Berglandschaft mit schroffen Felsen, grünen Wiesen und schneebedecktem Gipfel unter bewölktem Himmel.
Weit und breit keine Zivilisation. Dieser Blick zur Rötspitze ist die Belohnung für den Abstecher von der Roten Lenke auf die Gösleswand. Foto: Axel Klemmer
Reise nach Prägraten am Großvenediger

Urlaub vom Zeitgeist

Abgeleitete Bäche und ein Gletscherskigebiet am Großvenediger? Das sind Gespenster der Vergangenheit. Die Gegenwart im Osttiroler Virgental gehört dem Nationalpark Hohe Tauern – und der Frage, wie viel unverbaute Natur der Mensch heute noch verträgt.

Wasser rinnt über die hohe Felsstufe im hinteren Umbaltal. Rundgeschliffene Buckel, Platten, nicht steil, aber nass. Man greift gern in die Drahtseile. Doch auch hinter dem Gletscherschliff ist weit und breit kein Eis zu sehen. Wo es mal war, erstreckt sich eine riesige Ebene aus Schwemmsand, auf der die junge Isel ihre Wasserschlingen auswirft. Das Gletschertor ist noch weit entfernt und von Norden drücken dichte Wolken über den Tauernkamm. So endet die Tour zum Umbalkees und zum Ursprung der Isel, ohne beide gesehen zu haben.

Im hinteren Umbaltal schafft die junge Isel eine beeindruckende Landschaft. Foto: Axel Klemmer

Schmelzende Gletscher sind nicht die einzigen Indikatoren für den Klimawandel: In den früher geschlossenen Wäldern über dem Virgental klaffen große Löcher – Wunden, die Unwetter wie das Sturmtief „Vaia“ seit Herbst 2018 geschlagen haben. Noch vorhandene Bäume sind nicht nur grün, sondern in weiten Abschnitten braun und tot. Da hockt der Borkenkäfer drin. Die Natur wandelt sich, dabei ist sie in Prägraten so ursprünglich geblieben wie an kaum einem zweiten Ort Tirols. Rundherum hohe und sehr hohe Berge und nirgends eine Seilbahn: Prägraten ist ein idealtypisches „Bergsteigerdorf“, auch wenn es nicht der gleichnamigen Initiative der Alpenvereine angehört, sondern dem Verein „Österreichs Wanderdörfer“. Mit Blick auf den Alpentourismus der Zukunft mag es das bessere Wording sein.

Die wilde Vergangenheit der Venediger-Gruppe

Doch werfen wir zuerst einen Blick zurück in die wilde Vergangenheit: Von den späten 1960er bis in die frühen 1980er Jahre wurde auf der Nordseite des Alpenhauptkammes ein Gletscher nach dem anderen erschlossen. Auch in Osttirol gab es Pläne für Seilbahnen und Lifte auf der Südseite der Venedigergruppe. Von Innergschlöß bis ins Virgental waren sie als touristischer Zusatznutzen eines gewaltigen Wasserkraftprojekts vorgesehen, das keinen der großen Gletscherbäche in der Region unberührt gelassen hätte. Während sich die einheimische Bevölkerung damals für die Pläne aussprach, war der Alpenverein als größter Grundeigentümer dagegen. Er pochte auf die Umsetzung einer Vereinbarung von 1971 zur Einrichtung eines länderübergreifenden Nationalparks und propagierte den „sanften“ Tourismus. Nach jahrelangem Streit gab man 1989 das Kraftwerksprojekt – und damit auch das Skigebiet – auf. 1991 wurde der Nationalpark Hohe Tauern, wie schon vorher in Kärnten (1981) und Salzburg (1983), auch in Tirol Realität.

Dank der Einrichtung des Nationalparks Hohe Tauern findet man rund um Prägraten noch ursprüngliche Berglandschaft. Foto: Axel Klemmer

Dabei hatten ihn die Menschen in Prägraten bei einer Abstimmung im selben Jahr zu mehr als neunzig Prozent abgelehnt. Allerdings scheint es ihnen seither nicht schlecht ergangen zu sein. Ob es daran liegt, dass der Tourismus für viele keine große Rolle mehr spielt? In Prägraten gibt es zwei Hotels und einen Gasthof, dazu ein paar Pensionen, Ferienhäuser, Privatzimmer, Bauernhöfe. Wenige Restaurants, dafür einen Supermarkt für die Nahversorgung. Morgens steigen die einen in den Bus, der sie zur Arbeit in die Industriegebiete bei Matrei und Lienz bringt. Die anderen sind da schon zum Großvenediger (3657 m) unterwegs. Wer nicht im fast 3000 Meter hoch gelegenen Defreggerhaus geschlafen hat, ist gegen drei Uhr morgens mit dem ersten Taxi von Hinterbichl zur Johannishütte gefahren, im Dunkeln zur Hütte aufgestiegen und im Morgenlicht über Drahtseile und Eisenklammern aufs schuttbedeckte Eis abgestiegen. Der Großvenediger ist vor allem ein Berg für angeseilte Wandersleute, die auf dem Gletscher lange Menschenketten bilden. Vorne geht der Bergführer mit dem kultigen Bergstock. Aber wie lange noch? Immer früher apern die Gletscherflächen unter dem Gipfel aus. Die klassische Hochtour ist ein Auslaufmodell. Rötspitze (3496 m) und Dreiherrnspitze (3499 m), die beiden großen Ziele über dem hinteren Umbaltal, werden öfter von der Südtiroler Seite als von der Clarahütte gemacht.

