberstdorf und Meran ein paarmal ins Taxi, legt mehr als 80 Kilometer auf der Straße und 1450 Höhenmeter mit der Seilbahn zurück. Meine Alternative sieht vor, jeden Meter aus eigener Kraft zurückzulegen, das heißt zu Fuß. Übernachten möchte ich in Alpenvereinshütten und in den Bergsteigerdörfern. Lange brüte ich über Karten, plane zuerst mit neun Tagen, dann mit acht. Und meine Etappen sind lang, tägliche Gehzeit bis zu neun Stunden. Für Wanderreiseveranstalter sind das No-Gos, zumal manche (wenige!) Abschnitte auf Asphalt verlaufen oder in Gegenden, in denen selten Fotos gemacht werden. Vielleicht ist es einfacher zu verstehen, wenn man der Sache einen anderen Namen gibt. Wenn man sie nicht Weitwanderung nennt, sondern Fußreise. Wer auch dort weitergeht, wo mal keine ausgewiesenen Wanderwege zur Verfügung stehen, und wer zwischendurch nicht hinter Bus oder Taxifenstern ausblendet, was gewöhnlich aussieht und es auch ist, der wird, um das altmodische Wort zu benutzen, zum Landstreicher. „Herr der Ringe“-Fans verstehen das als Auszeichnung: Bevor Aragorn als König von Gondor zurückkehrt, zieht er unerkannt unter dem Namen „Streicher“ durchs Land … Fußreisende sind Könige, Herren ihrer Zeit. Den Alltag betrachten sie aus der Sicht des Flaneurs.

Über die Blauberge, Foto: Axel Klemmer

Ungewohnt spannend durch die Münchner Hausberge

Die Talquartiere habe ich reserviert, die Hüttenübernachtungen nicht. Möglich ist das, weil ich allein unterwegs bin, und weil ich die Hütten am Wochenende meide. Die meisten Etappen kenne ich schon von Tagestouren. Die erste Etappe von Wildbad Kreuth durch die Wolfsschlucht und über den Blaubergkamm zur Halserspitze durchmisst klassisches Münchner-Hausberge-Terrain, das aber nun, mit der Aussicht auf sieben weitere lange Tourentage, einen neuen, ungewohnt spannenden Charakter erhält. Auch der Abstieg über den eigenartigen Talkessel der Bayerischen Wildalm zur Gufferthütte ist Neuland für mich. Schon die zweite Etappe, hinüber zum Rotwandhaus, hat es dann in sich: Am frühen Morgen steige ich unter der Halserspitze zur Bayralm in der Langen Au hinab und jenseits durch wunderschönen Bergwald hinauf zur Rieselsbergalm unter dem Schinder. Wie weiter? Über den Schinder hinweg? Ich folge stattdessen dem teilweise kaum sichtbaren, schlecht markierten Steig um den Schinder herum zur Trausnitzalm.

Durch den Pfanngraben aufs Rotwandhaus

Nach dem Straßenintermezzo im Tal der Roten Valepp – für Autos immerhin gesperrt – geht es von der Waitzinger Alm durch den fantastischen Pfanngraben – nur 77 Posts auf Instagram! – zum Rotwandhaus, in dem ich schon so oft eingekehrt bin, aber jedenfalls erst einmal geschlafen habe. Die Tagesbilanz: Viel schöner und ursprünglicher als auf dieser Etappe erlebt man die Bayerischen Voralpen nicht; man ist aber auch acht bis neun Stunden unterwegs. Nur etwas kürzer ist das Programm am dritten Tag: über den Auerspitz hinweg und unter der Maroldschneid entlang ins Ursprungtal, dann über die Fellalm hinauf auf den Großen Traithen und immer dem Kamm entlang zum Brünnsteinhaus. Es ist der Tag der Höhenwege und endlosen Panoramen, ganz großes Kino. Punktabzüge gibt es für den Aufstieg durch den so genannten Trockenlettengraben, der tatsächlich nass und schlammig und im Bereich der Fellalm durch zahllose Kuhhufe zu einem nahezu ungangbaren Sumpf zerstampft ist.

