Eng ist es hier nur unten im Tal, das sich zwischen steilen Berghängen nördlich des Pustertals erstreckt. Die stattlichen Bauernhöfe liegen verstreut, helle Holzplanken ergänzen dunkle, wettergegerbte Latten. Nichts wird kaschiert – aber auch nichts dem Verfall preisgegeben. Keine großen Hotels buhlen um Nächtigungen, kein Lift erleichtert den Weg nach oben. Man lässt sich Raum.
„Vielleicht ist es eine gewisse Sturheit, sich den Verlockungen der Zeit zu widersetzen“, überlegt Maria, unsere Gastgeberin im Bergsteigerdorf Innervillgraten. „Vorsicht ist vielleicht das bessere Wort als Weitsicht.“ Man gehe unbeirrt seinen Weg, bevor am Ende doch wieder alle zusammenstehen. Der gemeinsame Nenner: „Lieber unabhängig bleiben, als sich anzubiedern!“ So dürfen im Tal, das damit wirbt, dass es nichts gibt, Berge einfach Berge sein. Ohne große Inszenierung. „Ruhig bleiben“, steht im Leitbild des Villgratentals – und das fühlt sich richtig gut an.
"Herz-Ass" in fünf Etappen
Zugegeben, der Name „Herz-Ass“ hat uns, na ja, verwundert. Als wir den Wegewart Gerhard Haider darauf ansprechen, grinst er. Wir sind mit ihm auf dem „Königsweg“ hinauf zur Hochgrabe (2955 m) unterwegs, dem höchsten Gipfel der Villgrater Berge. „Nein, das ist kein Touri-Gag“, betont er, „schaut es euch an.“ Und tatsächlich, die 76 Kilometer lange Route über die Bergketten malt ein wunderschönes Herz in die Landkarte. Und da im Tal gern zu den Spielkarten gegriffen wird, liegt „Herz-Ass“ quasi auf der Hand. Die fünf Etappen lassen sich nach Belieben auswählen, abends geht es am besten mit dem Wanderbus zurück zur Unterkunft im Tal. Reizvolle Abstecher bringen weitere Karten ins Spiel: „Ober“, „Unter“ und eben den Königsweg. „Entdeckt“ wurde die attraktive Runde schon 1988 – im Winter, als Skitour. Dann geriet sie fast in Vergessenheit, bis die Idee 2017 mit Erfolg überarbeitet wurde.
Bergsteigerdof Villgratental
Bergnatur
Im Villgratental mit seinen rund zweitausend Bewohner*innen gibt es keine Skischaukel und kein Quartier mit mehr als fünfzig Betten. Das Hochtal mit seinen charakteristischen Almen zählt zu den ursprünglichsten Natur- und Kulturlandschaften in den Alpen und entspricht damit in besonderer Weise den Zielen der Alpenkonvention: eine nachhaltige Entwicklung im gesamten Alpenraum.
Im Winter 2015/16 wurde im Villgratental zusammen mit dem Land Tirol ein Skitourenlenkungskonzept eingeführt, das Tal diente als Pilotregion für das Projekt „Bergwelt Tirol – miteinander erleben“. Ziel: Die Naturräume für alle Interessensgruppen offenhalten und gleichzeitig die Tier- und Pflanzenwelt schützen. Die ausgewiesenen Schutz- und Schongebiete und entsprechende Routenführungen sind ausgeschildert.
Bergkultur
Das Villgratental steht für eine intakte Kulturlandschaft, die vielen ursprünglichen Almen prägen das Tal, die charakteristischen Almdörfer entstanden für die Sennerei im Sommer. Viele bäuerliche Betriebe vermarkten ihre Hofprodukte im Nebenerwerb.
Villgrater Naturprodukte: Das Ladengeschäft bietet neben regionalen Wohlfühlprodukten und Kosmetik aus Zirbe, Schafwolle und Schafmilch auch kulinarische Spezialitäten wie Ziegenkäse, Lammschinken und Lammwürste, Honig, Marmeladen und Schnäpse.
Almdorf Oberstaller Alm: Denkmalgeschütztes Ensemble mit 18 ursprünglichen Holzhütten und einer kleinen Kapelle. Dahinter zieht sich die Almwiesenlandschaft hinauf ins Hochgebirge.
Freilichtmuseum Alpines Leben: Restauriertes Gebäudeensemble am Eingang zum Arntal in Innervillgraten – die Wegelate Säge, der Lodenstampf, die Lüfter Mühle, der Einhof „Neuhauser“ und die Almhütte „Riepenkammer“.
