Gravelbiker fährt auf Trail durch Berglandschaft und Kühe, links ist ein See, an dem ein roter Zug vorbeifährt
Zu Beginn der Tour zieht sich der Trail oberhalb des Lago Bianco am Berninapass durch Wiesen und Felsen. Foto: Thorsten Brönner
Vom Unterengadin zum Genfersee

Hochgefühle auf dem Gravelbike

Als eine der spektakulärsten Routen legt die „Alpine Bike 1“ ihre Schleifen in die Falten der Berge. Wer sie unter die Gravelreifen nimmt, wird gleichermaßen gefordert wie belohnt. Gefordert, weil es ständig rauf und runter geht, belohnt mit den Postkartenlandschaften der Schweiz.

Ein eisiger Wind fährt von den Ortler-Alpen herab, die Finger fangen vor Kälte zu bitzeln an, die Route jedoch läuft gerade zur Höchstform auf. Mitte Juli. Val Mora, Graubünden in 2200 Metern Höhe. Unten strudelt der Bach Aua da Val Mora in seinem felsigen Bett, oben auf dem Trail braucht es Gleichgewichtssinn. „Bloß nicht abrutschen!“ Vor mir balanciert Jorge, ein gebürtig aus Kolumbien stammender Gravelbiker, über den Trail. Das tief eingeschnittene Tal passt sich wie die Nase eines Puzzleteils in den Osten der Schweiz ein. Zum Wandern ist die Passage den meisten zu lang, für Trekkingräder ist der Weg zu verblockt, für Motorräder gesperrt. Bereits vor 16 Jahren bin ich hier mit dem Mountainbike hochgeschnauft. Kein anderes Alpental hat sich seitdem so sehr ins Gedächtnis gebrannt wie dieses.

Die Wildnis Kanadas in den Schweizer Alpen

Zeit für eine neue Fahrt: Einmal quer durch die Schweizer Alpen. Wir orientieren uns an der „Alpine Bike 1“. Die Route führt vom Unterengadin bis an den Genfersee und ist gespickt mit langen Anstiegen. Das Val Mora gilt als eines der schönsten Täler der Schweiz. Oft vergleicht man die Gegend zwischen dem Schweizer Nationalpark und dem Nationalpark Stilfserjoch mit der Wildnis Kanadas. Je näher wir Italien kommen, desto mehr vom Weg ist abgerutscht. Nach einer kurzen Tragepassage rollen wir hinab zum türkisfarbenen Lago di San Giacomo. Dort weitet sich das Tal. Die breite Schotterpiste hangelt sich oberhalb des Sees durch den Wald. Immer wieder öffnet sich ein Blick auf die Berge und das Kanadafeeling ist perfekt. Kurz vor der Hütte Ristoro Monte Scale kommen uns vermehrt Menschen entgegen, wir legen eine Pause ein. Auf der Speisekarte stehen Pizzoccheri. Die herzhafte Nudelspezialität aus Buchweizenmehl stammt aus dem Veltlin. Die Wirtin serviert die Nudeln mit Kartoffeln, Gemüse und Käse – ideale Stärkung für die nächsten Stunden im Fahrradsattel. Das Radaufkommen vor der Terrasse steigt. Viele steuern den Nationalpark Stilfserjoch an. Uns zieht es in die Gegenrichtung: Erst führt die Route entlang der „Trans-Altarezia Bike“, dann durchs italienische Livigno in Richtung Graubünden dem Tagesziel Ospizio Bernina entgegen. Die 96 Kilometer lange Etappe ist gespickt mit fünf Alpenpässen, der Höchste, die Forcola di Livigno, bringt es auf 2315 Meter.

Parallel zur Passstraße der Forcola di Livigno warten steile Serpentinen. Foto: Thorsten Brönner

In der Schweiz fällt die Routenplanung leicht. Alles ist einheitlich markiert. Man sucht sich auf der Webseite von SchweizMobil die Wunschstrecken heraus. Rennrad, Mountainbike, Trekkingrad – für jeden Geschmack gibt es die passende Tour, und zusätzlich Karten, Tourensteckbriefe, Kilometerangaben, Fotos und Höhenprofile. Für die Rheinschlucht wechseln wir auf die „Rhein-Route 2“ und anschließend auf die „Graubünden Bike 90“. Wie mit einem groben Brotmesser bearbeitet, schneidet der Vorderrhein westlich von Chur in die Glarner Alpen und die Adula-Alpen. Die Rheinschlucht ist 13 Kilometer lang und bis zu 400 Meter breit. Vor rund 9500 Jahren donnerte der Flimser Bergsturz zu Tal und begrub den Fluss. Bis in unsere Tage nagt das Wasser am Berg und fräst sich tiefer ins Gestein. Um 9:30 Uhr stellen wir die Bikes am Aussichtspunkt „Il Spir“ (der Mauersegler) ab und steigen die wackelige Stahlkonstruktion hinauf. Sogleich bin ich hellwach. Hier geht es echt weit runter! Auch in anderen Gesichtern liest man die Frage „Hält die Konstruktion?“.

