Skitourengeher zeigt auf einen verschneiten Berghang.
Geländecheck im Aufstieg: Einschätzung von Hangneigung und Lawinenpotenzial. Foto: DAV / Moritz Sonntag
Interview mit DAV-Experte Markus Fleischmann

Skitourenguru im Realitätscheck: Chancen, Grenzen und Anwendung

Skitourenguru gilt als eines der spannendsten digitalen Tools für die Lawinen- und Tourenplanung. Es wertet eine Vielzahl an Geo- und Lawinendaten aus und hilft so, risikoarme Skitouren zu finden. Wir haben mit Markus Fleischmann gesprochen – Lawinenexperte, staatlich geprüfter Berg- und Skiführer und Ausbildungsleiter für alpinen Bergsport beim DAV – darüber, was das Tool kann, wo seine Grenzen liegen und wie man es sinnvoll in die Praxis einbindet.

Deutscher Alpenverein. DAV

Markus, der Winter steht vor der Tür – steigt bei dir auch die Vorfreude auf die Skitourensaison?

Markus Fleischmann Markus

Auf jeden Fall. Eigentlich ist das jedes Jahr so. Ich glaube, das geht vielen Skifahrern und Skibergsteigern so: Am Ende des Sommers freut man sich auf den Winter und kann es kaum erwarten, bis es losgeht.

Konkrete Tourenpläne mache ich mir aber eher flexibel. Als Bergführer und Ausbilder habe ich einige fixe Termine, aber daneben lasse ich mich gern von den Verhältnissen überraschen.

Markus Fleischmann beim Aufstieg im verschneiten Hochgebirge. Foto: DAV / Moritz Sonntag
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Wir wollen heute über Skitourenguru sprechen. Ich bin da noch keine Spezialistin: Was genau ist Skitourenguru?

Markus Fleischmann Markus

Skitourenguru ist ein Online-Planungstool, eine Tourenplanungs-Plattform. Sie hat sich in den letzten Jahren stark weiterentwickelt und im Alpenraum etabliert – als Hilfsmittel, um risikoarme Skitouren oder allgemein Touren im winterlichen Gelände zu finden.
Die Plattform verarbeitet dabei verschiedene Datensätze und stellt sie so dar, dass man sehr schnell einen Eindruck vom Lawinenrisiko einer Tour bekommt.

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Welche Daten werden für diese Einschätzung verwendet?

Markus Fleischmann Markus

Zum einen fließen Daten aus den Lawinenlageberichten ein – also eher allgemeine Parameter wie Gefahrenstufe und Lawinenkernzonen.

Zum anderen nutzt Skitourenguru sehr detaillierte Informationen zum lawinenrelevanten Gelände: Steilheiten, Hangexposition, Geländeform, typische Anrissbereiche, Auslaufbereiche und so weiter. Dafür gibt es inzwischen berechnete Lawinenrisikokarten, die in der Plattform hinterlegt sind.

Zur Berechnung wird ein Algorithmus verwendet, der sogenannte SLABS-Algorithmus. Da fließen zum Beispiel Hangneigung, Exposition, Geländeform, Bodenbeschaffenheit, ob der Hang bewaldet oder frei ist und weitere Parameter ein. Aus all dem ergibt sich dann eine Risikoeinschätzung.

Skitourenguru berechnet für jede Route einen sogenannten Risiko-Indikator in 3 Farben: Rot-Orange-Grün. Foto: Skitourenguru
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Neben den Farben gibt es ja auch Zahlen. Was genau bedeuten die?

Markus Fleischmann Markus

Die Farbstufen kategorisieren einen Risikograd in 3 Stufen:

  • Grün (<1): geringes Risiko im Vergleich zu dem, was draußen typischerweise passiert.
  • Orange (1-2): erhöhtes Risiko – man muss mit Gefahrenstellen rechnen und braucht die Kompetenz, diese im Gelände zu erkennen und zu beurteilen.
  • Rot (>2): hohes Risiko – das sind in der Regel sehr steile, anspruchsvolle Touren, die unter den aktuellen Verhältnissen sehr wahrscheinlich problembehaftet sind.

