In ihren Augen funkelt der Ehrgeiz, als sie zur Spitze des riesigen Felsblocks aufblickt. Wie zwei alte Bekannte stehen sie sich gegenüber, etwas angespannt, denn sie sind noch nicht fertig miteinander. Der Name des Boulders ist Égoïste (7a), eine hohe, leicht überhängende Wand mit einem Riss, einer anspruchsvollen Querung und dem Ausstieg hoch oben über die Kante. Es sei machbar, aber besser, einen Spotter zu haben, heißt es im Topo (der graphischen Aufbereitung der Kletterroute). Zofia Reych wischt ihre Kletterschuhe am Crashpad sauber, bevor sie ihre Fußspitzen präzise auf einer winzigen Leiste platziert und erneut ansetzt. Auf den kräftigen ersten Zug folgt eine scharfkantige Leiste, Zofias Finger kleben am Felsen, ihr Gesicht verzieht sich. Und nach wenigen Sekunden, in denen die Zeit für einen Moment still zu stehen scheint, landet sie wieder auf den Crashpads. Égoïste hat sie abgeworfen.
Die Abendsonne taucht den Wald von Fontainebleau in ein sanftes goldenes Licht. Zwischen den Lärchen und Sandsteinen staut sich die Wärme, lädt zum Barfußlaufen auf dem weichen, sandigen Untergrund ein. Immer wieder hören wir ein „Allez!“ aus der näheren Umgebung, meist gefolgt von dumpfem Applaus und Freudenschreien. Es ist eine besondere Atmosphäre in den Wäldern des französischen Boulder-Mekkas Fontainebleau. So besonders, dass sie eine junge Frau aus Polen im Jahr 2018 dazu veranlasst hat, ihre Heimat zu verlassen und die Welt der Sandsteine zu ihrem neuen Lebensmittelpunkt zu machen:
„Fontainebleau ist für mich der Ort, an dem ich meinen Traum vom Kletter-Lifestyle verwirklichen kann und jeden Tag zum Bouldern in die Wälder gehe“, sagt Zofia Reych. „Du kannst dein Leben hier verbringen und kennst trotzdem nicht alle Felsen im Wald.“
Zofia sitzt im Schneidersitz, etwas erhöht auf einem Crashpad. Ihr gegenüber: Unser Drehteam von Bergauf-Bergab. Das Interview mit ihr war einer der wenigen Momente, in denen sie mal nicht in Bewegung war. Die Leidenschaft für das Bouldern, die Felsen und die Natur brennt in ihr wie ein Feuer, das jeden Tag aufs Neue entflammt. Und damit hat Zofia uns alle angesteckt.
Elefantenhaut und sensible Strukturen
Was Fontainebleau als Bouldergebiet so einzigartig macht, ist nicht nur die Vielzahl und Anordnung der Felsformationen, sondern auch der Sandstein selbst. Zofia führt uns über einen schmalen Pfad zwischen zwei dicken, runden Felsen hindurch. Das Crashpad auf dem Rücken erinnert uns regelmäßig daran, dass ein seitliches Fortbewegen in engen Passagen zielführender ist. Über eine steile Stufe erreichen wir einen natürlich abgetrennten Bereich – ein großer Sandkasten inmitten der sanften Riesen. Wie die faltige Haut von Elefanten sieht sie aus, die grau-braune Oberfläche der Sandsteine, die den Händen und Füßen erstaunlich guten Halt bietet. Und mit jeder Berührung kommen wir in Kontakt mit einer Welt, die vor etwa 35 Millionen Jahren entstanden ist, als das Gebiet noch mit Wasser bedeckt war. Die Felsen, geformt aus der dicken Sedimentschicht, erinnern an diese Zeit. Wie ein kostbares Erbe der Natur – das heute Menschen aus der ganzen Welt zum Bouldern dient.