Bergsport
Das Villgratental ist im Sommer wie im Winter ein idealer Ausgangspunkt für vielseitige Bergunternehmungen – von talnahen Kulturwanderwegen und familienfreundlichen Wanderungen bis zu hochalpinen Touren für Erfahrene. Von den fünfzig Gipfeln, die Außer- und Innervillgraten umgeben, kommen viele knapp an die Dreitausendermarke heran, u. a. Hochgrabe (2955 m), Degenhorn (2946 m), Weiße Spitze (2963 m). Der Bonner Höhenweg führt vom Thurntaler, dem Hausberg Sillians, oberhalb von Außervillgraten auf alten Militärstraßen an früheren Bunkern vorbei über Kalkstein bis nach St. Jakob im Defereggental. Der „BergRadl-Weg Innervillgraten“ ist eine einfache MTB-Tour, genau wie die Auffahrt zur Volkzeiner Hütte.
Im Winter ist das Villgratental für seine hohe Dichte an Skitouren in allen Schwierigkeitsgraden bekannt. Die Herz-Ass-Runde ist auch im Winter eine beliebte Mehrtagesunternehmung. Neben den Skitouren gibt es weitere lohnende Aktivitäten im Winter: schneesichere Loipen in Innervillgraten und Außervillgraten zum Langlaufen, drei Naturrodelbahnen und eine Reihe von ausgewiesenen Winterwanderwegen.
Seit 2019 darf sich „Herz-Ass Villgratental“ mit dem Gütesiegel der besten Wanderwege Österreichs schmücken. Großen Anteil an diesem Erfolg hat Gerhard, der nach wie vor federführend für sämtliche Außenarbeiten zuständig ist. Auch heute hat er den Akkuschrauber im Rucksack, der schon bald zum Einsatz kommt. Das lange Einattal liegt hinter uns, vor uns glitzert der erste See in herber Bergwelt. Beim „Herz-Ass-Bankerl“ ist an der Stempelbox eine Schraube locker. „Wir haben es auch mal mit GPS probiert“, erzählt der Wegewart, während er arbeitet. „Hat aber nicht funktioniert. Die Leute wollen die echten Stempel!“ Die sie leider manchmal auch einstecken, statt nur zu verwenden …
Weite und Einsamkeit
Wir steigen durch raues, aber „gutmütiges“ Hochgebirge, das prädestiniert ist für ausgedehnte Bergwanderungen. Nur wenige Meter fehlen der Hochgrabe zum Dreitausender und unterwegs gibt es – nichts. Außer einer großartigen Natur und dem, was im Rucksack steckt. Es ist wie geschaffen, um ruhig zu bleiben. Um Weite zu genießen und Einsamkeit. Wir spiegeln uns in stillen Seen, längst haben Moose, Flechten und Felsbrocken das nahrhafte Almgras abgelöst. Über einfaches Blockwerk steigen wir den Grat entlang zum Gipfel. Grashänge, Geröllflanken und Kämme liegen unter uns, wir lassen den Blick ungehindert schweifen, bis er dann doch hängen bleibt: zuerst an den weit unten glänzenden Seen, sieben sind es insgesamt. Dann an den schönsten Gipfeln der Hohen Tauern mit Großvenediger und Großglockner. Geht der Blick nach Süden, bilden die unzähligen filigranen Felszacken der Dolomiten den atemberaubenden Kontrast. Wir kauen genüsslich harte Wurstscheiben, Käsebrocken und dunkles, gut gewürztes Villgrater Brot, während Gerhard uns die Berge erklärt und von seinen Jobs erzählt: Er ist auch noch Landwirt, Feuerwehrkommandant, Loipenmacher und Gästeführer im Freilichtmuseum bei der Unterstalleralm.
Gemütliche Hütteneinkehr
Neben uns erstrecken sich die schimmernden Wellen der Wilden Platte. Am Rand dieser ausgedehnten Geröllwüste führt unser Weg zur Volkzeiner Hütte bergab. Bald wagt sich ein Rinnsal hervor, gewinnt beim Goldtrögel – einer golden schimmernden Quelle – an Masse. Es sucht sich seinen eigenen Weg, bevor sich am Ende des flachen Hochtals alle Wasserläufe vereinigen und gemeinsam hinunter ins Winkeltal stürzen. Gischt schäumt über die milchig gefärbte Felswand, dann kämpft sich das Wasser durch eine Schlucht, um später gemütlich die tiefgrünen Wiesen bei der Volkzeiner Hütte zu durchfließen.