Für Einsteigerinnen und Einsteiger oder wenig Erfahrene steckt dahinter die klare Empfehlung, orange Touren eher zu meiden und bei rot sehr zurückhaltend zu sein.

Detailansicht einer Tour mit Markierung der Schlüsselstellen. Foto: Skitourenguru
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Wie verhält sich diese Risikobewertung zur Gefahrenstufe aus dem Lawinenlagebericht?

Markus Fleischmann Markus

Das sind zwei unterschiedliche Dinge – man vergleicht da sonst Äpfel mit Birnen.

  • Die Gefahrenstufe aus dem Lawinenlagebericht beschreibt die Lawinengefahr in einem ganzen Gebiet. Da fließt die Auslösewahrscheinlichkeit ein, die Häufigkeit von Gefahrenstellen, die mögliche Lawinengröße – also eine durchschnittliche, regionale Angabe.
  • Die Risikobewertung von Skitourenguru bezieht sich auf eine konkrete Tour oder sogar einzelne Geländesegmente.

Das Risiko für mich als Person ergibt sich erst daraus, wie lange ich mich welcher Gefahr aussetze und welche Konsequenzen ein Lawinenabgang hätte. Ob ich nur kurz eine kritische Stelle quere oder den ganzen Tag in steilen Hängen unterwegs bin, macht einen riesigen Unterschied. Ebenso, ob ich „nur“ verschüttet werden kann oder ob eine Lawine mich über Felsbänder spülen würde.

Solche Konsequenzen tauchen in der Gefahrenstufe nicht auf, in der individuellen Risikoabschätzung aber schon – und da ist Skitourenguru sehr hilfreich.

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Wo stoßen die Möglichkeiten des Tools an ihre Grenzen?

Markus Fleischmann Markus

Wenn man die Lawinenlageberichte genauer ansieht, merkt man schnell: Sie sind europaweit noch nicht so standardisiert, dass alle Informationen einheitlich und maschinenlesbar vorliegen. Das ist ein Schnittstellenproblem.

Skitourenguru kann zum Beispiel die Gefahrenstufe und die Kernzonen gut verarbeiten. Was aktuell noch nicht in dem Umfang funktioniert, ist die differenzierte Zuordnung der Lawinenprobleme – also zum Beispiel, ob die Gefahrenstufe 3 oberhalb der Waldgrenze auf ein Triebschneeproblem oder auf ein Altschneeproblem zurückgeht.

Das kann ein Mensch beim Lesen des Lageberichts relativ gut herauslesen, das Tool aber noch nicht. Das heißt: Skitourenguru ist eine wertvolle, grobe Hilfe – ersetzt aber nicht das Mitdenken und das Verständnis des Lawinenlageberichts.

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Wie kann ich diese Lücke in meiner Tourenplanung überbrücken?

Markus Fleischmann Markus

Indem ich die Ausgabe von Skitourenguru bewusst mit dem Lagebericht verknüpfe:
Ich schaue mir die Gefahrenstellen im Tool an – Höhenlage, Exposition – und vergleiche das mit den Beschreibungen im Lagebericht. So kann ich zum Beispiel erkennen:
In dieser Höhenlage unten haben wir eher ein Nassschneeproblem, weiter oben an einer anderen Stelle ein Triebschneeproblem.
Aber dafür muss ich den Lawinenlagebericht eben verstehen und aktiv einbeziehen.

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Besteht die Gefahr, dass man sich weniger mit dem Lawinenlagebericht beschäftigt, weil Skitourenguru eine klare Ampel liefert?

Markus Fleischmann Markus

Das sehe ich eher nicht. Wer sich an die Empfehlung hält und nur bei grün unterwegs ist, baut einen sehr großen Sicherheitspuffer ein. Genau das wünschen wir uns: eine defensive, risikobewusste Herangehensweise.
Problematisch ist eher die andere Einstellung: zu glauben, man könne es „besser als das Tool“ und sich solche Überlegungen gar nicht zu machen. Dann ist man schnell im orangen oder roten Bereich unterwegs, ohne sich des Risikos bewusst zu sein – und übersieht möglicherweise Gefahrenstellen aus Unwissen oder mangels Information.

