Methoden wie die DAV-SnowCard könnten einen erheblichen Teil der Lawinenunfälle verhindern – Schätzungen zufolge 84 Prozent der Unfälle bei Verzicht auf riskante Hänge (orange bis rot in der SnowCard). Dennoch werden solche Hilfsmittel nur selten in der Praxis angewandt. Eine vielversprechende Unterstützung stellt die Web-App Skitourenguru dar, die mittlerweile im Winter rund 40.000 Routenanfragen pro Tag verzeichnet. Während die App anfangs vor allem in den Westalpen genutzt wurde, hat sie in den letzten Jahren auch in den Ostalpen zunehmend an Bedeutung gewonnen, da diese Region nun ebenfalls flächendeckend abgedeckt ist, zudem wird die Anwendung mittlerweile von DAV, ÖAV und AVS finanziell und ideell unterstützt. Doch wie zuverlässig können wir uns auf die Tourenplanung mit dem Skitourenguru (STG) verlassen?
Das wollten wir genauer wissen und führten eine kürzlich abgeschlossene Studie durch. Mit ihr wollten wir herauszufinden, inwieweit die Gelände- und Risikobeurteilung durch Expert*innen (Bergführer*innen), die für die DAV-Skitourenstudie (STS) 2019-2022 vorgenommen wurde, mit der Risikoeinschätzung des Skitourenguru-Algorithmus übereinstimmt, ob beide Verfahren dieselben Geländeabschnitte als potenziell gefährlich identifizieren und wie ähnlich sie diese hinsichtlich des Risikos bewerten. Konkret gingen wir folgenden Fragen nach:
Mit der 30°-Methode, die in vielen Planungstools und -strategien als Standard gilt, kann zuverlässig geprüft werden, wo das Gelände grundsätzlich lawinengefährlich sein könnte. Macht das der Skitourenguru genauso gut?
Umgekehrt „verbieten“ Verfahren wie die 30°-Methode oder die DAV-SnowCard durchaus auch befahrbare Hänge – insbesondere bei Lawinengefahrenstufe 3 – also erheblicher Lawinengefahr. Macht das der STG besser? Und nicht zuletzt:
Was muss ich bei der Nutzung des Skitourengurus vor Ort beachten, um potenzielle Schwächen der App aus der Planungsphase zu kompensieren und während der Tour fundierte Entscheidungen zu treffen?
Zur Veranschaulichung werden auch ausgewählte Fälle genauer betrachtet. Dadurch wird deutlich, wie wichtig es ist, Risikoeinschätzungen eines (digitalen) Tools zur Tourenauswahl und -planung nicht einfach zu übernehmen, sondern vor Ort zu überprüfen, ob als wenig riskant ausgewiesene Passagen tatsächlich wenig riskant sind und, umgekehrt, als riskant ausgewiesene Passagen tatsächlich gefährlich sind.
Was ist der Skitourenguru, wie funktioniert er, wozu wurde er gemacht?
Die Grundzüge und der Hintergrund von Skitourenguru (Entwicklerteam Günter Schmudlach et al.) wurden bereits in Panorama 1/2021 vorgestellt, weshalb wir uns auf die für unsere Analyse wichtigsten Punkte beschränken wollen.
Tiefergehende Beiträge zum Algorithmus und zur Aussagekraft der Lawinengefahrenstufen
Schmudlach, G. & Köhler, J. (2021): Algorithmen in der Lawinen-Risikobeurteilung. Algorithmen in der Lawinen-Risikobeurteilung - bergundsteigen.
Schmudlach, G. & Köhler, J. (2024): Die Gefahrenstufe: Teufelszeug oder Allheilmittel? Die Gefahrenstufe: Teufelszeug oder Allheilmittel? - bergundsteigen.
