Im stillen, von Arven und Lärchen geprägte Tuoi-Tal gleiten unsere Ski durch den knarzenden Schnee. Gestartet sind wir für unsere Skitour zum Fil da Tuoi (2867 m) im malerischen Bergsteigerdorf Guarda. Ein Ort wie aus dem Bilderbuch mit seinen kunstvoll bemalten Häusern und schmalen Gassen. Apropos Bilderbuch: Kindheitserinnerungen werden wach. Mein Lieblings-Kinderbuch war und ist „Schellen-Ursli“. „Hoch oben in den Bergen, weit von hier, da wohnt ein Büblein so wie ihr“, beginnt die Geschichte von Selina Chönz und dem Künstler Alois Carigiet. Sie spielt eben in Guarda und handelt vom Brauch des Chalandamarz, der alljährlich am ersten März durchgeführt wird. Die Tradition will, dass an diesem Tag der Winter mit lautem Glockengeläut der Engadiner Kinder ausgetrieben und der nahende Frühlingsbeginn gefeiert wird.
Der Schellen-Ursli in Guarda
Kinder können die Abenteuer des Schellen-Ursli auf dem gleichnamigen Wanderweg entdecken. Er beginnt in Guarda im Dorf und führt entlang der Schlittelpiste hoch bis zur Lichtung „Plan dal Növ“. Unterwegs ist die erste Hälfte des Schellen-Ursli-Kinderbuches auf großen Tafeln zu lesen. Oben angekommen, wartet das Maiensäss, eine in der Schweiz verbreitete Form der Almwirtschaft, mit dem ganzen Buch und die zauberhafte Geschichte kann zu Ende gelesen werden. Eine Schlechtwetter-Alternative ist das Schellen-Ursli-Museum in Guarda. Es bietet Einblicke in verschiedene Szenen der Kindergeschichte. Hier wird die Geschichte des Schellen-Ursli real. Während der gleichmäßigen Gehbewegung, die ich auf Skitour so liebe, wandern meine Gedanken weiter zu den anderen Unterengadiner Bergsteigerdörfern. Südlich der Silvretta liegen hier im rätoromanischen Sonnental außer Guarda noch Lavin und Ardez. Neben historischen Gebäuden und umliegenden Dreitausendern locken die Orte auch mit viel Kunst und Kultur.
Wuchtige Steinwände verziert mit Sgraffito-Ornamenten, Rundbögen, vertiefte Fenster und gedeckte Farben sind typisch für Engadiner Häuser, wie sie in den rätoromanischen Dörfern stehen. Die stattlichen Bauten erinnern an Burgen, und dennoch sind sie Bauernhäuser. In der Römerzeit entstand der kräftige Kubus, der unter schwerem Dach alles vereint: Stall, Scheune und Wohnen. Bemalte Fassaden zeugen von künstlerischen Einflüssen aus Tirol und Italien. Die Menschen sprechen hier im Unterengadin „Vallader“, eine Variante des Schweizer Rätoromanischen. In der Schule ist es bis zur dritten Klasse die einzige Unterrichtssprache, danach lernen die Kinder Deutsch als erste Fremdsprache.
Nach rund einer Stunde Gehzeit kurz vor der Alp Suot (2018 m) verlassen wir den flachen Weg zur Tuoihütte und biegen in die Südwesthänge ab. Über ideales Skigelände erreichen wir den grünen See: Lai Verd. Dort spuren wir nach rechts auf den Rücken und gelangen über ihn auf den Fil da Tuoi (2867 m). „Bütsch al piz!“ So ertönt es im Engadin, hoch oben, wenn nach einem schweißtreibenden Aufstieg stolz der Gipfel erklommen wird. „Bütsch al piz“ ist rätoromanisch und bedeutet übersetzt „Küss den Gipfel“. Das machen wir, bevor uns der Plattenpulver in der Abfahrt doch einiges an Skikönnen abverlangt.
