Highlights des Alpinismus.Illustration: AdobeStock/zzooby
Highlights des Alpinismus (Teil 6)
Professionalisierung und Medialisierung (1989 bis heute)
Eine mehrteilige Reise in die Alpinismus-Historie lädt ein, herausragende Berg-Ereignisse kennenzulernen – ebenso wie die Menschen, die hinter diesen Geschichten stehen.
Highlights des Alpinismus.Illustration: AdobeStock/zzooby
06. November 2025
Lesedauer: 41 Minuten
Der Übergang in die Jetztzeit des Bergsports verläuft fließend. Treibende Kräfte der stetigen Weiterentwicklung sind mehrere Faktoren:
Die seit den 1990er-Jahren überall entstehenden Kletterhallen bieten optimale Trainingsmöglichkeiten (ein hohes Kletterniveau ist wesentliche Grundlage für alle Disziplinen des Alpinismus) und tragen dazu bei, dass sich Bouldern und Klettern zum Breitensport entwickelt, alternativ zum Fitnesscenter. Damit wächst auch das öffentliche Interesse am Sport, der neben Zeitschriften und Büchern vor allem durch die neuen Möglichkeiten in Internet und die Sozialen Medien viel bessere Möglichkeiten zur Dokumentation und Inszenierung bekommt.
Die Entwicklung der Digitalfotografie mit Action-Videokameras und Drohnen bringt spektakuläre Perspektiven. In einem boomenden Outdoormarkt (mit perfektioniertem Ausrüstungsangebot für Top-Performance) verbessern sich dadurch auch die Möglichkeiten, vom Bergsport zu leben. Als Vollprofi schaffen das nur die wenigsten, aber viele halten sich über Wasser mit kleinen Sponsorverträgen und diversen Jobs als Bergführer oder in Bergsportläden – die Bergvagabunden-Tradition des anspruchslosen Lebens in der Natur hält die finanziellen Ansprüche überschaubar.
Dafür haben die Akteure mehr Zeit für systematisches Training auf optimierter wissenschaftlicher Basis und finden in Boulderhallen und wintertauglichen Kletterdestinationen (Spanien, Türkei, Griechenland, Thailand) gute Möglichkeiten zur Praxis und eine breite, gut vernetzte, inspirierende Community. Auch die Berge der Welt waren nie so nahe wie heute, die Informationen nie so dicht. Dass das in der Breite zu "overtourismus"-Phänomenen führt, zu Verkehrs- und Parkproblemen, zu Überfüllung und Konflikten mit dem Naturschutz, ist die Kehrseite dieser Medaille.
Die Alpenvereine erleben in ihrem angeborenen Spagat zwischen Naturschutz und Naturnutz ein intensives Stretchingtraining – das Satzungsziel "die Bereisung der Alpen erleichtern" bekommt Konkurrenz durch die Aufgabe, diese Alpenreisenden so anzuleiten und zu lenken, dass ihre Destination nicht kaputtgeht. Und auch wenn Klettern für "Tokyo 2020" erstmals auf dem Programm Olympischer Spiele stand: Für die Aktiven ist es im Kern ein Sport geblieben, bei dem es um Gemeinschaft statt um Wettkampf geht und um Exzellenz statt Konkurrenz – wie in allen "Disziplinen" des Bergsports, der für seine Aficionados eine lebenslange, sinnstiftende Leidenschaft ist.
Die „Huberbuam“ Alex und Thomas mischen sich ein – und streifen mit „Scaramouche“ (230 m, IX+/X-) an der Göll-Westwand (Berchtesgaden) erstmals den zehnten Grad. Beat Kammerlander schraubt das Niveau 1991 mit „Unendliche Geschichte“ (320 m, Siebte Kirchlispitze) auf X+.
1989 – Die Flamme brennt
Schwerer will höher: Die neuen Dimensionen (und Absicherungsmöglichkeiten) des alpinen Kletterns wollten auch in den Bergen der Welt ausgelebt werden. Besondere Aufmerksamkeit wecken Wolfgang Güllich und Kurt Albert mit „Eternal Flame“ (650 m, VIII+/IX-, A2) am Trangoturm (6251 m), gemeinsam mit Christoph Stiegler und Milan Sykora erstbegangen – eine großartige Linie an einem großartigen Berg. Die erste komplett freie Begehung (IX+) schafften dann Alex und Thomas Huber 2009.
Die Trangotürme – der Trango Tower mit "Eternal Flame" steht ganz rechts.Foto: mtzendo, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Im Video wird die Geschichte des Rotpunkt-Kletterns nacherzählt - mit Alex Megos als aktuellem Protagonisten in einer 9b+ (XII-):
Malte Roeper und Jochen Schmoll widmeten Güllich einen filmischen Nachruf:
1993 – So geht das, Männer!