Im Disclaimer auf skitourenguru.com heißt es: Skitourenguru versteht sich als zusätzliches Hilfsmittel für die selbstständige und eigenverantwortliche Auswahl und Planung einer Skitour und die dafür vorzunehmende Bewertung des Lawinenrisikos. Dazu werden Tausenden Skitouren des Alpenraums täglich automatisiert und auf der Grundlage der aktuellen, lokalen Lawinenbulletins und der amtlichen Geländedaten, in Anwendung programmierter Ausführungsregeln, Lawinenrisiken zugewiesen: grün (niedriges Risiko), orange (erhöhtes Risiko) oder rot (hohes Risiko).
Im Gegensatz zu den „Schlüsselstellen“ des STG (Infobox 2) wird mit den „Geländestellen“ des STS-Modells (Infobox 1) versucht, alle potenziell lawinengefährlichen Stellen zu erfassen. Doch sollten trotz dieser konzeptionellen Unterschiede bei angespannter Lawinenlage im STG auch außerhalb der genannten Schlüsselstellen Bereiche mit erhöhtem Risiko ausgewiesen werden, und diese sollten innerhalb der Geländebereiche der STS liegen. Umgekehrt sollten Geländebereiche, die im STS-Modell nicht berücksichtigt wurden, im STG auch unter angespannten Bedingungen unkritisch bleiben.
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Die wichtigsten Fragen und Antworten
Nachdem die konzeptionellen Unterschiede zwischen den beiden Welten (Mensch vs. Maschine) geklärt sind, wollen wir uns die Ergebnisse der Risikobewertungen näher ansehen. Dazu versuchen wir im nächsten Teil, die eingangs gestellten Fragen zu beantworten.
Erfasst der STG alle potenziell lawinen-gefährlichen Geländestellen?
45 Prozent der potenziell lawinengefährlichen Geländestellen, die durch den ersten Filter (30°-Methode) der STS aufgedeckt werden, sind im STG als Schlüsselstellen markiert. Dabei werden besonders Auslaufbereiche vom STG deutlich seltener als Schlüsselstellen ausgewiesen (nur 29 Prozent). Entscheidend ist aber, dass der STG bei entsprechender Lawinensituation auch an lawinengefährlichen Routenpassagen außerhalb der Schlüsselstellen ein erhöhtes Risiko ausgibt. Grundsätzlich zeigte sich hier eine hohe Übereinstimmung zwischen den Risikoeinschätzungen von STS und STG. Wir fanden keine Unterschiede in den Übereinstimmungen der Risikoeinschätzungen für Auslaufbereiche versus direkte Geländestellen und auch nicht für Gleit- und Nassschnee versus trockene Schneebrettlawinen. Für ein Planungstool ist es jedoch zentral, dass es keine riskanten Geländestellen übersieht. Hierzu untersuchten wir, ob STG ein erhöhtes Risiko (orange, rot) an den 44 Stellen anzeigt, die seitens der Risikoanalyse der STS als deutliche Gefahrenstellen eingestuft waren. Bei acht dieser Stellen gab STG ein „niedriges“ Risiko (grün) an – eine dieser Stellen beschreiben wir unten. Unterm Strich: Unsere Untersuchungen legen nahe, dass bei einer Tourenplanung mit dem STG Gefahrenstellen nicht systematisch übersehen werden. Das Risiko wird auch bei Auslaufbereichen sowie Stellen mit Gleit- oder Nassschneeproblem nicht unterschätzt.
Bewertet der STG im Vergleich zur DAV-SnowCard mehr Hänge als machbar?
Anhand von 565 Gefahrenstellen wurde geprüft, welche Methode risikobewusste, aber realistische Entscheidungen zulässt. Der Vergleich mit der STS-Bewertung als Benchmark zeigte: Der STG stufte signifikant mehr Hänge als machbar ein als die eher restriktive DAV-SnowCard – besonders bei Lawinengefahrenstufe 3. Damit bietet der STG in vielen Fällen eine differenziertere und dennoch verantwortbare Einschätzung.
STS-Modell (Infobox 1)
Methodik DAV-Skitourenstudie
In der DAV-Skitourenstudie (2019-2022) wurde eine Methode angewendet, die der im DAV gelehrten Vorgehensweise sehr ähnlich ist.
