Karikatur eines nervösen Kletterers, der schweißgebadet an einem Felsen hängt und sich vorstellt, wie er mit einem gerissenen Sicherungsseil abstürzt.
Sturz- und Vorstiegsangst können den besten Taktikplan und die feinste Technik zunichtemachen – mittels Training lässt sich diese aber minimieren. Illustration: Georg Sojer
Klettern an der Sturzgrenze

Den Kopf im Griff

Klettern ist mental herausfordernd, vor allem, wenn die Route anspruchsvoll und ein Sturz wahrscheinlich ist. Gegensteuern lässt sich mit gezielten Übungen.

Neben Technik, Taktik und Kondition ist die Psyche ein maßgeblicher Leistungsfaktor im Sportklettern. Mehr noch: Sturz- und Vorstiegsangst können den besten Taktikplan und die feinste Technik zunichtemachen und dazu führen, dass mehr Kraft als nötig verschleudert wird. Ziel der folgenden Übungen ist, das Klettern an und über der Sturzgrenze zu verbessern und hemmende Sturzangst zu minimieren. Voraussetzung ist, dass Gelände und Absicherung gefahrloses Stürzen zulassen. Während beim Alpinklettern Stürzen meist tabu ist und beim Outdoor-Sportklettern Gelände und Absicherung selbstständig auf Sturzeignung eingeschätzt werden müssen, ist Stürzen beim Hallenklettern in der Regel gefahrlos möglich (Vorsicht im bodennahen Bereich). Doch auch hier muss die Seilschaft das Halten von Stürzen, das weiche Sichern und das richtige, „flache“ Stürzen beherrschen, um einen harten, verletzungsträchtigen Anprall an die Wand zu vermeiden. Dieses Sicherungs-Know-how lässt sich unter Anleitung und mit Hintersicherung mit unten beschriebenen Übungen auch erwerben und verbessern, empfehlenswert sind spezielle Kurse, die Sektionen anbieten.

Sturztraining ist gleichzeitig auch Sicherungstraining – ein Grund mehr, sich darauf einzulassen. Für das Arbeiten an der eigenen Kletter-Psyche sind einige Prinzipien zu berücksichtigen:

  • Kleine Schritte: Vom ersten Seilrutscher im Toprope bis zum Sturz im Onsight-Versuch sind es viele kleine Schritte – Anspruch, Weite und Gelände müssen sehr langsam gesteigert werden. Ziel ist, eine systematische Desensibilisierung zu erzeugen (Gewöhnungseffekt). Hierzu braucht es maximal viele Wiederholungen – erst wenn die jeweilige Übung nur noch ein müdes Gähnen statt Angstschweiß und Puls jenseits der 180 Schläge erzeugt, ist der Punkt erreicht, um zu steigern oder die nächste Stufe anzugehen.

  • Realitätsnah üben: Jeder Sturz soll aus der Kletterbewegung erfolgen. Zug andeuten, Greifhand tippt an Wand oder Zielgriff, dann lässt man sich fallen – so genanntes Touch & Go. Sturzübungen und deren Ablauf sollten im Vorfeld klar in der Seilschaft kommuniziert werden. Im Folgenden sind Übungen in drei Kategorien unterteilt: Toprope-, Vorstiegs- und Realclimb-/Anwendungsübungen.

Toprope-Übungen

(Das Gegenseil ist idealerweise in die Exen eingehängt.)

  • Ohne „zu“ reinsetzen – für die meisten die erste Berührung mit dem Thema Fallen. Es wird normal eng, aber nicht straff gesichert, kletternde Person macht Touch & Go und lässt sich ins Seil fallen/rutschen. Effekt: erste Gewöhnung ans Fallen. Sehr geringer Aufwand, ab der dritten Exe über ganze Routenlänge durchführbar, leichte Steigerung möglich, indem die sichernde Person das Seil etwas lockerer führt.