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Gibt es Erfahrungsberichte oder Untersuchungen dazu, ob Skitourenguru eher defensiv bewertet?

Markus Fleischmann Markus

Ja, unsere Kolleginnen und Kollegen von der DAV-Sicherheitsforschung haben Skitourenguru mit bisherigen probabilistischen Methoden wie der Snowcard verglichen. Ergebnis: Skitourenguru ist auf keinen Fall schlechter – im Gegenteil, das reale Risiko wird wahrscheinlich sogar besser erfasst. Qualitative Einbußen gibt es jedenfalls nicht.

Deutscher Alpenverein. DAV

Nehmen wir ein praktisches Beispiel: Es ist Freitagabend, ich möchte am Samstag eine Skitour machen. Wie nutze ich Skitourenguru in der Planung?

Markus Fleischmann Markus

Wichtig ist zunächst, dass die Lawinenlageberichte für den Samstag vorliegen – und da hat Skitourenguru einen großen Vorteil: Die Lageberichte erscheinen europaweit einheitlich um 17 Uhr. Ab diesem Zeitpunkt ist die Risikoanalyse für den Folgetag im Tool verfügbar.

Dann kann ich so vorgehen:

  1. Region wählen und Überblick verschaffen: Welche Touren kommen grundsätzlich in Frage?
  2. Eine Tour auswählen und im Detail ansehen: Höhenmeter, Länge, voraussichtliche Gehzeit – und vor allem: Welche Gefahrenstellen gibt es, wie bewertet Skitourenguru diese?
  3. Daten mitnehmen: Ich kann die Tour als GPX-Datei exportieren und auf Handy oder Uhr laden oder mir eine Karte mit der farbigen Risikoanalyse als PDF ausdrucken.

Mit diesen Informationen gehe ich dann ins Gelände.

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Würdest du empfehlen, die Schlüsselstellen auf der Karte zu markieren?

Markus Fleischmann Markus

Auf jeden Fall. Ganz unabhängig von Skitourenguru ist es wichtig, einen Überblick über mögliche Gefahrenstellen zu haben. In unseren Trainer*innen-Ausbildungen üben wir das viele Tage lang.
Wer das regelmäßig macht, entwickelt eine Art „Mental Map“: Man hat die kritischen Punkte nicht nur auf Papier, sondern auch im Kopf mit dabei.

Vorbereitung trifft Technik beim Skitourengehen: digitale Tools können bei der Tourenplanung unterstützen. Foto: DAV/Klaus Listl
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Bezieht sich die Risikobewertung nur auf den Aufstieg oder auch auf die Abfahrt?

Markus Fleischmann Markus

Für beides. Sie gilt für jedes Begehen und Befahren von Hängen – im Aufstieg genauso wie in der Abfahrt.

Gerade bei Abfahrtsvarianten ist Skitourenguru interessant: Ich kann mir schneller einen Überblick über verschiedene Optionen verschaffen und schauen, wie das Risiko laut Planung aussieht. Eigene Routen lassen sich planen, Tracks hochladen oder per Klick auf der Karte zeichnen und bewerten – entweder mit aktuellen Lawineninformationen oder auch mit einem fiktiven Lagebericht, wenn ich Szenarien im Voraus durchspielen möchte.

Deutscher Alpenverein. DAV

Und was ist mit der zeitlichen Entwicklung der Lawinengefahr?

Markus Fleischmann Markus

Das ist wichtig. Es gibt Tage, an denen sich die Gefahr im Tagesverlauf deutlich ändert – etwa durch Temperaturanstieg oder weiteren Niederschlag. Dann kann es sein, dass die Gefahrenstufe nachmittags höher ist als vormittags.