Gletscherblau fräst sich der Rhein durch die enge Schlucht. Foto: Thorsten Brönner

Verborgene Bike- und Velowege im Gebirge

Das Modelleisenbahn-Panorama zerstreut die Gedanken. Unten fährt einer der roten Züge auf einer Stahlbrücke über den türkisfarbenen Fluss. Darüber die Felsen wie ein Stück gebrochener Käse. In diese Kulisse geht es als Nächstes. Wir sausen auf dem geschotterten Doppelspurweg der „Rheinschluchttour 260“ hinab zum Vorderrhein. Unten trennen sich unsere Wege. Jorge fährt mit dem Zug zurück in die Westschweiz, ich ziehe tiefer ins Gebirge zu den verborgenen Bike- und Velowegen. Ein besonders uriger beginnt oberhalb des Dörfchens Lumbrein. Zurück auf der „Alpine Bike“ geht es frühmorgens vorbei an Rehen, Murmeltieren und üppig blühenden Blumenwiesen. Die Passage über die Alp Sezner ist nur mit dem Zweirad oder zu Fuß machbar und dementsprechend ruhig.

Oberhalb des Dorfes Lumbrein zieht ein Fahrweg der Alp Sezner entgegen. Foto: Thorsten Brönner

Zur Reisemitte schlägt das Wetter um. Ich ziehe die Talschaft der Surselva hinauf. Der rätoromanische Name bedeutet übersetzt „oberhalb des Waldes“. Auf dem Oberalppass fällt Sprühregen. An seinem Westfuß beginnt in Andermatt die sechste Etappe. Da sich der Regen erst um neun Uhr legt, bin ich spät dran für die Königsetappe. Wolkenfetzen hängen tief hinab in die Schöllenenschlucht, die sich markant in die Urner Alpen kerbt, und verleihen der Szene einen eigenwilligen Charakter. In dem engen Felsriegel spannt sich die Teufelsbrücke mit einem Bogen über die tobende Reuss. Hier war die Schlüsselstelle für die Passage über den Gotthard.

Die Radtour bietet jeden Tag tolle Bergbilder, wie auch hier auf dem Weg durch die spektakuläre Schöllenenschlucht. Foto: Thorsten Brönner

Eine Sage erzählt vom schwierigen Bau. In seiner Verzweiflung rief der zuständige Amtsmann der Region: „Da soll doch der Teufel eine Brücke bauen!“ Dieser erschien sogleich und sagte: „Ich will euch eine Brücke bauen. Aber der Erste, der darüber gehen wird, soll mir gehören.“ Die Urner willigten in den Handel ein. Nach drei Tagen wölbte sich tatsächlich eine Brücke über die Reuss. Auf der anderen Seite saß der Teufel und wartete auf seinen Lohn. Statt eines Menschen schickten die gewieften Urner jedoch einen Ziegenbock hinüber. „Den magst du behalten“, riefen sie, „hier hast du die erste Seele, welche die Brücke überquert!“ Heutige Reisende rollen einfach über den Bau und ziehen weiter durch die Berge. Meine nächste Herausforderung ist der Sustenpass. Er steigt in mehreren Stufen das Meiental hinauf. Erst steil durch den Wald, dann offen durch Wiesen, vorbei an urigen Höfen. Die vielen Höhenmeter vor Augen strample ich im kleinsten Gang hinauf. Bei einem Fotostopp neben der Schotterpiste holt mich eine Trailrunnerin ein. Sonst ist abseits der Straße niemand zu sehen. Die Ruhe am Weg ist einer der Trümpfe der „Alpine Bike 1“.