Dort warten im kühlen Brunnen bereits die Getränke auf Durstige, ein gefleckter Hase schnuppert neugierig in unsere Richtung. Seit 38 Jahren bewirtschaftet Toni die Hütte, stressen lässt er sich schon lange nicht mehr. Obwohl er in dieser Saison weitgehend auf sich selbst gestellt ist. Ohne jede Hektik nimmt er die Bestellungen auf, postwendend serviert er uns Polenta mit Wildgulasch. Am Tisch neben uns sitzen einige, die mit dem Rad durchs Winkeltal heraufgefahren sind, eine der wenigen Möglichkeiten hier für Bike-Touren. Abends setzt sich der Bauer von nebenan dazu, die Gäste von den Ferienhütten weiter unten schauen auf ein Glaserl vorbei und bald liegen die Karten auf dem Tisch.
Milchige Schlieren dämpfen die Sonne. „Herz-Ass“ ließ uns gestern Abend zwar im Stich, aber heute folgen wir gerne wieder dem Zeichen, das uns hinüber zur Unterstalleralm führt. Schafe trotten aus der Geröllwüste der Wilden Platte heran und lassen sich zutraulich kraulen, bevor sich unsere Wege wieder trennen. An der Arntaler Lenk liegt das schroffe Hochgebirge hinter uns. Weit erstrecken sich sanft geneigte Almwiesen hinunter ins Arntal, bis zur Oberstaller Alm, wo sich einige Almhütten um ein Kirchlein drängen. In diesen Miniversionen der Höfe unten im Tal verbrachten die Bauernfamilien früher den Sommer, heute genießen vor allem Feriengäste Ruhe und Abgeschiedenheit. Nicht einmal ein Gasthaus gebe es, klagt ein Wanderer. Zu viel nichts ist eben auch wieder nichts. „Ruhig bleiben“, raten wir ihm. Denn bald ist die Unterstalleralm erreicht und dort gibt es alles, was das Herz begehrt.
Am Grenzgrat zu Italien
Die ersten schrägen Sonnenstrahlen fallen auf die Almwiesen, auch heute liegt die Enge des Tals auf dem Herz-Ass-Weg schnell hinter uns. Der Blick weitet sich. Steil steigen wir von der Unterstalleralm zum Schwarzsee auf, den wir fast übersehen: Kein Lüftchen bewegt die Oberfläche, der perfekte Spiegel für die umliegenden Bergflanken. Knapp oberhalb des Sees schmiegen sich Biwakhütten in eine Mulde. Herz-Ass führt uns nun Richtung Süden bis zum Heimjöchl und zur Gailspitze am Grenzgrat zu Italien. Die Alpen breiten sich hier in ihrer ganzen, atemberaubenden Vielfalt vor uns aus: Mit Gletschern, Felszinnen, Almwiesen und tiefgrünen Tälern. Am nahen Kalksteinjöchl glitzern zwei Seen. Vorbei an malerischen Almhütten gelangen wir nach Kalkstein, wo auch die letzte Etappe beginnen wird.
Wir queren schier endlose Hänge, die Perspektive verschiebt sich langsam, gibt neue Gipfel frei, lässt andere verschwinden
In herbstlicher Kühle wandern wir durch das malerische Alfental zum Pfanntörl, wo die Dolomiten schon zum Greifen nahe parat stehen. Alte Kriegspfade mit Stellungen führen entlang der einst bitter umkämpften Grenze zwischen Süd- und Osttirol zum Toblacher Pfannhorn. Wir sehen die Bonner Hütte an der sonnigen Südseite, und recht weit weg erahnen wir das Kreuz auf dem Gipfel des Marchkinkele. Wir queren schier endlose Hänge, die Perspektive verschiebt sich langsam, gibt neue Gipfel frei, lässt andere verschwinden. Bald treffen wir ein mit Pickel und Schaufel ausgestattetes Wegebauteam aus dem Gsiesertal und vom DAV: Zwölf Mal musste der Helikopter fliegen, bis er alle Holzschwellen oben hatte, die dem Steig hinüber zum Marchkinkele wieder Stabilität und Sicherheit geben, berichtet das Team. Wir haben in der nächsten Stunde noch genügend Gelegenheit, ihre Arbeit zu bewundern – und schätzen zu lernen.
Am Marchkinkele sind wir erstmals wieder von vielen Menschen umgeben. Gleich drei Gruppen packen gerade ihre Rucksäcke, um hinunterzuwandern nach Innichen, Toblach oder zurück zur Thurntaler Rast, wo Straße und Bergbahn von Sillian heraufkommen. Wir steigen die letzten Meter hinauf zum Gipfel mit dem Europa-Kreuz. Noch einmal lassen wir das unglaubliche Panorama auf uns wirken, bevor wir schweren Herzens dorthin zurückkehren müssen, wo für Weite kaum Raum ist und es oft schwerfällt, ruhig zu bleiben.