Trotz, oder gerade wegen ihrer langen Vergangenheit sind die Spuren der Zeit an den Felsen nicht vorübergezogen. So mächtig die Formationen teils wirken, erkennen wir beim genauen Hinsehen die Narben, die der Bouldersport im Laufe der Jahrzehnte am Sandstein hinterlassen hat. Weggebrochene Ecken, teils abgeschliffene Stellen. Anzeichen, dass die Balance zwischen dem Schutz dieser Natur und dem persönlichen Vergnügen der Boulderszene aus dem Gleichgewicht geraten ist. Für Zofia ist es zu einer Herzensangelegenheit geworden, im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf einen nachhaltigen Umgang mit den Felsen hinzuweisen. Schließlich haben wir es – im wahrsten Sinne – in der Hand, wie lange uns die Felsen in ihrer Form erhalten bleiben. „Es ist wichtig, nicht an nassem Sandstein zu bouldern, denn nach dem Regen ist der Stein sehr zerbrechlich und empfindlich“, sagt Zofia. Und auch bei trockenen Bedingungen können wir den Felsen einen Gefallen tun:
„Wir sollten immer mit sauberen Schuhen bouldern, sodass wir die Struktur nicht zerstören und natürlich das Chalk nach dem Bouldern vorsichtig wieder abwischen.“
Als nachhaltigere Alternative zum Chalk empfehlen die Bleausards (Bezeichnung für die einheimischen Boulder*innen in Fontainebleau) das „Pof“, ein Kunstharz, das die Handflächen gleichermaßen trocknet, aber weniger in die grobporige Struktur der Sandsteine eindringt. Und um die Kletterschuhe sauber zu halten, zaubert Zofia vor jedem Start ein altes Tuch aus dem Rucksack, wischt kurz den Sand und heruntergefallene Nadeln von der Schuhsohle. Mehr braucht es nicht.
Etwas mehr Kompromissbereitschaft ist bei den eigenverantwortlichen Nutzungszeiten des Waldes gefragt: Denn anders als Boulderhallen stehen uns die Felsen von Fontainebleau theoretisch rund um die Uhr zur Verfügung. Vor allem im Sommer, wenn die langen Tage zum Verweilen auf den warmen Felsen einladen. Rücksichtnahme ist das Stichwort für Zofia:
„Nachts Bouldern sollten wir unbedingt vermeiden. Die Tiere und die Natur brauchen eine Auszeit von uns Menschen, um sich zu erholen und zur Ruhe zu kommen.“
Nächtliche Bouldersessions mit hellen Lichtquellen können dem sensiblen Ökosystem nachhaltig schaden. Und wer schadet schon gerne dem, was man am meisten liebt?
Fontainebleau – Ein Lifestyle für sich
Mit dem wachsenden Interesse am Bouldern in der Halle zieht es auch immer mehr Menschen in die Wälder von Fontainebleau. Ein natürlicher Schritt, ähnlich wie beim Klettern, wenn es von der Halle an den Felsen geht. Dass die Packliste deutlich kürzer ausfällt, liegt auf der Hand: Crashpads, Topos, ein altes Tuch und – sehr ratsam – eine zuverlässige Person zum Spotten im Fall ungeplanter Stürze. Der leichte Zugang zum Boulder-Mekka kann jedoch schnell dazu führen, diese Welt aus den Augen des „konsumierenden Boulderers“ wahrzunehmen, auf der Jagd nach dem nächsten Top inmitten unzähliger Möglichkeiten, die sich dicht an dicht in die Waldlandschaft einfügen. Für uns, als Gäste in dieser einzigarten Welt, ist es umso angenehmer, Zofia als "Local" an unserer Seite zu haben.
„Fontainebleau ist ein Sport und ein Lifestyle für sich“, sagt sie. „Es ist die Mischung aus dem entspannten Boulder-Vibe mit der suburbanen Atmosphäre vor den Toren von Paris.“ Und auch die Einheimischen sind es, die Fontainebleau seinen charmanten Charakter verleihen. Zofia schätzt die enge, lokale Gemeinschaft, die sich hier über die Jahre entwickelt hat: eine Gemeinschaft aus den Locals und den Menschen, die nach Fontainebleau gezogen sind, um hier dauerhaft zu leben und sich für den Erhalt des Gebiets einzusetzen.