Beschreibung der Datensätze der Skitourenstudie:
In zwei Tiroler Regionen (Kelchsau und Namlos) wurden systematisch 190 potenziell lawinengefährliche Geländestellen erfasst und analysiert. Dabei kam die „30°-Methode“ zur Identifikation steiler Hänge und Auslaufbereiche zum Einsatz. An neun Erhebungstagen bewerteten geschulte Fachleute diese Stellen mithilfe der DAV-SnowCard und weiterer Gelände- und Schneeinformationen. Das Ergebnis war eine je vierstufige Einschätzung der Lawinenauslösewahrscheinlichkeit sowie der potenziellen Konsequenzen eines Lawinenabgangs sowie die Festlegung auf eine Verhaltensempfehlung (von „in Gruppe passierbar“ bis „Verzicht“).
STG-Modell (Infobox 2)
Tagesaktuelles Risiko und Schlüsselstellen im Skitourenguru
STG bezieht zur Bewertung von Routenabschnitten folgende Aspekte ein: die maximale Hangsteilheit, die Lawinengefahrenstufe, den Abstand der Höhe zur Höhengrenze der Kernzone sowie den Grad der Überlappung der Stelle mit den Expositionen der Kernzone. Das Risiko wird täglich neu berechnet und farblich dargestellt (grün bis rot) – die Infos stammen aus dem amtlichen Lawinenlagebericht.
Zusätzlich markiert STG Schlüsselstellen im Gelände (Klasse 1-3; 1 bis 3 graue Ringe: „Lawinengelände; typisches bzw. sehr typisches Lawinengelände“), die unabhängig von der aktuellen Lawinensituation ermittelt werden. Da eine Lawinengefährdung situativ auch an „grünen“ Routenabschnitten nicht ausgeschlossen werden kann, sollten besonders bei niedrigen Lawinengefahrenstufen (1 und 2) auch Schlüsselstellen zusätzlich überprüft werden.
Welche Vor-Ort-Beobachtungen ergänzen den STG sinnvollerweise?
Da der STG keine situativen Geländeinfos verarbeiten kann, wurde untersucht, welche Beobachtungen aus der Praxis seine Einschätzungen sinnvoll ergänzen. Während in der STS der Grad der Verspurtheit nur unzureichend dokumentiert war, zeigte die Bewertung des Lawinenproblems einen klaren Zusammenhang: Je akuter das Problem laut Expert*innen (STS), desto größer war die Abweichung zur STG-Einschätzung. Der STG tendierte dazu, akute Situationen zu unterschätzen. Bei geringem oder als nicht vorhanden eingeschätztem Lawinenproblem vonseiten der Expert*innen hingegen stimmten STG und STS stärker überein. Im Folgenden zeigen wir anhand von zwei konkreten Beispielen weit auseinandergehende Bewertungen und weshalb wir der Einschätzung des STG nicht blind trauen sollten – in beide Richtungen.
Beispiel: STG-Risiko gering, STS-Risiko hoch (Abb. 1, 2)
Zuerst betrachten wir eine Stelle, für die nach STS-Experteneinschätzung die Lawinenwahrscheinlichkeit hoch ist, der Risikowert nach STG aber niedrig. Es handelt sich um den kurzen Steilhang (30-34,9°, Hangdimension 35 Höhenmeter) im Gipfelhang des Tschachaun (2334 m), einem südöstlich exponierten Grashang in Höhe von ca. 2300 Metern. An diesem Tag ist im Lawinenlagebericht oberhalb der Waldgrenze Gefahrenstufe 3 ausgegeben. Es liegt ein Triebschneeproblem vor (s. Lawinen.report).
Der Experte der STS stuft die Lawinenauslösewahrscheinlichkeit auf mittel (3 von 4) ein, die Konsequenz eines Lawinenabgangs auf mittel (2 von 4) ein und gibt „einzeln gehen“ als Verhaltensempfehlung. Vermutung unsererseits: Der geringe STG-Risikowert entsteht möglicherweise aufgrund der Steilheit bis max. 35° und der Tatsache, dass die Hangexposition nicht in der Kernzone liegt; für Fachleute mag eine Rolle gespielt haben, dass Triebschnee durchaus in diesen kammnahen Hang eingeweht worden sein könnte, auch wenn er nicht in der Kernzone liegt.
