Ein Mountainbiker fährt auf einem schmalen Pfad durch eine grüne Berglandschaft, im Hintergrund sind hohe, schneebedeckte Gipfel und blauer Himmel zu sehen.
Abfahrtsglück auf der Alpe di Rittana. Foto: Stefan Neuhauser
Piemont

Paraloup – Geschichte, Natur und Abenteuer im unteren Valle Stura

In den Bergen des südlichen Piemont, wo sich das Valle Stura und Valle Grana berühren, lernt unser Autor einen ganz besonderen Ort kennen: Paraloup. – Das einstige Partisanendorf ist heute Gedenkstätte und Kreativschmiede.

Als ich im südpiemontesischen Dörflein Sambuco im Valle Stura am Tresen der dortigen Bar einen befreundeten Mountainbike Guide aus dem französischen Queyras traf, wusste ich noch nicht, welches Fass er mit seiner Empfehlung aufmachen würde: „Kennst du eigentlich Paraloup?“ fragte er mich, „es liegt im unteren Valle Stura mitten im Bikepark Tajaré.“

Der Beginn eines Abenteuers

Schon eine Woche später befand ich mich auf Tour vom Talort Demonte aus zum Colle d'Ortiga, um das Gebiet um Paraloup und den Bikepark Tajaré zwischen Valle Stura und Valle Grana zu erkunden.

Eine Mountainbikerunde sollte mich an einem Tag durch das Gebiet führen und mir gleichzeitig Gelegenheit geben, mit den Betreibern des ehemaligen Partisanendorfes und dessen Infrastruktur Kontakt aufzunehmen, um einen ersten eigenen Eindruck zu bekommen.

Im oberen Teil der schier unendlichen Forstpiste entdeckte ich einen jungen verendeten Wolf. Vom Kurbeln schon etwas müde, musste ich gleich zweimal hinschauen und entdeckte die Bisspuren am Genick. Wahrscheinlich war der unerfahrene Jungwolf in die Fänge der oft brutalen Herdenschutzhunde geraten, die manchmal des Nachts das Schafsgehege verlassen, um Wildtiere zu erlegen und nicht nur ihrer Schutzaufgabe nachgehen.

Als ich in traumhafter Landschaft den Grattrail vom Colle Ortiga über den Colle Roccason und Alpe die Rittana hinab fahre, habe ich den kleinen Wolf schon vergessen. Der Gipfel der Alpe de Rittana ist mit seinen knapp 1800 Metern eine Aussichtskanzel ersten Ranges: Man sieht den Westalpenbogen von der Monte Rosa, über den Monte Viso und Monte Argentera bis zu den Ligurischen Alpen. Der Tiefblick hinunter ins Valle Stura und die Poebene wirkt auf mich erhaben. Der zum Teil frisch angelegte Trail für Biker und Wanderer mäandert sich sehr flowig durch Alpwiesen und Birkenwälder ... ein Traum!

Verschwitzt und „a bisserl dreckverspritzt“ halte ich bei Paula vor der Küche in Paraloup an ... korrekter müsste es heißen: beim Bremsen lasse ich die Hinterradstollen in den Dreck beißen!

Paula, die Hüttenwirtin, begrüßt mich wie einen alten Freund mit okzitanischen Küsschen links und rechts, nicht ohne sich eine Bemerkung zu verkneifen. „Hey, Stefan, du weißt schon, was Paraloup heißt? 'para' ist 'gegen' und 'loup' der 'Wolf'. Also 'Abwehr gegen die Wölfe' ...!“

Berghütte, Gedenk- und Begegnungsstätte

„Damals, im Zweiten Weltkrieg, bei den Partisanen, verwendete man den Begriff im übertragenen Sinne gegen die faschistischen Wölfe, egal welcher Couleur, aus dem Tal. Heute gegen die verdreckten Mountainbiker, die lonely wolfs auf zwei Rädern aus der Stadt. – Schön, dass du uns besuchst."