In einer Welt, die sich vor allem an absoluten Superlativen begeistert, und in einem Sport, dessen Anforderungen es dem „schwachen Geschlecht“ schwerer machen, sind geschichtliche Highlights meist von Männern geleistet. Wie schön, dass eine der großen Ausnahmen ausgerechnet die vielleicht berühmteste Kletterei der Erde ist, die „Nose“ (900 m, X+) am El Capitan. Lynn Hill bewertete ihre erste Rotpunktbegehung „nur“ mit IX+/X-, die wahre Schwierigkeit erkannten erst Wiederholer viele Jahre später. Wie sagte sie so richtig: „It goes, boys!“
1994 – Drei härteste Brocken
Was für eine Kumulation! – Im gleichen Jahr entstehen drei alpine Toprouten, die bis heute als „alpine Trilogie“ ein Schmuckstück im Portfolio jedes Profis sind: „Silbergeier“ (200 m, X+, Vierte Kirchlispitze, Beat Kammerlander, 15.8.), „End of Silence“ (300 m, X+, Hinteres Feuerhörndl, Thomas Huber, 16.8.) und „Des Kaisers neue Kleider“ (300 m, X+, Fleischbankpfeiler, Stefan Glowacz, 12.9.).
Weniger Rampenlicht bekommt „Senkrecht ins Tao/Steps across the border“ (350 m, X-) von Prem Darshano und Ingo Knapp: Zwölf Jahre lang arbeiteten sie, bis die Erstbegehung ohne Bohrhaken gelingt. Eine komplette Wiederholung hat die Route bis heute (2021) nicht – im Gegensatz zur „Trilogie“, die sehr begehrt ist. Auch wenn sich die Maßstäbe geändert haben: 2020 erledigten Sean Villanueva und Sébastien Berthe die Trilogie in nur zwei Wochen, stiegen jede Route von unten durch, radelten die Strecken dazwischen und gaben sich noch „Headless Children“ (260 m, X) im Rätikon und „Odyssee“ (33 SL, X-) am Eiger als Zugabe.
1994 – Zum hängenden Eiszapfen
Wieder einmal zeigt sich, wie bessere Ausrüstung den Sport voranbringt – aber auch, dass ein Kopf, der frei ist für neue Ideen, dabei wichtigstes Gelenk und wichtigster Muskel ist. Jeff Lowe hat die Idee, einen frei hängenden Eiszapfen am Rand eines Felsdachs anzuklettern, indem er seine Eisgeräte an Strukturen am Fels einhängt – mit „Octopussy“ (M8) erfindet er das moderne Mixedklettern und erzwingt neue Sehgewohnheiten. Robert Jasper setzt dem 1998 mit „Flying Circus“ (M10) noch eine fette Portion drauf.
Jeff Lowe in der Route "Octopussy".Foto: Brad Johnson
2000 – Schlaflos am Denali
Wie klein große Berge werden können, wenn man gut ist und auf Schlaf verzichten kann! Steve House, Mark Twight und Scott Backes klettern die „Slowaken-Direkte“ (2750 m, VI+, M5, WI 6) durch die Südwand des Denali(6190 m) in 60 Stunden nonstop – und geben damit dem extremen Alpinismus eine völlig neue Perspektive.
2001 – Geht's noch steiler?
Als Alex Huber im Winter 2000 solo „Bellavista“ (500 m, IX-, A4) an der Nordwand der Westlichen Zinne mit großem technischem Materialaufwand erschlossen hatte, wunderte sich die Szene, was den Sportkletterer zu derart hanebüchenem Alpinismus motiviert haben mochte. Im Jahr darauf lüftet er das Geheimnis und klettert seine Linie durch die Riesendächer frei – mit X+/XI- wohl die schwerste Mehrseillängenroute damals, und ohne gebohrte Zwischenhaken: ein Plädoyer für die Abenteuerkomponente im Bergsport. Wieder ein Jahr später klettert er die „Hasse-Brandler“ (500 m, VIII+) in der Nordwand der Großen Zinne free solo; eine der schwersten Solo-Wände, mit dem berüchtigt brüchigen Zinnenfels.
2005 – Zwei Jungs, ein Berg
Wenn ein piolet d’or – vergeben für inspirierende alpinistische Leistungen – je berechtigt war, dann hierfür: In sechs Tagen durchsteigen Steve House und Vince Anderson die Rupalflanke des Nanga Parbat (8125 m) auf einer neuen Direktroute (4100 m, VI+, M5X, WI 4). Die Szene schweigt ergriffen vor so viel Kompetenz, Commitment und Teamgeist.
2013 – Der einsame Gang
Die unbegangene Direktlinie durch die Südwand (2500 m) zum Hauptgipfel der Annapurna (8091 m) scheint ideale Verhältnisse zu haben – doch Ueli Stecks Begleiter kehrt am Einstieg um. So steigt Ueli allein auf; ein Schneerutsch spült ihn fast aus der Wand und reißt die Kamera mit; als sich der eiskalte Wind endlich legt, steigt er weiter, obwohl es Nacht ist; ein teils senkrechter Wandriegel ist dank schmaler Eisstreifen solo kletterbar (WI 6), zum Abseilen fädelt er sein Seil direkt durch Eissanduhren. So blieb eine der begeisterndsten Leistungen des Alpinismus unbeobachtet und undokumentiert – und Ziel der Angriffe von Zweiflern.