Und sonst? Der Hohe Eichham (3371 m), die Malhamspitzen oder der Quirl (3251 m) erfordern statt „richtiger“ Kletterei eher anspruchsvolles „Scrambling“. Bleiben die Höhenwege: der Venediger-Höhenweg im Norden und der Lasörling-Höhenweg im Süden. Beide gehören zu den schönsten ihrer Art und lassen sich zur großen „Hufeisentour“ verbinden. Höhenwege sind für Bergsteigerdörfer jedoch problematisch, da meistens in Hütten statt im Dorf übernachtet wird. Dabei ermöglichen Talquartiere ruhigeren, komfortablen Schlaf sowie Tagestouren mit leichtem Gepäck.

Die gemütliche Lasnitzenhütte – hier bei einem Hubschrauber-Notfalleinsatz – bietet Unterkunft auf dem Lasörling-Höhenweg. Foto: Axel Klemmer

Beispielsweise ins Sajatkar, wo es hinter der Sajathütte über eine gesicherte Steilstufe auf den Kamm und auf sandigem Gelände zum Gipfel der Kreuzspitze (3155 m) geht. Über die Sajatköpfe steigt man dann hinab ins Timmeltal, durch das der Zugang zum höchsten markierten Gipfel im Gebiet, der Weißspitze (3300 m), erfolgt: vom Wanderparkplatz Bodenalm über die Eisseehütte und das Wallhorntörl. Eine knappe halbe Stunde unter dem Gipfel zweigt die kleine Runde über die Seewandspitze und den Eissee zurück zur Hütte ab. Auch der Venediger-Höhenweg lässt sich tageweise bewandern, etwa auf der Etappe von der Johannishütte über das Türmljoch (2772 m). Unten im Maurertal beginnt der lange und anspruchsvolle, landschaftlich überwältigende Übergang zur Clarahütte. Stellenweise nur spärlich bezeichnet, ist er als „Alpenkönigroute“ eines der Highlights im Angebot der Venediger-Bergführer.

Blickfang beim Abstieg vom Türmljoch Richtung Essener-Rostocker-Hütte ist der Simonysee unter dem Einschnitt des Reggentörls. Foto: Axel Klemmer

Zeitreise auf der Gösleswand

Glanzpunkt ist die Hohe Grube mit ihren Bergseen, Schlüsselstelle der Abstieg von dort ins Umbaltal. Man kann diese sehr steile und unübersichtliche Passage jedoch umgehen: Von der Hochkarscharte folgt man den Markierungen weiter nach Süden Richtung Wiesbauerspitze, die auf offiziellen Karten noch Mullwitzkogel heißt. 2007 benannte die Gemeinde sie um – kleines Dankeschön an den Wursthersteller Wiesbauer, der Prägraten in ein Preisausschreiben für die Kundschaft seiner Bergsteigerwurst aufgenommen hatte. Vom „Wurstkogel“ führt der Pfad hinab ins Umbaltal, wo er auf den gewöhnlichen Weg zur Clarahütte trifft. Nicht weit von dieser Stelle zweigt auf der anderen Seite der eindrucksvolle Steig durch das schmale Dabertal und hinauf zur Daberlenke, der Nahtstelle zwischen der Venediger- und der Lasörlinggruppe, ab. Unter bunten Bergen, Quarzadern und Schutthalden bummelt man zur Neuen Reichenberger Hütte. Ein kürzerer Anstieg zur Hütte führt durch das Kleinbachtal, vorbei an zwei großen Wasserfällen und über den idyllischen Kleinbachboden zur Roten Lenke. Wer dort oben die Gösleswand (2912 m) rechts liegen lässt, ist selbst schuld, denn der gut zehnminütige Abstecher wird mit einer Aussicht wie aus der Zeitmaschine belohnt: Vom Gipfel sind kein Dorf und keine Straße zu sehen, praktisch keine Zeichen von Zivilisation. Die Erde im Urzustand: spitze Berge mit riesigen weiten Steilflanken, die von grünem Samt überzogen sind; und im Süden, wie durch ein Schaufenster, die Sextener Dolomiten mit den Drei Zinnen. Ähnlich beeindruckend und fast noch schöner als die 360-Grad-Rundschau vom Lasörling ist das 180-Grad-Panorama von der tiefer gelegenen Zopanitzenalm.

Fünfzehn Kilometer, rund tausend Höhenmeter und ein beeindruckendes Panorama inklusive Großvenediger-Blicken bietet der Muhs-Panoramaweg. Foto: Axel Klemmer

Wo der Muhs-Panoramaweg auf dem grünen Bergrücken über Hinterbichl einen scharfen Knick macht, hat man den Tauern-Hauptkamm von der Rötspitze über den Großvenediger bis zum Großglockner im Blick. Und man kommt ins Grübeln. Warum gibt es hier keinen Overtourism? Im ganzen Sommer 2024 verzeichnete Prägraten nur 62.000 Übernachtungen. 1981 waren es im selben Zeitraum noch 171.000. Ist es der Zeitgeist, den alles irritiert, worin der Mensch nicht seine Haufen gesetzt hat? Nicht zu lange grübeln, einfach nehmen, wie es ist. Dies ist der richtige Ort.

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