Wir reden ein wenig über die Aufgaben und Möglichkeiten der heutigen Kulturstätte und Berghütte im ehemaligen Partisanendorf, dann lädt Paula mich ein: „Magst du nicht übermorgen zum Alp-Abtrieb der Ziegen unserer Käserei kommen? Wir feiern mit okzitanischer Musik, Rotwein und ein bisschen Essen.“

„Außerdem ist gerade auch die Schäferausbildung bei uns, dann könntest du abends noch beim Wolfsseminar teilnehmen, welches ein Professor aus Turin veranstaltet. Es werden online ein Wolfspezialist aus den Abruzzen und der Direktor des Nationalparkes Alpes Maritimes zugeschaltet. Die Veranstaltung findet hier oben in Paraloup in unserem Seminarraum teil.“

Okzitanische Musik beim Alpabtrieb von Paraloup. Foto: Stefan Neuhauser

Nachdem ich so zwei Tage später den Alp-Abtrieb und das Wolfsseminar miterlebt und einige der spannenden Menschen hier oben kennengelernt hatte, ist für mich klar, dass mitten in den Bergen ein ganz besonderes Begegnungszentrum entstanden war.

Das ehemalige Partisanendorf Paraloup im unteren Valle Stura ist heute eine Gedenkstätte, die von der Stiftung Nuto Revelli gepflegt wird. Ihr Namensgeber, Nuto Revelli, geboren 1919 in Cuneo, war Offizier und erlebte den harten Russlandfeldzug. Nach dem 8. September 1943 – der italienische Regierungschef hatte den Waffenstillstand Italiens mit den Alliierten verkündete, was zum sofortigen Bruch des Bündnisses mit Deutschland führte – schloss er sich dem Widerstand an, zunächst in Paraloup, später im Vallone dell’Arma. Seine Tagebuchautobiografie „La guerra di poveri“ beschreibt die Strapazen des Krieges und die Kraft des Widerstands. Später wurde er Schriftsteller und Historiker.

Die Fondazione Nuto Revelli wurde im Januar 2006, zwei Jahre nach dem Tod von Nuto Revelli, in der Überzeugung gegründet, dass die beste Art, seiner zu gedenken, darin besteht, sein Werk bekannt zu machen und fortzuführen.

Die Stiftung setzt sich unter anderem für die Zukunft der Bergregionen ein. Hier werden Schulungen, wie die Schäferausbildung in Zusammenarbeit mit der Universität Turin, angeboten. Es ist ein Ort, der zeigt, wie man abgelegene Dörfer wiederbeleben kann – durch nachhaltige Projekte, Kreativität und Gemeinschaft. Die Stiftung und der Ort Paraloup stehen für Frieden und Freiheit. Zu den Themen Frieden, Freiheit, Widerstand im zweiten Weltkrieg ist eine eigne Mediathek dort oben eingerichtet.

Zu diesem Thema hat mich auch folgendes Zitat angesprochen, welches ich in dem Buch Partisanenpfade im Piemont von Sabine Bade und Wolf Mikuteit gelesen hatte:

„Wenn du dorthin möchtest, wo unsere Verfassung entstanden ist, dann geh in die Berge, in die Wälder, in denen die Partisanen gekämpft haben. Dort, wo Menschen für Freiheit und Würde ihr Leben riskierten, kannst du die Geschichte hautnah erleben.“ Das Zitat stammt von Piero Calamandrai, Professor für Zivilprozessrecht, aus einer Vorlesung an der Universität Mailand im Jahre 1955.

Ein Bergdorf voller Geschichte …

Am 25. April, dem Tag der Befreiung Italiens, ist Paraloup voller Leben: Menschen erinnern sich an den Widerstand, feiern die Freiheit und blicken auf die mutigen Menschen zurück, die für unsere Demokratie gekämpft haben. Die restaurierten Gebäude und das Museum bieten die Möglichkeit, mehr über diese bewegte Geschichte zu erfahren.

Bisher hatte ich zwar einiges über die Geschichte von Paraloup und seiner heutigen Funktion erfahren, jedoch kannte ich nur den geringsten Teil des Gebiets, in dem das ehemalige Partisanendorf eingebettet ist. Deshalb startete ich ein zweites Mal in die Gegend, um mit Eric Haufe, einem befreundeten Mountainbiker, weitere Tourenmöglichkeiten und Mountainbike-Trails zu erkunden. Uns reizte der geografische Umstand, dass diese Gedenk- und Begegnungsstätte eben genau mitten in einem natürlichen Bikepark, dem Tajaré, liegt.