Geschichtliches in Ardez
Bergluft macht hungrig! Nach einem nachmittäglichen Spaziergang durch die engen Gassen von Ardez zur imposanten Burgruine Steinsberg wartet das Abendessen. Die Burg ist Wahrzeichen von Ardez und geht urkundlich zurück auf das Jahr 1209. Nachdem die Burg und viele Dörfer 1499 durch österreichische Schergen niedergebrannt wurden, ist Steinsberg nicht wieder aufgebaut worden. Nach dem kurzen Ausflug in die Geschichte schlemmen wir uns durch die Spezialitäten der Engadiner Küche: Die Ofenrösti „Plain in Pigna“, die an Spätzle erinnernden Pizokel und Capuns – köstliche in Mangold gewickelte Päckchen aus Spätzleteig, Kräutern und Bündnerfleisch. Anderntags erkunden wir mit den Tourenski den Piz Arina (2827 m), eine sehr lohnende Firntour mit prächtiger Aussicht ins Unterengadin und in die Lischanagruppe. Ein „Ausflug“ ins Oberengadin beschert uns Gipfelglück am Piz Murtiröl (2659 m) – eine dem Piz Arpiglia nördlich vorgelagerte Bergkuppe, die dank der vorgeschobenen Lage einen schönen Blick ins Engadin und ins Val Chaschauna bereithält.
Allegra in Lavin
Nach gelungener Abfahrt schlendern wir durch das dritte Unterengadiner Bergsteigerdorf und werden mit einem herzlichen „Allegra“ (freue dich) von den Einheimischen begrüßt. Lavin unterscheidet sich äußerlich deutlich von den übrigen Dörfern im Tal. Die Architektur und das Erscheinungsbild ist von „Italianità“ geprägt, die Abstände zwischen den Häusern sind größer. Der Grund dafür ist der verheerende Dorfbrand von 1869. Anstelle der 68 abgebrannten Häuser wurde nur rund die Hälfte wiederaufgebaut. Der Wiederaufbau prägt Lavin bis heute. Der Kanton bestimmte nicht nur die Anzahl der neu zu bauenden Häuser, sondern auch den Abstand zwischen ihnen. Dieser wurde auf 6,20 Meter festgesetzt, die Straßenbreite auf 4,50 bis fünf Meter.
Aufgrund eines Dorfbrands im Jahr 1869 unterscheidet sich Lavin deutlich von Guarda und Ardez.
Einige Laviner zogen für ihre Arbeit in der Zuckerbäckerei nach Italien, weshalb Geld, Pläne und Baumeister des Dorfes zu einem großen Teil aus dem Süden stammten. Apropos Zuckerbäckerei: Lavin ist bekannt für die Bäckerei Giacometti, die die besten Engadiner Nusstorten und Birnbrote weit über die Schweizer Grenzen hinaus verkaufen soll. Davon überzeugen wir uns beim Nachmittags-Kaffee, bevor es nach diesen erlebnisreichen Skitourentagen im Unterengadin zurück nach Hause geht. Dem Inn folgend lassen wir die schmucken Dörfer noch einmal an uns vorbeiziehen. Meine Gedanken kehren zur Geschichte vom Schellen-Ursli zurück: Er hat für den Chalandamarz nur ein kleines Glöckchen erhalten, weswegen er von den anderen Dorfknaben gehänselt wird und am folgenden Tag beim Umzug am Ende mitgehen soll. Da erinnert Ursli sich an die große Kuhglocke, die in der Frühsommeralphütte im Maiensäss hängt. Er macht sich auf den gefährlichen Weg durch den tiefen Schnee hinauf zur Hütte. Währenddessen sorgen sich die Eltern. Als es dunkel wird, sucht das ganze Dorf nach dem kleinen Ursli. Doch der ist gut im tief verschneiten Maiensäss angekommen und verbringt dort mit der großen Kuhglocke im Arm glücklich die Nacht. Als er am nächsten Tag stolz mit ihr zurück nach Hause kommt, sind alle erleichtert. Da der Ursli nun von allen Kindern die größte Glocke hat, darf er den Umzug als Schellen-Ursli anführen.