Als wir hoch über Obergurgl die Seilbahnstation verlassen und zur Langtalereckhütte aufsteigen, blicken wir taleinwärts zum Gurgler Ferner, der so weit geschrumpft ist, dass man ihn in den Arm nehmen und trösten möchte. In der Hütte hängt eines dieser Schwarz-Weiß-Fotos, bei denen man am Farbstich schon aus der Ferne erkennt, dass es uralt ist. Die Langtalereckhütte wurde 1929 errichtet, das Bild dürfte also um die hundert Jahre alt sein: Es zeigt den Gurgler Ferner mit einer surreal wirkenden Ausdehnung und Mächtigkeit, dick und breit wie umgestülpter Pudding schaut er da in die Gegend. Jetzt ist nicht nur die weiße Haube verschwunden, sondern stattdessen ist dort jetzt eine Hohlform. Irre.
Die Erwärmung hier oben ist rund doppelt so stark wie im Flachland und hat auch das Eis auf Pässen und Übergängen schmelzen lassen. Zwei davon wollen wir morgen und übermorgen ausprobieren. Das jetzt frei liegende Gelände ist ja quasi Neuland, Erdoberfläche, die es vorher nicht gab, ein bisschen wie eine Vulkaninsel: Das wollen wir probieren. Morgen übers Langtalerjoch zur Zwickauer Hütte und übermorgen übers Rotmoosjoch zurück Richtung Obergurgl.
Bernd hat wie immer alles ausgetüftelt und vorbereitet. Als Bergfotograf will er beim allerersten Licht immer an einer vorher definierten, besonders schönen Passage die ersten Bilder machen. Aufbruch also prinzipiell zu grausamen Uhrzeiten. Es gibt ein Missverständnis, ich stelle den Wecker eine Stunde zu spät. Er überspielt, wie angefressen er deswegen ist, und bald schlägt seine nie versiegende, immer ansteckende Begeisterung durch, die ich so sehr an ihm liebe.
Er jubelt über Wolken im Gegenlicht, über glitzernden Tau, die scharf geschwungene Linie einer Randmoräne. Und er hat recht, es ist wirklich verdammt schön hier. Der Weg durchs Langtal ist, das kann nicht überraschen, lang. Herrlich einsam aber, Schafe und Gämsen sind unsere einzige Gesellschaft. Friedlich grasen sie Seit’ an Seit’, Gipfel schimmern im Morgenlicht. Murmeltiere rufen, bevor wir sie verschwinden sehen, was für ein Idyll. Wo der Anstieg früher über den Gletscher lief, leiten Markierungen durchs Blockgelände, bis es zu einer kompakten Platte aufsteilt, die zum Joch hinaufleitet. Früher lief man auf dem Gletscher über das Joch. Dann hat der Gletscher sich verabschiedet und sie haben vom Resteis aus eine Steiganlage gebaut. Diese Metallstufen beginnen jetzt jedoch in unerreichbaren fünfzehn Meter Höhe, vom Resteis ist auch nichts mehr übrig. Links davon hängt eine Strickleiter, zu der man aber auch schon wieder ein Stück hinaufklettern muss, weil – richtig geraten – der allerletzte Schnee am Einstieg jetzt noch weiter unten liegt.
Vom Joch auf 3030 Metern geht es südöstlich steil abwärts auf die Südtiroler Seite, grüne Hochmatten und die Rufe der Murmeltiere begrüßen uns. Nebel kommt auf, das ist einerseits angenehm, weil die Sonne nicht so brennt, andererseits findet man so den Weg nur schwer. Laut App wären wir genau richtig, tatsächlich befinden wir uns ein paar Mal im Nirgendwo. Wenn das Handy in einem solchen Gelände behauptet, der Weg sei schnurgerade, vergiss die App und vertrau auf dein Gefühl! Aber wer so alt ist wie wir, hat halt auch Erfahrung: Ohne größere Probleme finden wir hinab auf den Wanderweg Nr. 44, der hinüber führt Richtung Zwickauer Hütte. Ein gewaltiger Bartgeier bricht aus dem Nebel, dann taucht keine zwanzig Meter vor uns ein Steinadler auf – Menschen dagegen sind wir noch nicht begegnet.
Auf dem gut markierten, komfortablen Weg geht es zunächst leicht abwärts, dann wieder ansteigend. Wir queren ein paar Schneefelder, Rast an einem Wasserfall, die Beine langsam schwer, jetzt geht es die letzten sechshundert Höhenmeter steil bergauf – Gott sei Dank, so gewinnen wir rasch an Höhe (na ja, relativ ...). Wenn die Sonne in diese südseitige Steiletappe brennt, kann das hier zum Martyrium werden, aber freundliche Wolkenfetzen schirmen uns ab, lassen dabei grandiose Aussichten zu. Ein leichter Wind fächelt Kühlung, dann haben wir es geschafft: Willkommen auf der Zwickauer Hütte auf knapp dreitausend Metern.