Morgenstimmung am Rotwandhaus, Foto: Axel Klemmer
Bergsteigerdorf Sachrang, Foto: Axel Klemmer

Hinab nach Sachrang

Eine spezielle Herausforderung stellt die nächste Etappe dar. Hinab nach Niederaudorf, auf der Uferpromenade bis zur Autobahn und auf der Zollhausbrücke über den Inn haben Fußgänger noch viel Freude. Aber dann? Sie könnten der Schleife des Grenzverlaufs bei Erl folgen und über Kranzhorn, Hochries, Klausen sowie den Spitzstein nach Sachrang gehen: eine fantastische Höhenwanderung, die allerdings eine zusätzliche Übernachtung erfordern würde. Ich wähle die kürzere, direkte Variante über den Erlerberg und die Stoanaalm. Sie ist bezeichnet, aber zunächst schwer zu finden, dann verläuft sie längere Zeit auf der wenig befahrenen Straße bis unter das Spitzsteinhaus. Den Aufstieg zum Spitzstein schenke ich mir, er ist von Süden her nicht attraktiv. Stattdessen gleich hinab ins Bergsteigerdorf Sachrang, wo im Garten des Alten Schulhauses, Ort des bekannten Musikforums, ein Meisterschüler sitzt und Cello spielt. Ich nehme es persönlich und freue mich über das Ständchen zur Halbzeit meiner Tour.

Talwanderung auf dem Schmugglerweg

Seit die einst geplante Skischaukel Sachrang- Schleching verhindert und an ihrer Stelle im Jahr 1991 ein Naturschutzgebiet eingerichtet wurde, ist der Geigelstein so etwas wie ein Öko-Musterknabe. Er dient dem DAV als Vorbild für alpintouristische Besucherlenkung („Skibergsteigen umweltfreundlich“) und darüber hinaus als Zeuge einer gewandelten Freizeitmobilität.

Vor der Priener Hütte stehen schon seit langer Zeit Fahrräder. Über die Jahre sind immer mehr Fahrräder dazugekommen, und mittlerweile haben die meisten dieser Räder Akkus am Rahmen. Ich steige zu Fuß auf, stehe bald auf dem Gipfel – und in den Wolken. „Bergwandern panoramafeindlich“ sozusagen, aber der Natur geht es gut. Letzteres schätzt man auch auf der anderen Seite des Berges, im Bergsteigerdorf Schleching, wo kaum noch einer der verhinderten Skischaukel hinterherweint. Mit einer langen Talwanderung geht es weiter. Das klingt zunächst wenig aufregend, doch der so genannte Schmugglerweg durch die Entenlochklamm, über dem Tiroler Achen entlang nach Süden, ist toll. Dann blicke ich auf die geheimnisvoll umwölkte Märchenkulisse des Kaisergebirges und darunter auf die Alltagsszenerie von Kössen. Viele Menschen leben und arbeiten hier, nicht wenige pendeln zur Arbeit nach Bayern, alle zusammen erzeugen Betriebsamkeit und eine Menge Verkehr.

Am Gipfel des Fellhorns, Foto: Axel Klemmer

Gipfel-Gala auf dem Fellhorn

Wanderreiseveranstalter muten ihren Kunden so etwas nicht zu. Aber ich bin mein eigener Veranstalter und empfinde die Uferpromenade durch den weiten Talboden als spannend. Spazieren macht besonders Spaß, wenn alle anderen schwer zu tun haben.

Der anschließende Aufstieg zum Straubinger Haus ist lang, er führt unten über eine etwas monotone Forststraße, weiter oben als schmaler Pfad durch Bergwald und hinein in eine begeisternd schöne, offene Park- und Almlandschaft – und hinter dem Haus gleich weiter aufs Fellhorn zur exklusiven Gipfel-Gala, nur für mich allein. Weite Ausblicke, bei guter Sicht, bietet auch der „Premiumweg Gletscherblick“ hinüber zur Steinplatte. Seine Fortsetzung auf dem Klemmerichsteig Richtung Loferer Alm erschließt ein ebenso begeisterndes wie irritierendes Stück Wildnis zwischen zwei touristischen Industriegebieten.

