Berge von Arbeit
Von Axel Klemmer
Wer sagt, dass Kulturlandschaft immer nur Alm sein muss? Zwischen Ruhr und Emscher nennt man sie Industrienatur: Die Berge heißen Halden, zwischen Zechen und Hochöfen wuchert das Grün. Der „Pott“ als außergewöhnliches Tourengebiet.
Melanie Hundacker ist nicht mutig. Tollkühn, das trifft es eher, ist aber immer noch zu schwach. Melanie fährt Mountainbike, sehr gut und in schwierigem Gelände. So weit, so gewöhnlich. Dass sie ihre Touren am liebsten kreuz und quer durch das Ruhrgebiet legt, erscheint schon mal seltsam. Echten Irrwitz verrät dagegen ihr Fahrradlenker. Da hat sie zwei Klingeln befestigt, runde Klingeln in Form von Fußbällen. Der eine Ball ist schwarzgelb, der andere blau-weiß. Borussia Dortmund und Schalke 04, nebeneinander und in Frieden vereint – so was geht gar nicht im Revier, eigentlich. Melanie ist ein echtes Zechenkind und, selbst wenn sie gern in den Alpen radelt, niemals in Versuchung, woanders zu leben. Auch ihren Job als Outdoor-Guide für alle möglichen Arten der Fortbewegung zu Fuß und auf dem Fahrrad, mit sportlichem oder kulturhistorischem Hintergrund, erledigt sie fast ausschließlich im Pott.
Arbeit ist der große Mythos im Ruhrgebiet, vor allem die Arbeit, wie sie früher war: laut und schmutzig. Zechen, Hochöfen und alte Infrastrukturen haben ihre ursprüngliche Funktion verloren; von Grün überwuchert, regen sie nun die Fantasie aufs Schönste an. Da sie wegen ihrer Größe gar nicht vollständig zu sanieren sind, sichert man Treppen und Besuchergänge, überlässt das Terrain ansonsten der Natur und pflegt ein touristisches Alleinstellungsmerkmal: die Route der Industriekultur. Sie verbindet spektakuläre Industriedenkmäler wie die berühmte Zeche Zollverein, den Gasometer in Oberhausen oder den Landschaftspark Duisburg-Nord mit zahlreichen Aussichtspunkten und Arbeitersiedlungen wie der Margarethenhöhe zu einer gewaltigen Rundtour. Man kann die einzelnen Punkte mit dem Auto oder den öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen, am schönsten aber erlebt man die Route auf dem rund 700 Kilometer umfassenden Radwegenetz. Alles werde ich nicht sehen, das steht fest. Trotzdem leihe ich mir ein Fahrrad – kein Mountainbike, sondern ein schweres, solides Citybike – und radle los. Das „grüne Ruhrgebiet“ ist heute ebenso ein Klischee wie früher der „graue Pott“. Aber es stimmt ja auch. Man sieht das am besten, wenn man von oben hinabschaut. Es gibt im Ruhrgebiet, mehr noch an dessen Rand, richtige Berge. Der höchste erhebt sich bei Breckerfeld im äußersten Südosten, er heißt Wengeberg und misst 441 Meter. Niedriger, dafür spektakulärer sind die Halden: künstliche Erhebungen aus dem Abraum der Kohlebergwerke, aus Trümmern, Bauschutt, Industrieschlacke und Müll. Wie sich das für ein urbanes Gebirge eben gehört.
Mehr als hundert Halden zählt man, 29 davon listet die Broschüre „Gipfelstürmen in der Metropole Ruhr“. Wo beginnen? Natürlich auf der höchsten, der Halde Haniel im Norden zwischen Oberhausen und Bottrop. Ein dichter grüner Wald- und Strauchpelz überzieht die Halde bis hinauf zu den, na ja, alpinen Matten der weitläufigen Gipfelregion. 185 Meter über Normalnull misst der höchste Punkt – etwa 120 Meter über dem Parkplatz, wo ich das Fahrrad abstelle. Der Aufstieg folgt einer vertrauten Infrastruktur: Ein Kreuzweg führt auf die Halde. Die Sprüche zu den einzelnen Stationen sind standortgerecht. Bei der neunten Station (dritter Fall) ist ein Zitat von Franz Hengsbach, dem ersten Bischof des 1958 gegründeten Bistums Essen, zu lesen: „Technischer Fortschritt und Umstrukturierung dürfen nicht auf dem Rücken der Menschen durchgeführt werden. Nicht der Mensch ist für die Wirtschaft da, die Wirtschaft ist für den Menschen da“. Wo liest man so etwas in den Alpen?! Der Kreuzweg endet auf dem Vorgipfel. Ein großes Kreuz erinnert an die Messe, die Papst Johannes Paul II. anno 1987 hier oben las. Von Westen jagen finstere Wolken heran, der Wind wird zum Sturm, doch nach einem kurzen, eindrucksvollen Schauer ist der Spuk schon wieder vorbei. Erstaunlich, wie ausgesetzt, wie ausgeliefert man sich auf so einem Kunstberg fühlen kann. Vorbei an der „Bergarena“, einem Amphitheater für 800 Besucher, steige ich entlang bunter Totempfähle zum höchsten Punkt. Die Sicht reicht schier unendlich weit: Im Nordwesten erstreckt sich eine geschlossene Walddecke bis zum Horizont, im Süden ragen Schlote, Kühltürme und Hochöfen aus dem grünen Pelz, seltsam klein und weit verstreut. Es ist ein Panorama, das schwer überrascht. Auf der alten Trasse der Kray-Wanner- Bahn radle ich am nächsten Tag von Essen Richtung Gelsenkirchen, unbehelligt vom Straßenverkehr, kilometerweit durch eine grüne Hybridlandschaft – halb Stadt, halb Wildnis.
Doch was so unordentlich, so unaufgeräumt aussieht, zeugt auch von höherer Gewalt: Das Pfingstunwetter vom 9. Juni 2014 hat im Ruhrgebiet enorme Schäden angerichtet, viele Waldgebiete werden noch lange unzugänglich sein. Nach dem Zwischenstopp an der Halde Rheinelbe mit ihrer „Himmelsleiter“, einer turmartigen Skulptur auf dem höchsten Punkt, führt eine Abfolge mehrerer Brücken über ein verwirrendes Netz von Gleisanlagen zwischen wuchernder Vegetation hinweg. Später, man muss das nicht verschweigen, wird es auch mal hässlich, doch nachdem ich auf einer imposanten Fahrradbrücke den Rhein-Herne-Kanal überquert habe und bald darauf die Emscher, reibe ich mir in der Resser Mark die Augen. Eine idyllische Parklandschaft öffnet sich, mit Wiesen, Bäumen und weidenden Rindern und einem großen Teich mit Schilf und Schwänen. Der grüne Berg zur Rechten ist – die Zentraldeponie Emscherbruch. Schöne Waldwege führen weiter zur Halde Hohenward. Wieder so ein Riesending: nicht ganz so hoch wie Haniel, dafür ausgedehnter. Eine Ringpromenade führt auf mittlerer Höhe rundherum, ganz oben sind zwei gigantische Stahlbögen installiert. Wieder bläst der Wind, was die Wolkenbacken hergeben, wieder trägt er den Blick zu weiten Horizonten.
Den kompletten Artikel lesen Sie in DAV Panorama 3/2015