Nadine Ormo
Raus in die Natur also und alles wird gut?
Klaus Engelhardt
In gewisser Weise schon. Die Natur ist unser natürliches Habitat. Deshalb funktionieren hier auch Yoga, Achtsamkeits- oder Atemübungen besser. Wir bestehen zu 99,9 Prozent aus Steinzeitgenen und der Steinzeitmensch war die gesamte Zeit im Freien, in unverfälschter Natur; er hat sich jeden Tag zehn bis 40 Kilometer bewegt.
Vielleicht sollte heute der Anspruch einer artgerechten Haltung auch beim Menschen gelten: Also gesunde Ernährung im Sinne von: „regional, saisonal, bio“. Und Bewegung ohne Ende, möglichst viel draußen, um alle Jahreszeiten auch einfach rund um das eigene Zuhause bewusst zu erleben. Das In-Resonanz-Gehen und archaische Wohlfühlen, dort, wo wir hingehören, spricht stark unsere Emotionalität an. Und da sind wir bei der Körperlichkeit …
Nadine Ormo
Wenn wir über die heilende Wirkung der Berge reden, welche körperlichen Vorgänge meinen wir dann genau?
Klaus Engelhardt
Im Zentrum steht das Limbische System – die Region im Gehirn, die unsere Emotionen verarbeitet. Viele Menschen sind im Alltag emotional blockiert. Wir sind zu oft im Funktionsmodus unterwegs: Wir tun Dinge in der Regel nicht für uns selbst, die Dinge sollen möglichst schnell und unkompliziert funktionieren; wir stellen oft unsere eigenen Emotionen und Bedürfnisse zurück. Die unterdrückten Emotionen verschaffen sich anders Ausdruck, mitunter durch plötzliche und gravierende Erkrankungen.
Ein wesentlicher Punkt ist dabei: Durch die Aktivierung des Limbischen Systems werden emotionale Blockaden gelöst und Menschen bekommen wieder Zugang zu ihrer eigenen Emotionalität.
Die wichtigste gesundheitsfördernde Wirkung ist die Stimulation des Parasympathikus. Die findet schon in dem Moment statt, wo ich mich einfach in die Natur setze. Und der Effekt lässt sich enorm steigern, wenn man aktiv in die Interaktion mit dem Naturraum geht. Also durch Sport, am besten in entspannter, aerober Form. Ist man nur im anaeroben Modus unterwegs, hat man vielleicht eine Endorphinausschüttung erreicht, doch die gesundheitsfördernden Wirkungen durch die Stimulation des Parasympathikus sind nicht so ausgebildet. Moderater Ausdauersport, der durchaus auch mal in die Belastung geht, ist Parasympathikus-stimulierend, weil man nicht permanent in der vollen Belastung ist.
Nadine Ormo
Welche Aktivitäten am Berg empfehlen sich in diesem Zusammenhang besonders?
Klaus Engelhardt
Gemeint sind moderate Bewegungen wie beim Wandern oder durchaus auch beim Klettern. Auch Achtsamkeitsübungen oder Techniken wie Yoga … bei der Durchführung in der Natur potenziert sich der gesundheitsfördernde Effekt.
Zu den körperlichen Auswirkungen, die in Studien nachgewiesen wurden, gehören die Senkung der Stresshormone, die Senkung von Blutdruck und Puls, eine bessere Schlafqualität. Hinzu kommen psychische Effekte: Wandern wirkt sich beispielsweise nachweislich stimmungsaufhellend und angstmindernd aus; die Entscheidungsfähigkeit wird verbessert, das Selbstvertrauen erhöht.
Nadine Ormo
Was ist in Bezug auf solche Erlebnisse das Besondere an den Bergen? Darf’s auch „andere Natur“ als die Berge sein?
Klaus Engelhardt
Im Grunde kann es erst einmal jede unberührte, unverfälschte, ehrliche Natur sein. Auch die Wüste, das Meer, die Arktis. Wichtig ist, dass der Mensch in der Lage ist, mit dieser Art von Natur in Resonanz zu gehen. Die einen erleben tiefe Gefühle am Meer, andere in den Bergen. Das hängt auch damit zusammen wo ich aufgewachsen, wie ich sozialisiert bin.
Die Besonderheit der Berge ist für mich die besondere Symbolkraft. Berge sind auch so etwas wie Persönlichkeiten, sie haben ihren eigenen Charakter. Es geht soweit, dass sich vielleicht sogar einzelne Menschentypen bestimmten Bergen zuordnen lassen.
Und sicher nicht umsonst haben wir auch eine sprachliche Landschaft voller Berg-Metaphern. Denken wir nur an „eine Gratwanderung“, „es geht bergauf“, „in Abgründe blicken“, „ein Bergfest feiern“ …