Ein traumhafter Ausklang

Es handelt sich, vor allem bei Nässe, vielleicht um den heikelsten Abschnitt der ganzen Tour. Die glitschigen Holzbalken über den vielen Dolinenschlünden passiere ich zitternd auf allen vieren. Hallo Ramsau, ich komme! Beim Abstieg nach Lofer ist die Kulisse dramatisch. Ganz nah sind die grauen Riesen der Loferer Steinberge und der Reiteralm gerückt. Zur letzten Etappe starte ich vom Gasthaus Antonia in Au, und weil es am Vormittag unten regnet und oben schneit, wähle ich die einfachste Routenvariante: auf dem Alpasteig zur Traunsteiner Hütte, auf dem Wachterlsteig zur Schwarzbachwacht und weiter nach Ramsau. Es ist der traumhafte, lange Ausklang einer Reise, deren Exotik sich vielleicht erst bei der Heimfahrt im Zug erschließt. Wenn sich in die Parade der vertrauten Berge am Horizont neue Bilder und Erinnerungen mischen: Der späte Nachmittag auf dem Fellhorn und der Abend im Straubinger Haus, wo ich, der einzige Gast, hinter dem Kaisergebirge im Westen den Orkan aufziehen sah, der nachts um das Haus tobte und die Landschaft bis zum Morgen mit weißem Matsch bewarf … Der Zauber der Alpa-Alm und die Stille auf dem Plateau der Reiteralm, über dem die Schneewolken abzogen … Die eigentlich unnötige Promenade auf dem König-Max-Weg über Ramsau, jetzt im strahlenden Sonnenschein, und die seltsame Scheu vor den letzten Schritten, vorbei an der Kunterwegkirche, vorbei am Bergsteigercafé zur Pfarrkirche St. Sebastian, wo nur ich das Banner mit der Aufschrift „Ziel“ sah …

Bergwandern selbstbestimmt und frei

Es gibt übrigens noch zwei Dutzend andere Bergsteigerdörfer. Es gibt Wege zwischen ihnen. Man kann die Kulissen am Horizont selbst verschieben. Man kann erleben, wie Berge vorne größer werden und hinten kleiner, allein indem man die Füße bewegt, selbstbestimmt und frei, so wie Bergsteigen einmal war und eigentlich noch immer ist. Oder wie es sein kann, wenn man es möchte.

Eine Woche nach dem Aufbruch unterm Wallberg gratuliert der Watzmann zum Ende der Reise, Foto: Axel Klemmer

Etappen

  1. Kreuth (772 m) – Wolfsschlucht – Blauberggrat – Halserspitze (1862 m) - Gufferthütte (1465 m), 6 Std., 1100 Hm auf, 460 Hm ab

  2. Gufferthütte (1465 m) – Lange Au/Bayralm – Rieselsbergalm – Valepp – Pfanngraben – Rotwandhaus, 9 ½ Std., 1380 Hm auf, 1120 Hm ab

  3. Rotwandhaus (1737 m) – Ursprungtal/Beim schweren Gatter (ca. 720 m) – Großer Traithen (1852 m) – Brünnsteinhaus (1360 m), 7 ½ Std., 1050 Hm auf, 1440 Hm ab

  4. Tag: Brünnsteinhaus (1360 m) – Buchau – Wall – Niederaudorf – Zollhausbrücke – Erlerberg – Stoanaalm – Mitterleiten – Sachrang (738 m), 7 ½ Std., 690 Hm auf, 1280 Hm ab

  5. Tag: Sachrang (738 m) – Jägersteig – Schreckalm (– Priener Hütte, 1411 m) – Geigelstein (1808 m) – Roßalm (1640 m) – Haidenholzalm – Schleching (569 m), 7 Std., 1060 Hm auf, 1220 Hm ab

  6. Tag: Schleching (569 m) – Schmugglerweg – Kössen – Kaltenbach – Weißensteinalm – Straubinger Haus (1558 m), 8 Std., 1160 Hm auf, 180 Hm ab

  7. Tag: Straubinger Haus (1558 m) – Fellhorn (1764 m) – Durchkaseralm – Steinplatte – Klemmerichsteig – Loferer Alm – Gföllsteig – Lofer – Triftsteig – Gasthaus Antonia (616 m), 8 ½ Std., 520 Hm auf, 1460 Hm ab

  8. Tag: Gasthaus Antonia (616 m) – Mayrbergklamm – Alpasteig – Traunsteiner Hütte (1560 m) – Wachterlsteig – Schwarzbachwacht – Ramsau (670 Hm), 9 ½ Std., 1180 Hm auf, 1110 Hm ab

Alternative 7. bis 9. Tag:

  • 7. Tag: Straubinger Haus (1558 m) – Fellhorn (1764 m) – Eggenalmkogel – Durchkaseralm – Pflegereck Diensthütte – Traunsteiner Skihütte/Winklmoosalm (1150 m), 5 Std., 260 Hm auf, 640 Hm ab

  • 8. Tag: Traunsteiner Skihütte/Winklmoosalm (1150 m) – Kreuzbrücke – Heutal – Unken (563 m) – Kniepass – Alpasteig – Traunsteiner Hütte (1560 m), 9 Std., 1200 Hm auf, 800 Hm ab

  • 9. Tag: Traunsteiner Hütte (1560 m) – Böslsteig – Halsalm – Ramsau (670 m), 6-6 ½ Std., 600 Hm auf, 1510 Hm ab

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