Im Bikepark gibt keine künstliche Aufstiegshilfe, man muss sich die Abfahrten selbst erstrampeln – und wer auf die höchsten Punkte möchte, um die geniale Fernsicht zu genießen, der muss sein Rad schieben und tragen.

… und viel Bike-Spaß

Zusammen mit Eric quartierte ich mich mehrere Tage in Paraloup ein. Untertags surften wir mit unseren Bikes durch die einsamen Wälder:

Die Vielseitigkeit der Abfahrten ist grandios. Die weitläufigen Bergkämme bieten Flow pur. Taucht man in die Birken-Mischwälder ein, gibt’s kein Halten mehr … Unzählige, perfekt angelegte Kurven lassen das Grinsen immer breiter werden. Die alten Wege wurden vielerorts von Hand wieder frei gelegt und haben ihren rauen, ursprünglichen Charakter behalten. Technisch anspruchsvolle Passagen gibt’s ebenfalls genügend. Doch der Schatz ist die Vielseitigkeit der Wege. Egal welches Bike-Niveau, hier gibt es für fast jeden den perfekten Trail.

Zwar mussten wir nachmittags nach den Abfahrten ins Sturatal oder dessen Seitentäler wieder mehrere hundert Höhenmeter nach Paraloup zur Unterkunft hinaufradeln. Doch da wir auf diese Weise am Berg nächtigten, erlebten wir von dort oben die wunderbaren Sonnenauf- und -untergänge und den nächtlichen Blick auf die Lichter der Poebene. Abends profitierten wir außerdem von der Kreativität der Küche.

Vom Baum in den Mund

Der Bikepark Tajaré liegt in einer Region mit okzitanischer Geschichte, ähnlich wie die Cevennen im Languedoc. Die Kastanie spielte jahrhundertelang eine zentrale Rolle als Brot der in den Bergen lebenden Minderheiten, die sich vor religiöser oder anderer Verfolgung dorthin zurückzogen.

Auch der Name des Tajeré-Gebiets stammt wahrscheinlich aus dem Okzitanischen. Seine östlich und westlich von zwei Gletschern beschliffene Form, was auf okzitanisch tagliata heißt, könnte für diesen Berg namensgebend gewesen sein.  

Einer der beiden reinen Bike Trails, die also nur für Mountainbiker erlaubt sind und eine Ausnahme bilden, ist teilweise im Herbst gesperrt, weil die Kastanienkulturen, die noch immer die Landschaft prägen, um diese Zeit gepflegt werden. Die Menschen die, die sich um Kastanienkulturen kümmern, sollen in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen können, ohne beim Zustieg oder Abstieg auf Mountainbiker achten zu müssen. Auch sind die Wege dann oft voller kleiner Äste und stachliger Kastanienschalen.

Freiwillig engagiert

Die Idee für den Bikepark stammt von zwei engagierten Lokals, sie riefen ihn ins Leben. Heute mitgestalten etwa zwanzig Freiwillige den Park. Auch die umliegenden Gemeinden unterstützen das Projekt, indem sie gelegentlich Gemeindearbeiter zum Wegebau schicken – für Biker, Wanderer und Reiter.

Die Wege sind für alle offen Naturnutzer. Ziel ist es nicht, ein Enduro-Shuttle-Mekka zu schaffen, sondern ein harmonisches Miteinander im Gebirge zu fördern. So können Biker, Wanderer, Reiter, Schäfer und Alphirten gemeinsam unterwegs sein. Nicht zu vergessen: Die Wanderer profitieren enorm von der Trailpflege und den neu angelegten Wegen. Oft wurden sehr steile Passagen durch kurvige, flachere Wegstücke ersetzt, die zu Fuß viel angenehmer zu gehen sind und mit dem Rad auch mehr Fahrspaß bieten.

So ist ein Terrain entstanden, welches als Spielplatz für moderne, naturhungrige Stadtmenschen dient und gleichzeitig alp- und forstwirtschaftlich genutzt wird. Das Gelände ist weitläufig und groß. Man begegnet meist wenigen Menschen. Einzig auf den beiden Gipfeln der Alpe di Rittana 1798 m und dem Tajaré 1654 m trifft man öfter rastende Wanderer, die wegen der Aussicht länger verweilen.

Verdiente Pause: Autor Stefan Neuhauser in der Bäckerei-Bar in Roccaspavera. Foto: Stefan Neuhauser