Im Alpinismus konnte man schon immer zwei unterschiedliche Grundmotivationen wahrnehmen. Es gibt jene, die sich stets durch die höchsten Gipfel einer Region herausgefordert sehen und sich über Leistung definieren. Und auf der anderen Seite gibt es immer auch jene, die vor allem den Naturgenuss, das Langsamsein, das Fernsein von der urbanen Welt suchen. Zwei Fraktionen also, die sich stets auch unter den DAV-Mitgliedern finden lassen. Markus Stumpe von der DAV-Sektion Kaufbeuren-Gablonz im Allgäu hat nun versucht, die Tradition des Genusswanderns mit Nachhaltigkeit zu verbinden. Unter Nachhaltigkeit sei hier verstanden: ausschließliche Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln, eher nah als fern schweifen, abseitige Routen finden, in die Logistik auch Selbstversorgerhütten einbauen, ausdrücklich keinen Gipfel erklimmen (es geht stattdessen vor allem über Joche), überhaupt Einfachheit statt Fülle. Und er hat dafür eine fünftägige Tour konzipiert, die den ersten Abschnitt des von ihm ersonnenen „Lech-Joch-Wegs“ von Deutschland nach Österreich umfasst.
Zwischen Königsschlössern und Römerwegen
Die Wanderung startet folgerichtig an einem Bahnhof, genauer gesagt am Bahnhof von Kaufbeuren, einer kreisfreien Stadt im Ostallgäu. Dort finden sich die sechs Sektionsmitglieder zusammen, um ins rund vierzig Kilometer weiter südlich gelegene Füssen zu reisen, wo es dann in die Höhe gehen soll. Also ohne Auto. Jetzt mag beispielsweise ein Hamburger Sektionsmitglied trefflich einwerfen, dass man es im Allgäu natürlich einfach hat, das mit der flotten Reise ins Zielgebiet. Diese Kritik ist nicht unberechtigt, aber zumindest möglich ist die Öffi-Anreise aus Hamburg auch: Der ICE fährt mehrfach am Tag von der Alster nach Augsburg, von wo es problemlos über Kaufbeuren nach Füssen geht. Der erste Tag führt nach der Ankunft am Füssener Bahnhof auf eher ruhigen Wegen auf die Fritz-Putz-Hütte, eine Selbstversorgerhütte in der Bleckenau oberhalb von Schwangau und Füssen. Vielen ist die Bedeutung des Königswinkels im südlichen Ostallgäu wohlbekannt. Millionen von Menschen besuchen jedes Jahr die Königsschlösser Neuschwanstein und Hohenschwangau unterhalb ebenjener Bleckenau.
Zunächst beschreitet die Gruppe jedoch den Einstieg zu einem Teil der bereits vor rund zweitausend Jahren durch die Römer angelegten Via Augusta kurz hinter der Landesgrenze Tirols. Ein Weg, zweitausend Jahre alt? Irgendwie eine irre Vorstellung.
Wir ziehen am idyllischen Lechufer entlang, gewinnen an Höhe und kommen an einem Schacht vorbei. Er ist Zeugnis dessen, was über Jahrhunderte in dieser Bergregion beheimatet war: nicht nur Almwirtschaft, auch der Abbau von Eisenerz in Stollen in der Höhe. Das dann heruntertransportiert werden musste. Es wird eine entsetzliche Plackerei gewesen sein, mit hoher Verletzungsgefahr und einem plötzlichen Unfalltod, der stets lauerte. Der weitere Weg führt für eine Weile wieder über deutschen Boden in Sichtweite der weltberühmten Königsschlösser. Unüberhörbar sind dabei die Touristenmassen aus den USA, China, aus Japan, immerwährend von den beiden Bauwerken angezogen. Wir schreiten ebenfalls in Steinwurfnähe am Schloss Neuschwanstein vorbei – sind dabei auf unserem Weg aber weitgehend allein. Abseitig, kaum bekannt, dennoch ein offizieller Weg. Nichts wird also kaputtgetrampelt, kein Schritt findet statt, wo der Mensch besser nichts zu suchen hätte.
