Eine Person klettert an einer steilen Felswand, während eine zweite Person mit Kletterausrüstung unten sichert, umgeben von einer felsigen Landschaft unter blauem Himmel.
Ein Highlight unserer Reise: Einsames Klettern in Blagaj. Foto: Michael Vitzthum
Mit Öffis und Seil nach Osteuropa

Balkan Rail & Climb

Bosnien-Herzegowina ist als Reiseziel allein schon eine kleine Herausforderung. Aber wenn man nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln und einem Rucksack unterwegs ist, bekommt der Trip noch eine Steigerung. Wir haben jeden Meter unserer außergewöhnlichen Reise genossen.

Der Zug hält auf Verlangen in Drežnica. Die Tür öffnet sich und wir blicken hinunter auf ein paar Meter rustikalen Bahnsteig. Ein kurzes Zögern, wir schauen uns skeptisch an. Sind wir – Anca, Angie, Heidi, Julia und Michael – wirklich richtig? Hier soll es tolle Kletterfelsen geben und unser Bed & Breakfast, das wir ein paar Tage vorher im Internet gefunden und gebucht hatten?

Es hilft nichts: alle fünf raus aus dem Zug und so stehen wir kurz darauf zwischen dem Bahngleis und einem einsamen Bahnhofshäuschen mitten in der Wiese. Von unserem Zug sehen wir nur noch die Rücklichter; der nächste kommt erst wieder morgen. – Wir fangen an zu lachen. Wo sind wir hier nur gelandet?

Auf einer Seite sehen wir zu einem großen See hinunter, über uns eine kleine Straße und ansonsten nur Büsche. Jetzt sind wir tatsächlich irgendwo im Nirgendwo, vielleicht müssen wir sogar noch biwakieren heute. Warm genug wäre es immerhin.

Ein winziger Bahnhof irgendwo im Nirgendwo. Genau hier hält unser Zug. Foto: Michael Vitzthum

Doch so weit soll es nicht kommen, denn plötzlich unterbricht eine Frauenstimme die Stille: "Hallo!" Sie kommt von weiter oben, hinter den Büschen, und fährt fort: "Geht einfach über die Gleise hier herüber, dann seid ihr gleich bei der Unterkunft." Gesagt, getan: Wenige Minuten später stehen wir vor einer jungen englischen Backpackerin, die hier, wie wir erfahren, schon seit einer Woche Urlaub macht. Sie scheint absolut angekommen im Chill-Modus.

Unser Basecamp für die nächsten Nächte ist ein einfaches, aber gemütliches Haus. Wie praktisch, dass der Hausherr, ein junger Bosnier, gleich nebenan wohnt und uns auf Englisch mit wertvollen Informationen versorgt. Auch eine der wichtigsten Fragen kann zur Beruhigung aller Mitreisenden sofort geklärt werden. Wo bekommen wir hier etwas zu essen? So lernen wir: Vorne an der Hauptstraße gibt es das Restaurant "Vidikovac", es hat sogar schon zum Frühstück geöffnet. – Unser Stammlokal für das tägliche Ritual ist somit schnell gefunden: Morgens Pfannkuchen, abends frische Forelle aus dem See. Das Leben kann so einfach sein!

Drežnica – so wie der Ort heißt auch das Klettergebiet, wegen dem wir eigentlich hier gelandet sind: Nur eine Viertelstunde hinter unserem Haus liegt es versteckt in einem Waldgebiet. Am Zustieg empfängt uns sogar ein Schild mit der Übersicht der Sektoren, diesen Service hätten wir gar nicht erwartet.

An mehreren Felsriegeln reiht sich Route an Route und jetzt, Anfang Oktober, sind die Temperaturen perfekt. Alles ist hervorragend abgesichert und wir finden vor allem schöne Klettereien im mittleren Schwierigkeitsbereich. Mehrere Klettertage kann man hier locker verbringen und wenn die Finger doch eine Pause bräuchten, gäbe es bei unserem Vermieter sogar ein paar Bikes für einen Ausflug weiter hinauf ins Tal.

Zum Warmwerden: Urban climbs & lost places

Zu Fuß erreichbar: Die schönen Felsen am Stadtrand von Sarajevo. Foto: Michael Vitzthum

Etwas urbaner ist die Kletterei in Sarajevo, wo wir unsere ersten Tage in Bosnien-Herzegowina verbrachten, um uns einzugrooven: Gleich am Stadtrand gibt es dort das sehr gut eingerichtete Klettergebiet Dariva, wunderbar schattig am Fluss gelegen und optimal für warme Tage. Von unserer Unterkunft mitten in der Altstadt ist es gerade mal ein halbstündiger Spaziergang, schon stehen wir vor den Felsen.