  • Ein Zug und Go – ab einer festgelegten Höhe (mind. siebte Exe) gibt die kletternde Person Bescheid, dass das Seil nicht mehr eingezogen wird, klettert noch einen Zug, setzt weiteren Zug an, dann Touch and Go. Effekt: erste Gewöhnung an freie Sturzlänge, gutes Herantasten an weiches Sichern und richtiges Stürzen. Wenig Aufwand, Steigerung durch weitere Züge möglich, dabei wichtig: Limit setzen, um Kollision zu vermeiden.

Leichtsinn ist beim Klettern natürlich tabu, doch ein entspannter „freier“ Kopf begünstigt effizientes Klettern. Illustration: Georg Sojer

Im Vorstieg

  • Clip and Drop – auch wenn diese Übung im Vorstieg stattfindet, gefallen wird unter der jeweiligen Umlenkung/Exe. Klettern, clippen, fallen lassen – das Ganze ab der vierten Exe bei jeder Zwischensicherung. Effekt: Gewöhnung ans Stürzen in unterschiedlichen Situationen und Wandformen, gutes Training für angepasst weiches Sichern: Je weiter oben, umso weicher darf/soll gesichert werden. Intensives Üben und ideal ins Einklettern integrierbar.

  • Sturztraining an definierter Stelle – hinsichtlich Wandstruktur, Höhe (ab siebter Exe) und Steilheit ideale Stelle definieren. Seil ist an dieser Stelle umgelenkt, bis dahin im Toprope klettern, einen Zug über die Exe – Touch and Go. Effekt: erstes Gewöhnen an Vorstiegssturz unter „Laborbedingungen“. Fokus auf Sturzverhalten und Körperhaltung. Steigerung durch größere Sturzweiten oder anspruchsvollere Stürze (seitlich versetzt) möglich.

  • Clip and Drop plus – wie Clip and Drop mit der Anpassung, dass Umlenkung nicht mehr geclippt wird, sondern Vorstiegssturz in die letzte Exe. Effekt: Gewöhnung an unterschiedliches Gelände für Vorstiegsstürze. Ideal als fortgeschrittene Aufwärmmethode.

  • Clip, Climb and Drop – wie oben Clip and Drop, aber ab 6.-7. Exe wird nach dem Clippen ein Zug über die Exe geklettert, Touch & Go. Gleiches Spiel zur nächsten Exe – clippen – klettern – fallen … usw. Effekt: intensives Gewöhnen an das Stürzen im Vorstieg in unterschiedlichen Situationen. Ideal als Aufwärmmethode.

Realclimb (im eigenen Grenzbereich)

Ziel aller Anwendungsübungen ist es, am eigenen Limit den Fokus auf das Klettern zu legen und nicht durch einen möglichen Sturz darin beeinflusst zu werden. Der Wechsel von der „Laborsituation“ diverser Sturzübungen zur Anwendung im realen Klettern ist erfahrungsgemäß aufwendiger als erwartet.

  • Rotpunkt-Stürzen – Route am eigenen Limit ausbouldern, sich dabei an den Schlüsselstellen bewusst langsam rantasten und einstürzen. Effekt: Gewöhnung an reale Stürze und Klettern an der Sturzgrenze mit dem Ziel, Schlüsselstellen an der Sturzgrenze zu klettern.

  • Hard Flash – wie oben, aber Partner*in stürzt sich ein, zeigt, dass ein Sturz problemlos ist. Anschließend Flash-Versuch bis zum Sturz … oder Durchstieg. Effekt: Vorinfos durch Partner*in helfen, sich mit Schlüsselstelle und potenziellem Sturz vertraut zu machen.

  • World Cup Simulator – on sight an der eigenen Leistungsgrenze wird so lange an und über die Leistungsgrenze geklettert, bis man stürzt oder die Route schafft. Je nach Vorkenntnissen lassen sich die unterschiedlichen Übungen über viele Trainingseinheiten oder innerhalb einer Klettersession absolvieren. Es gilt, rechtzeitig zu erkennen, wann Steigerungen möglich, Pausen nötig oder die Beendigung der Übung besser sind. Und dabei immer das Ziel vor Augen: Stürzen soll langweilen.