Selbstversorgung auf der Fritz-Putz-Hütte
Und irgendwann tut sich dann das Hochtal der Bleckenau auf, das in enger Verbindung mit der Geschichte des bayerischen Königshauses steht. Vor rund 150 Jahren war hier Marie von Preußen unterwegs, eine gebürtige Berlinerin. Sie wird bis heute manchmal auch die „erste bayerische Bergsteigerin“ genannt. Sie hatte mit sechzehn den damals dreißigjährigen Maximilian II. geheiratet, der später bayerischer König wurde. Sie wurde überdies die Mutter des weltberühmten Märchenkönigs Ludwig II., der das schon genannte Schloss Neuschwanstein errichten ließ, und sie war eine begeisterte Liebhaberin der Berge. Im Sommer wohnhaft im Schloss Hohenschwangau unweit von Füssen, brauchte sie von dort über die Bleckenau auf den 2047 Meter hohen Säuling, den Hausberg Schwangaus, dreieinhalb Stunden. Keine schlechte Zeit. Das war damals für eine Königin sicher ein eher ungewöhnliches Verhalten. Sie ließ sich sogar extra Kleidung für das Bergwandern anfertigen.
Die von der Sektion Füssen betriebene Fritz-Putz-Hütte in der Bleckenau auf 1185 Metern Höhe ist zwar eine Selbstversorgerhütte, doch als solche reichlich komfortabel. Sie dient uns als Unterkunft für die erste Nacht. Jüngst erst für 300.000 Euro renoviert, sauber, modern – und dank des rührigen Hüttenteams, das oft nach dem Rechten sieht, mit einem umfangreichen Getränkeangebot ausgestattet, so dass das Feierabendbier am ersten Abend kein Problem darstellt. Am nächsten Morgen darf man die Stube ausfegen, aber das passt ja in das Konzept der Einfachheit, das der Haltung dieser Tour entsprechen soll.
Zu Fuß, Bus und Schiff
Gemütliche sechshundert Höhenmeter geht es dann hinauf aufs Kuhkarjoch, kaum jemand begegnet uns. Anschließend geht es gleich wieder hinab zu einer Haltestelle, die sich direkt neben dem Hotel Ammerwald befindet, um mit dem Bus zum herrlichen Plansee zu fahren. Wer diesen knapp drei Quadratkilometer großen, zweitgrößten natürlichen See Tirols nicht kennt: Umgeben von beeindruckender Bergwelt und weitläufigen Nadelholzwäldern, bekommt man an manchen Stellen des Sees das Gefühl, irgendwo in Kanada zu sein. Es gibt einsame Stellen – und dann wieder steigt man aus dem Bus und befindet sich im Strandbad Plansee mit Hunderten von anderen Menschen, die an diesem heißen Tag ebenfalls Abkühlung in dem Gewässer suchen. Der Sprung ins Wasser sei ausdrücklich empfohlen.
Mit Öffis geht es dann gleich weiter, doch diesmal zu Wasser: Regelmäßig verkehren Boote auf dem See und wir genießen eine selige Stunde des Fahrens bis ans westliche Ende des Heiterwanger Sees, der sich direkt an den Plansee anschließt. Der Kontrast an diesem Tag ist erheblich. Während auf dem Kuhkarjoch kaum Menschen anzutreffen waren, ist unten am See die Hölle los. Zeit, zu verschwinden. Wieder geht es mit dem Bus weiter, wieder an Höhe gewinnend, zum Gasthaus Bergblick in den Berwanger Ortsteil Brand (hier leben lediglich 48 Menschen) auf 1350 Metern Höhe mit sehr sympathischen Wirtsleuten und einer herrlichen Aussichtsterrasse samt Blick in die mächtige Heiterwand im milden Licht der Abendsonne. Die imposante Wand soll das Ziel des nächsten Tages sein. Die Haltestelle am Gasthaus ist übrigens die Endhaltestelle der Busverbindung, danach geht es definitiv nicht mehr weiter. Gibt es im Gasthaus Bergblick noch Bewirtung, natürlich fließend Wasser und Duschen, so wird der nächste Tag deutlich rustikaler.