Ein paar Stunden genießen wir die schönen Routen, schlendern zufrieden zurück zur Wohnung, laden das Seil ab und tauchen dann ins pulsierende Stadtleben ein. Moscheen, Kirchen, Museen, Basare, Kaffeehäuser, Restaurants, Bars und Kneipen – es ist ein einzigartiger Mix in einer europäisch-orientalischen Welt, den wir hier erleben dürfen.

Wir hören den Ruf des Muezzins, schlendern durch enge Gassen und tauchen ein in eine orientalische Welt, in der wir uns trotzdem nicht fremd fühlen. Überall sind die Menschen gastfreundlich und aufgeschlossen.

Und doch wird uns immer wieder bewusst, dass vor dreißig Jahren genau dies hier der Schauplatz eines brutalen Krieges war. Man muss nur genau hinschauen, dann sieht man überall noch die Einschusslöcher in den Fassaden der Häuser. Die eigentlich wunderbare Lage Sarajevos inmitten der umliegenden Berge wurde der Stadt während des Bosnienkrieges zum Verhängnis, denn die serbischen Angreifer kesselten sie mehrere Jahre ein.

Es gibt eine sehr eindrückliche Stadtrundfahrt, die genau jene Plätze ansteuert, die für das Schicksal von Sarajevo während dieser schlimmen Zeit stehen. Wir begeben uns mit unserem Guide – einem Historiker – zuerst auf die strategischen Positionen der Belagerer hoch über dem Häusermeer und steigen schließlich in den "Tunnel der Hoffnung" hinunter, der unter dem Rollfeld des Flughafens die Versorgung der eingeschlossenen Bevölkerung garantierte.

Auf Sarajevos Hausberg Trebević lässt sich ein weiterer geschichtsträchtiger Ort erkunden: Von der Altstadt führt eine moderne Seilbahn hinauf in ein beliebtes Wandergebiet. Dazwischen entdecken wir die vielen verfallenen Überreste der Olympischen Winterspiele von 1984. Ein Lost Place mitten im Bergwald. Die einstige Bobbahn hat sich inzwischen in eine Streetart-Galerie verwandelt.

Vor und nach der Tour unterwegs in der quirligen Altstadt. Foto: Michael Vitzthum

Der Weg als Teil der Reise

Natürlich hätten wir es uns leichter machen können: Einfach das Auto vollpacken mit möglichst viel Outdoor-Equipment; auf direktem Weg anreisen ins Urlaubsland und dann kreuz und quer zu den besten Spots fahren. Doch genau so wollen wir nicht unterwegs sein. Wir verfolgen die Idee, nur mit dem nötigsten Gepäck, das wir selbst gut tragen können, zu reisen. Ansonsten machen wir uns frei von jeglichem Ballast und allen Verpflichtungen.

Eine Kletterreise nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln und noch dazu auf dem wilden Balkan, dazu braucht es Leidenschaft und eine Mission. Es fühlt sich an wie zu besten Interrailzeiten – einfach den Rucksack packen und dann drauflos fahren. Ein wenig Expertise bringen wir schon mit, wir waren mit den Öffis zum Klettern schon in Ligurien, Sizilien; sogar bis nach Kalymnos ging es ohne Flugzeug, nur auf dem Land- und Seeweg. Unser Credo: Der Weg ist das Ziel. Und wer mit Bahn, Bus und Schiff unterwegs ist, erlebt schon vor der ersten Felswand eine Menge.

Wir lieben das Reisen mit dem Zug. Foto: Michael Vitzthum

In den Osten Europas zieht es uns immer wieder und wir entdecken gerne neue Länder von der Schiene aus. Dass es interessante Klettergebiete in Bosnien-Herzegowina gibt, hatten wir im Internet erfahren, inzwischen gibt es auch einen umfangreichen Kletterführer. Schöne Ziele im Land waren so während der Recherche recht schnell gefunden, sie dann mit möglichen Bahn- und Busverbindungen zu verknüpfen, ist jedoch eine kleine Tüftelei.