2015 – Live am Limit
Die „Dawn Wall“ (900 m, XI) am El Capitan ist die schwierigste Freewall-Route der Welt, den Erstbegehern Tommy Caldwell und Kevin Jorgeson gratuliert der US-Präsident Obama persönlich. Mehrere Jahre hatten die beiden an der Linienführung getüftelt, an den Einzelstellen gearbeitet, dann steigen sie ein – und ihre Livestreams erreichen ein weltweites Publikum. Zuletzt verfolgen mehr als zwanzig Fernsehsender vom Wandfuß aus ihre Bemühungen. Die dann zum Symbol für Menschlichkeit und Freundschaft werden: Jorgeson ringt tagelang mit der schwierigsten Seillänge 15, die Caldwell schon geschafft hat. Doch obwohl die Spätherbsttage keine sichere Wetterprognose zulassen, wartet Caldwell auf seinen Partner – bis zuletzt beide erfolgreich aussteigen, als Freunde und als Team.
2017 – Neue Dimensionen
„Ihr könnt mir vorwerfen, dass ich einen Physiotherapeuten und einen Ballettlehrer gebraucht habe, um diese Route zu realisieren – aber ohne hätte ich es eben nicht geschafft.“ Adam Ondra ist nicht nur deshalb der derzeit beste Kletterer der Welt, weil er seine Begabung konsequent trainiert: Mit hoher Intelligenz findet er Lösungen, um sich neue Dimensionen zu erschließen. Für „Silence“ (9c), die erste Kletterei im glatten zwölften Grad, musste er Bewegungen lernen, die anatomisch „eigentlich“ gar nicht möglich sind. Als endlich der Durchstieg gelang, blieb der gewohnte Triumphschrei aus – so bewegt war er, das Ende dieser Reise erreicht zu haben.
Im gleichen Jahr klettert Alex Honnold den „Freerider“ (900 m, IX) am El Capitan free solo – eine unfassbare psychische Leistung; der Film darüber („Free Solo“) erhielt als erster Bergfilm einen Oscar.
2021 – Local Heroes
1980 war es ausgerechnet der Mount Everest, der als erster Achttausender im Winter bestiegen wurde; am 16.01.2021 ist der letzte dran: Zehn Sherpas aus drei Teams haben sich zusammengetan und erreichen, die nepalische Nationalhymne singend, gemeinsam den K2 (8611 m), den schwierigsten aller Achttausender im kalten Karakorum. Nimsdai Purja, der 2019 alle 14 Achttausender innerhalb von sechs Monaten und sechs Tagen bestiegen hatte, allerdings mit Unterstützung durch Teams, Helitransfer und Hilfssauerstoff, schafft den Aufstieg ohne Sauerstoffflasche – und geht sogar teilweise voraus. So wie in den Alpen Ende des 19. Jahrhunderts die Bergführer auch mal ihre eigenen Ziele verwirklichten (und die Gäste „führerlos“ gingen), zeigen sich die Himalayabewohner damit als eigenständige Bergsteiger statt als Dienstleister.
... und in Zukunft?!
Was bringt die Zukunft? Die Überschreitung Nuptse-Lhotse-Everest im Alpinstil? Den dreizehnten Grad? Im Handstand auf dem Snowboard durch die Eiger-Nordwand? Oder die große Bremsung durch Klimawandel und Pandemien, Overtourism und Reisebeschränkungen? Werden Ausrüstung und Hilfsmittel Leistung relativieren? Elektronische Hirn-Enhancements eigene Kompetenz obsolet machen oder untergraben? Prognosen sind immer schwierig.
Was sich mit Sicherheit sagen lässt: Solange Menschen die Möglichkeit haben werden, sich auf das Spiel mit Schwerkraft und Risiko einzulassen, ihre Grenzen zu ertasten und erweitern, die Natur als Erlebnisraum zu besuchen – so lange kann sie der Alpinismus mit seinen bergsportlichen Spielformen faszinieren. Und immer wieder werden Menschen neue Ziele erfinden und erreichen; die einen am Rand ihrer persönlichen Fähigkeiten, die anderen an den absoluten (aktuellen) „Grenzen des Menschenmöglichen“.
Einen Weg zu gehen, der zu reizvollen und realistischen Zielen führt, kann glücklich machen. Und die Erfahrung „es geht – wenn ich mich dafür einsetze“ kann uns auch im gesellschaftlichen Leben motivieren. Dann ist unser Tun keine Flucht vor Alltag und Wirklichkeit, ist es mehr als Zeitvertreib und schönste Nebensache: Dann kann es uns als Menschen weiterbringen.
Vince Anderson auf dem Nanga Parbat nach der Rupalflanke – was bleibt dir jetzt noch zu tun?Foto: Steve House