Einfachheit auf der Heiterwandhütte
Der Weg führt zur Tarrenton Alm auf 1500 Metern, die idyllisch in dem Hochtal liegt. Schon von Weitem kann man die Rauchspuren des Holzofens ausmachen und auf der Hütte wartet nettes Geplauder mit einem jungen Hirten mit Tiroler Hut, der einem Klischeefilm entsprungen sein könnte, sowie dem Alm-Betreiber, auch wenn der Tiroler Dialekt für die Wandergruppe aus Deutschland ein aufmerksames Ohr erfordert. Doch bei einem Glas herrlicher Buttermilch versteht man sich bestens. Und der Wirt schenkt uns sogar noch Butter und Zwiebeln, die später noch mit eigenhändig gesammelten Schwammerln zum Einsatz kommen sollen. Es geht sodann hinauf zur auf 2017 Metern gelegenen Heiterwandhütte, die von der Sektion Oberer Neckar mit Sitz in Rottweil betrieben wird. Im Vergleich zur Fritz-Putz-Hütte in der Bleckenau erhält das Wort Selbstversorgung auf der Heiterwandhütte noch einmal eine weitergehende Bedeutung. Es gibt kein fließendes Wasser, es muss aus einer Quelle vorm Haus geholt und auf dem Herd des Holzofens abgekocht werden, dessen Feuer man zunächst entfachen darf. Am frühen Abend schlägt das Wetter um, es donnert, es regnet, Schafe schauen zum Fenster herein, zum Essen gibt es unter anderem die gesammelten Pilze. Anschließend wird gewürfelt und es geht früh ins Lager, das mit Fug und Recht als spartanisch bezeichnet werden kann.
Die Sektion Oberer Neckar betreibt neben der Heiterwandhütte auch noch die Anhalter Hütte, die das Dach für die kommende vierte und letzte Nacht bereitstellen soll. Der Marsch dorthin erweist sich wegen des matschigen Bodens zwar als etwas mühsam, aber machbar. Vorbei geht es an Ziegen, Schafen, Murmeltieren. Und dann kommt uns noch ein Trupp Jäger entgegen. Auf die wenig einfallsreiche Frage, was die Herren denn so schießen wollen, gibt es umgehend die Antwort: „Bären. Bären … und Wölfe“ – ausdrücklich mit freundlichem, routiniertem Sarkasmus. Nun ja, dazu muss man sagen: Bären wurden in diesem Teil Tirols tatsächlich schon registriert. Zu sehen bekommen haben wir den scheuen Meister Petz freilich nicht.
Zum Abschluss: Einblick in die Hüttentechnik
Die Anhalter Hütte auf 2038 Metern kommt so ganz anders daher als ihre Sektionsschwester, die Heiterwandhütte. Sie ist umfangreich renoviert und 2021 wiedereröffnet worden, topmodern, bietet Essen auf Restaurantniveau und kann sich auch energietechnisch sehen lassen. Hüttenwirt Sebastian Wolf hat erst am Vortag das Umweltgütesiegel des Deutschen Alpenvereins in Empfang genommen. Und der studierte Prozessoptimierer zeigt stolz seine Haustechnik samt Batterien, PV-Anlage und Blockheizkraftwerk. Zur Hütte führt keine Straße und auch keine Materialseilbahn, weshalb sie zu Saisonbeginn einmal mit einem Hubschrauber versorgt wird. Doch der Flug, so Hüttenwirt Sebastian Wolf, dauert nur wenige Minuten – die Ökobilanz kann sich daher trotzdem sehen lassen, wie er meint.
Der nächste Tag ist nach dem Abstieg auf die Passstraße des Hahntennjochs eine leichte Übung. Denn oben auf dem Joch auf fast zweitausend Metern Höhe befindet sich tatsächlich eine überdachte Bushaltestelle. Sogar mit einer Toilette. Und der Bus bringt uns über Elmen und Reutte nach Füssen, von wo aus der Zug zurück nach Kaufbeuren geht. Wer Wert auf Öffis legt, ist bei unseren südlichen deutschsprachigen Nachbarn deutlich besser aufgehoben, wie diese Tour zeigte. Empfehlenswert für die Öffi-Anreise in Österreich ist die App VVT. Damit hat die Erwanderung des ersten Teils des „Lech-Joch-Wegs“ ihren Abschluss gefunden. Der zweite Teil soll dann vom Hahntennjoch bis an die Lechquelle führen.