Unser beeindruckendes "Railmovie" startete um Mitternacht in München mit dem Nachtzug nach Zagreb. Nach einem Frühstück im Bahnhofsviertel ging es einige Stunden weiter mit einem kroatischen Schnellzug bis Slavonski Brod, dem letzten Bahnhof vor der Grenze mit Bosnien-Herzegowina. Dort ist dann erstmal Schluss mit Bahnfahren, die direkte Zugverbindung zwischen beiden Hauptstädten wurde leider vor einigen Jahren aus politischen Gründen unterbrochen. Also heißt es: Umstieg in einen Fernbus nach Sarajevo inklusive äußerst penibler Kontrolle an der Grenze, schließlich verlassen wir die Europäische Union.

Wir Optimisten dachten, es gäbe einen zentralen Busbahnhof mitten in der Stadt. Doch weit gefehlt: Nachts um halb zwei kommen wir in einem dunklen Vorort von Sarajevo an. Nach einiger Wartezeit quetschen wir uns zu fünft mit Rucksäcken in ein altes Mercedes-Taxi, dessen cooler Fahrer uns sicher zur Tür unserer Ferienwohnung in der Altstadt bringt. Jetzt nur noch ins gemachte Bett fallen, ausschlafen und später in einer neuen, spannenden Stadt aufwachen.

Rail & Climb steht für mehr Abenteuer und Entdecken. Es ist ein Reduzieren auf das Wesentliche und ein Einlassen auf das Unbekannte.

Wunderbar klettern am Kloster

So ist Sarajevo unser erstes Klettergebiet – urban, klein & fein. Drežnica, der zweite Spot, liegt einsam direkt an der Bahnlinie zwischen Sarajevo und Mostar.

Blagaj ist der dritte Ort, den wir erkunden; er liegt nur circa 15 Kilometer von Mostar entfernt und ist mit dem Stadtbus erreichbar. Es ist eines der bekanntesten Klettergebiete in Bosnien, hier wurden schon 2014 die ersten Routen eingebohrt und inzwischen gibt es verschiedene Sektoren mit mehr als 220 Routen, dazu ein Informationszentrum (Eco Center) mit angeschlossenem Campingplatz.

Im Dorf selbst gibt es einige Läden, Restaurants und Unterkünfte – Infrastruktur, die sich rund um das Derwischkloster Blagaj Tekija, direkt an der zweitgrößten Quelle Europas, angesiedelt hat. Wenn wir abends von den Kletterfelsen zurückkehren, ist aber vom Tagestourismus nichts mehr zu sehen.

Wir folgen den Empfehlungen des Eco Centers und klettern zuerst in der großen Schlucht im Schatten. Auch hier sind die Routen, wie schon an unseren bisherigen Zielen, nahezu perfekt abgesichert. Dann treffen wir zum ersten Mal auf weitere Kletternde. Drei junge Schotten, die vorher in Banja Luka waren sowie ein sportliches Paar aus Sarajevo. Von den beiden bekommen wir auch den Tipp, am nächsten Tag in den Sektor "Repro" oberhalb der Schlucht zu gehen, denn dort ließe sich auf beiden Seiten eines sehr kompakt wirkenden Felsriegels austoben.

Tatsächlich: Je nach Stand der Sonne können wir hier oben unsere Route auswählen, ein Teil liegt immer im Schatten. Optisch ist es ein wunderschöner Kletterspot, garniert mit einer kleinen Schutzhütte für die Brotzeitpause. Die Klettermöglichkeiten bei Blagaj sind so vielfältig, hier kann man wirklich mehrere Tage verbringen.

Steil hinauf: In Blagaj gibt es Kletterrouten in allen Schwierigkeitsgraden. Foto: Michael Vitzthum

Am Ende fahren wir nochmals am Meer entlang, der Reisebus bringt uns von Mostar zurück nach Split in Kroatien. Jetzt, im Spätherbst, gehört die weiße Stadt wieder überwiegend den Einheimischen und wir genießen noch ein paar entspannte Tage mit Klettern, Schwimmen und Ausgehen. Weit bewegen müssen wir uns auch hier nicht, bis wir vor den Felsen stehen.

In der Bucht vor der Altstadt liegt die autofreie Halbinsel Marjan, nur der öffentliche Bus darf reinfahren. Klettern mit Blick aufs Wasser, es ist das perfekte Finale unseres Balkanabenteuers. Richtung Heimat reisen wir endlich wieder mit dem Zug, mit der täglichen Direktverbindung geht es durch eine beeindruckende Landschaft zurück nach Zagreb und am nächsten Tag weiter nach München.

Ein riesiger Pool erwartet uns in Kroatien nach vielen warmen Tagen in Bosnien. Foto: Michael Vitzthum

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