Beispiel: STG-Risiko hoch, STS-Risiko gering (Abb. 3, 4)
Es handelt sich um einen Auslaufbereich eines (nord-)westseitigen Einzugsgebiets mit einer oberen Hanghöhe von 2200 Metern, einer Hangdimension von 250 Metern, einer Steilheit von 40°+, im Anrissbereich ist der Hang teilweise felsdurchsetzt. Grundsätzlich ist der ganze Talgrund von der großen Flanke bedroht (siehe Foto; der gesamte abgebildete Hang stellt das Einzugsgebiet dar). Es herrscht Lawinengefahrenstufe 3 mit einem Neuschneeproblem oberhalb der Waldgrenze, einem Gleitschneeproblem unterhalb von 2400 Metern und der Möglichkeit von Nassschneerutschen im Tagesverlauf (s. Lawinen.report). Das Expertenteam sieht das Neuschneeproblem nicht mehr als deutlich vorliegend, sondern kann eine Setzung der Schneedecke beobachten. Damit geht es davon aus, dass eine Selbstauslösung des Neuschnees nicht mehr zu erwarten ist. Der Einzugsbereich liegt in Bezug auf das Gleitschneeproblem nicht in der Kernzone, der Untergrund des Einzugsbereichs spricht gegen Gleitschneebedingungen. Durchfeuchtung und Lockerschneelawinen seien erst später am Tag zu erwarten, eine Passage des Auslaufbereichs im Gruppenverband ist demnach vertretbar. Aufgrund der ganztägig ausgegebenen Gefahrenstufe 3 kommt der Skitourenguru auf ein verhältnismäßig hohes Auslösungsrisiko.
Schlussfolgerungen
Der Skitourenguru ist ein leistungsfähiges, praxistaugliches und benutzerfreundliches Tool, das im Vergleich zu etablierten Werkzeugen wie der DAV-SnowCard die Tourenauswahl einfacher macht und größere Spielräume für die Tourenplanung bietet. Anhand des Vergleichs mit dem Datensatz der Skitourenstudie kommt die DAV-Sicherheitsforschung zum Schluss, dass der STG keine systematischen Schwächen bei der Risikoeinschätzung von Routenpassagen je nach Gelände und Lawinensituation hat. Doch wie bei anderen Tools auch ist bei Nutzung des STG unerlässlich, Vor-Ort-Informationen zu registrieren und das Vorhandensein von Gefahrenzeichen aktiv und kontinuierlich zu überprüfen: Liegt das Triebschneeproblem, das zum erhöhten Risiko des STG führte, an einer Stelle wirklich vor? Und umgekehrt: Habe ich Gefahrenzeichen, die mich zwingen, ein niedriges Risiko nach STG zu hinterfragen? Das digitale Tool und Beobachten vor Ort können sich hier wechselseitig befruchten: Der STG kann als optische Übersetzung des Lawinenlageberichts ins Gelände betrachtet werden. So kann an Stellen mit erhöhtem Risiko überlegt werden, welche Aspekte des Lawinenlageberichts hier den Ausschlag gegeben haben. Mit der Funktion „Route zeichnen“ kann ein Gefühl entwickelt werden für Gelände- und Spurwahl und deren Bedeutung für Lawinenrisiken. Der STG ersetzt (noch) nicht die Beobachtungs-, Interpretations- und Entscheidungskompetenz der Nutzer*innen vor Ort. Mittelfristig hat der STG das Potenzial, sich als Standardinstrument (unter mehreren?) für die Tourenauswahl und Skitourenplanung zu etablieren – vorausgesetzt, Anwender*innen UND Multiplikator*innen lernen, mit dem Algorithmus umzugehen und ihm grundsätzlich zu trauen. Einem Autonavi sollte man jedoch auch nicht blind trauen, sondern den eigenen Verstand gebrauchen, wenn die Straße immer enger und enger wird und in einen Gehweg mündet!