Wenn diese Entwicklung im Lawinenlagebericht schon am Vortag um 17 Uhr prognostiziert wird, kann Skitourenguru sie berücksichtigen. Wenn nicht, bezieht sich die Analyse auf die Vormittagssituation – das muss ich bei der Planung im Hinterkopf behalten.

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Kann ich meine eigene Tour in Skitourenguru hinterlegen, sodass andere sie sehen?

Markus Fleischmann Markus

Du kannst deine Route für dich planen und bewerten lassen, aber du kannst sie nicht als öffentlich empfohlene „Standardroute“ einstellen. Das bleibt dem Portal und seinen Partnern vorbehalten.

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Warum ist Skitourenguru aus Sicht des DAV und anderer Alpenvereine so spannend?

Markus Fleischmann Markus

Wir sehen seit vielen Jahren, dass viele Menschen – im Winter wie im Sommer – mit zu wenig Risikobewusstsein und Planung in den Tag starten. Ob auf Skitour oder beim Bergwandern: Immer wieder werden Menschen von den Verhältnissen überrascht.

Jedes Hilfsmittel, das die Planung vereinfacht und Menschen motiviert, sich damit zu beschäftigen, ist aus unserer Sicht wertvoll. Wir sehen auch: Digitale Tools wie „Alpenvereinaktiv“ werden in großem Umfang genutzt. Analoge Hilfsmittel wie die Snowcard gibt es seit Jahrzehnten, aber in die tatsächliche Anwendung kommen sie schwerer.

Skitourenguru schlägt da eine Brücke: Es verbindet moderne Technik mit bewährten Prinzipien der Risikobeurteilung.

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Auf der Skitourenguru-Website werden verschiedene Partner genannt, darunter auch der DAV. Inwiefern ist der DAV eingebunden?

Markus Fleischmann Markus

Wir unterstützen das Projekt inhaltlich und finanziell. Der DAV bezuschusst Skitourenguru, so wie andere Alpenvereine auch, durch direkte Geldleistungen.
Außerdem stellen wir Routen zur Verfügung. Gerade in den Ostalpen ging es darum, überhaupt genug GPS-Tracks ins Portal zu bringen. Da konnten die Alpenvereine auf einen guten Grundstock an Touren zurückgreifen und zusätzliche Mittel bereitstellen, um weitere Touren zu digitalisieren und in Skitourenguru zu integrieren.

Deutscher Alpenverein. DAV

Zum Abschluss deine persönliche Einschätzung: Wohin sollte sich das Risikomanagement beim Skitourengehen entwickeln?

Markus Fleischmann Markus

Die grundsätzliche Richtung ist klar: Wir brauchen ein strukturiertes Vorgehen, systematische Entscheidungen und klare Abläufe. Es gibt verschiedene Tools – Skitourenguru ist eines davon –, aber auch Hilfsmittel für Schneedeckentests, zur Analyse von Lawinenproblemen und so weiter. Da sind wir inhaltlich schon recht weit.

Mein Wunsch betrifft eher die Methodik und die Vermittlung: Viele tun sich mit der komplexen Materie zu Beginn schwer – Tourenplanung, Verhältnisse, Lawinengefahr, Risikomanagement. Draußen wirken Entscheidungen schnell „intuitiv“, wenn man nicht transparent macht, was dahinter steckt.

Ich fände es wichtig, dass wir Expert*innen nicht als „Allwissende“ darstellen, die alles aus dem Bauch heraus entscheiden, sondern unseren Teilnehmenden gutes Werkzeug an die Hand geben, um Schritt für Schritt zu lernen. Bislang arbeiten wir viel mit analogen Hilfen – Flyern, Handouts.

Eine konsequente Weiterentwicklung wäre eine App, die mich auch im Gelände beim Bewerten unterstützt: von einfachen Faustregeln über das, was ich in der Schneedecke sehe, bis hin zu Schneedeckentests. Das wäre ein großer Schritt hin zu praxisnaher, digital unterstützter Ausbildung im Lawinenrisikomanagement.