Wenn wir nicht ohnehin wüssten, dass wir uns offiziell in Südtirol befinden: Man würde es am Dialekt erkennen, Hüttenwirt Heinz Leitner klingt wie eine entspannte Ausgabe von Reinhold Messner. Heinz sieht aus wie sechzig, ist aber vierundsiebzig. Sechzig war er schon, als er die Hütte übernommen hat. Das muss man sich ja auch erst mal trauen. Als er vor vierzehn Jahren hier anfing, ging es zum Rotmoosjoch über den Planferner noch flach hinüber, es war ein beliebter Skitourenübergang. So beliebt, dass sich Menschen aus Nord- und aus Südtirol auf dem waagerechten Gletscher mal zu einem Fußballspiel verabredet haben. In Heinz’ zweitem Jahr auf der Zwickauer Hütte schaute am Joch dann erstmals ein schmaler Streifen Fels heraus, jetzt klebt vom Gletscher nur noch ein trauriger Rest in der Ecke, so ist es halt.
Ein schwungvoller Hüttenabend mit Ziehharmonika, Obstler und Kartenspiel reißt uns aus den trüben Gedanken, dann heißt es wieder früh aufstehen: Bernd und sein Morgenlicht, wir hatten das schon. Aber auch die freundliche Mitarbeiterin vom Hüttenteam, die für uns ein extra frühes Frühstück macht, steht nicht ganz so früh auf, wie er das gerne hätte. Immerhin liegt’s heute nicht an mir.
Im ersten Licht queren wir den Planferner, eine Steiganlage führt – genau wie gestern – zum ausgeaperten Joch. Auf der Rückseite eine nagelneue Steiganlage hinab bis in die Reste des Rotmoosferners (s. auch S. 6/7), nun wird es ernst: Früher ist man auf dem Gletscher hinausgelaufen, der ist verschwunden und hat ein wüstes Gelände hinterlassen. Bernd kennt das alles von einst, als es noch ganz anders aussah, er deutet auf einen frischen Bergsturz. Riesige Trümmer, als hätten die Götter mit Bauklötzen gespielt: „Fünfhundert Garagen, Malte! Das sind mindestens fünfhundert Garagen!“ In der Mitte der Scheiberkogel-Südwand muss es einen Pfeiler gegeben haben, hier liegt er jetzt, was für eine Verwüstung. Links liegen Toteisreste, Blockhalden, Schneefelder und Abbrüche, es ist verdammt unübersichtlich. Rechts aber warten frisch ausgeaperte, steile Gletscherschliffplatten. Laut Karte und Handy führt genau dort der Weg drüber und wir stehen mitten auf ihm – aber er verlief auf dem Gletscher, den es nicht mehr gibt und dessen Oberfläche zehn oder zwanzig Meter über unseren Köpfen lag. Heinz hat geraten, uns links zu halten, unser Gefühl sagt genau das Gleiche.
Die Altschneefelder sind immer wieder unterspült, man könnte einbrechen – wir seilen uns an. Reinhard Karl beschrieb das Gefühl, in den Eingeweiden des Berges herumzusteigen, genauso fühlt sich das hier an. Um den bestmöglichen Überblick zu behalten, gehen wir versetzt und tauschen uns ununterbrochen aus. Navigieren immer weiter nach links, bis der ganze Verhau aus frischer Oberfläche sich ohne Probleme auflöst und wir wieder die ersten Warnrufe der Murmeltiere hören. Noch eine Stunde durch das wunderschöne Rotmoostal, dann hat die Zivilisation uns wieder. Wir schauen noch mal zurück, Bernd zeigt auf die kilometerbreiten kompakten Felsplatten westlich unseres Abstiegs: „Da war der Wasserfallgletscher, der floss da runter, alles weg, ich fass’ es nicht!“ Und am Scheiberkogel ist nicht nur ein Pfeiler kollabiert, die ganze Wand hat sich gehäutet, der helle Farbton lässt keinen Zweifel. Wenn Gletscher und Schneefelder die Niederschläge nicht mehr speichern, wie viele Täler wird man am Ende aufstauen, um Wasser für das ganze Jahr zurückzuhalten? Wer vom Klimawandel in den Alpen nur Fotos und Statistiken kennt, weiß nur die halbe Wahrheit, und diese wird ja auch noch oft genug geleugnet. Wie oft hört man, mit dem Klimawandel sei es halb so wild? Wir haben gerade zweieinhalb Tage schönstes Bergabenteuer erlebt, eine großartige Runde, unbedingt zu empfehlen. Aber das übliche Gefühl von Glück, Gelöstheit und Dankbarkeit will sich einfach nicht einstellen.