Geistererscheinung nach dreitausend Höhenmeter

SchweizMobil empfiehlt, die Strecke in 16 Etappen zu radeln. Ich packe heute zwei der Teilstücke zu einem Tag zusammen. Ob das mal so eine gute Idee ist, dreitausend Höhenmeter samt Gepäck am Rad zu fahren? Um 14 Uhr ist der 2224 Meter hohe Sustenpass gemeistert. Auf der herrlichen Abfahrt zieht ein großes Straßenschild die Blicke an. Darauf steht: „Willkommen Haslital – Berner Oberland“. Die vorletzte Region der Tour ist erreicht. In Innertkirchen geht es über den Fluss Aare und dem zweiten Pass des Tages entgegen. Die Große Scheidegg zählt für mich zu den schönsten Fahrten im Land. Das schmale Asphaltsträßchen zieht sich mit vielen Kurven steil bergan. 1350 Höhenmeter am Stück. Vorbei am Reichenbachfall, wo der britische Schriftsteller Sir Conan Doyles seine Romanfigur Sherlock Holmes zu Fall brachte. Dann über die Schwarzwaldalp und hinein ins UNESCO-Weltnaturerbe Schweizer Alpen Jungfrau-Aletsch. Dass ich heute so spät dran bin, hat einen Vorteil: Die Sonne flutet die Berge mit ihrem weichen Abendlicht. Die Straße wirft ihre Schleifen am Fuß der mächtig aufragenden Nordwand des Wetterhorns in Wald und Wiesen. Die letzten Sonnenstrahlen tasten sich über die Hänge, das Wollgras leuchtet auf. An einem Weiher ein Stopp. Im Wasser eine Geistererscheinung. Die Erschöpfung? Nein – mein eigener schemenhafter Schatten. Um zwanzig Uhr stehe ich oben auf 1962 Meter Höhe. Alle Jacken an, Knielinge überziehen und nichts wie hinab nach Grindelwald!

Das Berner Oberland empfängt Reisende mit beeindruckender Natur und urigen Orten, wie hier Lauterbrunnen. Foto: Thorsten Brönner

Auf den Etappen sieben und acht stehen die Übergänge Kleine Scheidegg (2061 Meter), Hahnenmoospass (1956 Meter) und Saanenmöser (1279 Meter) an. Dazwischen liegen die Ferienorte Wengen, Lauterbrunnen, Interlaken, Adelboden und Lenk. Die Bergwelt hält mit Wetterhorn, Eiger, Mönch und Jungfrau dagegen. Ins Tal betten sich der Brienzer und der Thuner See, beide türkisfarben und beide von der Aare durchflossen. Von 558 Metern geht es hinauf in die Berner Alpen. Dahinter überquere ich den „Röstigraben“, sprich die Sprachgrenze zwischen Deutsch und Französisch. Die Freiburger Alpen bieten nochmals viel Ruhe und große Panoramen. Für beides bin ich vor acht Tagen am Ufer des Inns losgezogen.

„The Show must go on!“

Jetzt rollen die Räder an der Seite des Flusses Rhone dem Genfersee entgegen. Offiziell endet die „Alpine Bike 1“ im Winzerort Aigle. Von dem gleichnamigen Château aus sind es nur 24 Kilometer bis Montreux. Die Riviera habe ich als meine Ziellinie gewählt. Das Rhonetal läuft an dieser Stelle Richtung Nordwesten. Am Horizont treten die Berge zurück. Doch genau dort ballen sich jetzt dunkle Wolken. Das Ausrollen wird zu einem Schlusssprint. Wasserkanäle, Wiesen und Felder flitzen vorbei. Kaum Zeit, um die Reize des Rhonedeltas auszukosten. Ein kurzer Stopp im Wald, einer am offenen See, der nächste am Schloss Chillon.

Hinter Schloss Chillon ziehen bedrohliche Wolken über dem Genfersee auf. Foto: Thorsten Brönner

Es ist eine der Top-Sehenswürdigkeiten der Schweiz und heute verwaist. Da kaum jemand unterwegs ist, wähle ich den verwinkelten Uferweg. Große Wellen klatschen ans Ufer, als wogte hier ein Meer. Das Wasser überspült den Weg und die Blumenbeete. Eine eigenwillige Licht- und Wolkenstimmung zieht meinen Blick hinaus auf den Genfersee. Der Regen fällt weit draußen. Ich komme trocken nach Montreux. Vor der Statue des Sängers Freddie Mercury greife ich in die Bremsen. Diese schwere Radreise durch die Schweiz war eine Megashow. Ein anderes Mal heißt es wieder: „The Show must go on!“

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