Bouldern schon im 19. Jahrhundert
Ihren Ursprung fand die Begeisterung für Fontainebleau schon vor langer Zeit, im 19. Jahrhundert: Kletterer aus Paris nutzten das Gebiet in den kalten Wintermonaten, um für die großen Wände der Alpen zu trainieren, die sie im Sommer aufsuchten. Die Zweckgemeinschaft von Fels und Alpinist*in hat sich bis heute zu einer wahren Passion entwickelt, zu einem eigenständigen Sport, zu einer Lebensphilosophie. Und mit der Fontainebleau-Skala (kurz Fb) findet sich das französische Bewertungssystem mittlerweile in vielen Hallen und Felswänden in der Boulder- und Kletterwelt wieder. „Der Unterschied zwischen dem Bouldern an Plastik und am Fels ist allerdings groß“, sagt Zofia. „Selbst, wenn du in der Halle super stark boulderst, können dich die Boulder hier draußen ganz anders herausfordern.“ Für Zofia und ihre Freund*innen geht es beim Bouldern an den Felsen daher vielmehr um die Zeit in der Natur und um Rücksichtnahme auf die Bedingungen. Die Performance steht hinten an.
„Um das Bouldern hier draußen wirklich zu genießen, musst du die Tatsache lieben, dass du dich in der Natur aufhältst und dich ihren Bedingungen unterordnest. Es kann sein, dass es regnet, es kann zu warm sein oder zu kalt, sodass du nicht Bouldern kannst. Das ist einfach Teil der Erfahrung und gehört hier dazu.“
Wo das Bouldern wohnt
Neben dem komplexen Wegenetz im Wald von Fontainebleau besteht für bouldernde Gäste eine Herausforderung darin, die passende Unterkunft zu finden. Das Zelt und der eigene Bus scheinen zwar naheliegend, die Frage der Platzierung ist hier aber die entscheidende. Denn die Anzahl offizieller Camping- und Biwakplätze ist begrenzt, auf vielen Parkplätzen im Bouldergebiet ist das Übernachten nicht erlaubt – mehr Müll als Mensch war zeitweilig im Wald unterwegs, abgesehen von Licht und Lautstärke bei Nacht im Naturschutzgebiet. Hier gilt es, sich vor Anreise über die Möglichkeiten vor Ort zu informieren.
In unserem Fall – ein Drehteam vollgepackt mit Kameras und Crashpads – fiel die Entscheidung auf den Ort, an dem das Bouldern zuhause ist: Das Fontaineblhostel. Eine einfache, liebevoll eingerichtete Herberge im beschaulichen Örtchen La Chapelle-la-Reine. Im grünen Garten neben dem Hinterhof sind einige Zelte aufgebaut. Besonders am frühen Morgen ist hier einiges los, wenn die Crashpads auf die Autos verladen werden und Bouldergruppen in die Wälder von Fontainebleau aufbrechen, nur wenige Fahrtminuten entfernt.
Hinter dem Fontaineblhostel, das uns das Gefühl einer Wohngemeinschaft für Boulder-Fans vermittelt, steht Patrick Sobottka. Als Sohn deutscher Eltern ist er in Frankreich aufgewachsen und spricht beide Sprachen fließend. Er ist selbst begeisterter Boulderer, hütet unzählige Topos in den alten Schränken, die im Aufenthaltsraum des Hostels stehen, direkt neben den aufgestapelten Crashpads, die er verleiht.
Für Patrick lebt das Bouldern vor allem von der Gemeinschaft, von einer guten Zeit, die er seinen Gästen bieten will: „Ich versuche, die Leute zusammenzubringen, dass sie sich treffen können, miteinander reden, gemeinsam zum Bouldern gehen“, erzählt er, als er uns auf dem Grundstück herumführt. Ein Moment sei ihm besonders im Kopf geblieben: das Feedback einer amerikanischen Boulderin, die in seinem Hostel zu Gast war. Patrick strahlt über das ganze Gesicht, als er davon erzählt: „Sie kam alleine aus Amerika zum Bouldern hier nach Fontainebleau und hat im Hostel Freunde fürs Leben gefunden.“
Weitere Infos
Filmtipp
In den Wäldern von Fontainebleau bei Bergauf-Bergab in der ARD-Mediathek: https://1.ard.de/fontainebleau-bouldern
Regeln in Fontainebleau
https://fontainebleaurules.com/
Unterkunfts-Tipp: Hostel und Camping
https://www.fontaineblhostel.com/