Ein Bergsteiger mit Wanderstöcken auf felsigem Untergrund.
Die Via Alta Vallemaggia – anspruchsvoll, vielfältig, aussichtsreich. Foto: Bernd Jung
Auf der Via Alta Vallemaggia

Durchs wilde Tessin

Schroffe Gipfel, wilde Täler, luftige Grate, Bergseen und alte Steinhütten zum Übernachten: Auf der Via Alta Vallemaggia lassen sich das Tessin und das Bergsteigerdorf Valle Onsernone in ihrer ganzen Ursprünglichkeit erleben.

Unwetter am Grat: Ein Tourstart mit Adrenalinschub

„Das kann ja nicht wahr sein, so war das aber nicht angekündigt!“, sagt Eric. Völlig exponiert befinden wir uns zu viert am Morgen auf einem ausgesetzten Grat am Pizzo Cramalina. Blitze gehen nieder, Hagel prasselt auf uns ein. Dabei hat die Wettervorhersage dieses Schauspiel erst für den Nachmittag angekündigt. Erst als sich Wetter und Nerven wieder beruhigt haben, können wir auch wieder die großartige Landschaft wahrnehmen, in der wir unterwegs sind.

Im Juli 2024 kam es nach heftigen Unwettern im Maggiatal zu einem verheerenden Erdrutsch mit massiven Schäden und mehreren Toten.

Wandern mit Weitblick – Die Via Alta Vallemaggia

Wir sind weit oberhalb des Maggiatals im Sonnenkanton Tessin. Das Tal, welches sich von Locarno am Lago Maggiore fünfzig Kilometer nach Norden zieht und in über dreitausend Meter hohe Berge gipfelt. Bekannt für seine stiebenden Wasserfälle, die vielseitige Flora, die hoch aufragenden Felswände – und für sein dichtes Wanderwegenetz. 2009 wurde die Via Alta Vallemaggia eröffnet, auch VAVM abgekürzt. Ein Hüttentrekking, das in sechs Tagen von der Bergstation Cimetta über die ostseitig vom Maggiatal gelegene Bergkette bis nach Fusio, die Ortschaft zuhinterst im Tal, führt. Das Wanderkonzept ging sogar noch weiter. Zehn Jahre später wurde die Weitwanderrunde „Trekking dei laghetti“ eröffnet, welche die Stirnseite im Talschluss durchläuft

In einem weiteren Kraftakt – mit dem Anbringen von Drahtseilen und Ketten und unzähligen Wegmarkierungen – wurde dann 2021 der letzte Teil der VAVM erschlossen, der durch die westseitige Bergkette des Maggiatals verläuft.

Auf dem Abstieg vom Pizzo Cramalina nach dem Unwetter. Foto: Bernd Jung

Von Loco nach Campo Vallemaggia: Zwischen Ursprünglichkeit und Aufbruch

Im Unterschied zur ausgewiesenen Route auf der Webseite der VAVM wandern wir in umgekehrter Richtung. Das hat den Vorteil, die höheren Berge stets vor der Nase zu haben und jeden Tag einen etwas höheren Gipfel zu überschreiten. Zudem haben wir für den Tourstart Loco gewählt, den historischen Hauptort des Valle Onsernone. Schon die Fahrt dorthin ist etwas Besonderes. Ein wildes und ursprüngliches Tal mit tiefen Schluchten und schäumenden Wildwassern. Eine atemberaubende Landschaft mit kleinen Dörfchen, die wie Inseln an den ansonsten bewaldeten und unberührten Berghängen stehen.

Die Ursprünglichkeit des Valle Onsernone, die hochwertige Natur- und Kulturlandschaft, haben dazu geführt, dass das Tal 2024 den „Bergsteigerdörfern“ beigetreten ist. Die 2008 ins Leben gerufene Initiative der Alpenvereine zeichnet kleine Ortschaften aus, die sich dem naturnahen Tourismus verschrieben haben, und zählt inzwischen über vierzig Orte und Regionen in Österreich, Deutschland, Italien, Slowenien und der Schweiz. Seit Juni dieses Jahres gehört auch Campo Vallemaggia mit den weiteren Ortschaften Niva, Pian di Campo, Cimalmotto im hinteren Rovanatal zum Kreis der Bergsteigerdörfer.

Wetterumschwung und Erholung am Alzasca-See

Nach der unerwarteten Wetterkapriole am zweiten Tourentag steigen wir hinab zum Lago Alzasca. Ein Traum von einem Bergsee, perfekt in die Landschaft eingebettet. Badewetter herrscht leider immer noch nicht, vom Regen vollgesaugt wie ein Schwamm wandern wir mit schmatzenden Schuhen das letzte Stück zur schönen Capanna Alzasca. Natürlich sind wir die Einzigen auf der Hütte. Warmherzig empfängt uns das Hüttenwirtspaar, das diese Woche die Hütte bewartet. Dank eines zur Wäscheleine degradierten Seils sind unsere Klamotten mit der Ofenwärme schnell getrocknet.

Am nächsten Morgen wandern wir bei Sonnenschein zum Lago Alzasca hinauf und holen nach, was wir am Tag vorher verpasst haben: ein herrliches Bad in dem See, der in der Sonne glänzt wie ein überdimensionaler Smaragd. Zeit haben wir, schließlich erwartet uns heute nur eine kurze Etappe und durchwegs stabiles Wetter.

Grate, Seen und kleine Dörfer

Wieder mit üppiger Flora, dann über einen wunderbaren Grat geht es aussichtsreich weiter. Und wieder blau-weiß-blau markiert. Denn so gut wie alle Etappen sind durchaus anspruchsvoll. Kaum eine Etappe ist unter T4, dem Schwierigkeitsgrad für „schwere Bergwege“ nach der Wanderskala des Schweizer Alpenclubs. Also Gelände, in dem man die Hände aus den Hosentaschen nehmen muss, wie Eric gern zu sagen pflegt.

Wie schon die erste Nacht auf der Alpe Canna verbringen wir die dritte Übernachtung auf einer Selbstversorgerhütte, der Capanna Ribia. Gasherd, Getränke, Nudeln, Reis, Gewürze, ein Kamin mit Holz – es ist alles da, was es braucht. Ruckzuck zaubert Eric aus den vorhandenen Zutaten ein herrliches Safranrisotto inklusive wildem Thymian vom Wegesrand.

Kontrastreich und einladend: einer der vielen Seen auf der Tour. Foto: Bernd Jung

Landschaftlich eine Augenweide ist die nächste Etappe, welche an mehreren Seen vorbeiführt. Wäre die Etappe kürzer, würde man sich am liebsten an jeder dieser einladenden Bademöglichkeiten niederlassen. Mit der Ankunft in Cimalmotto treffen wir erstmalig seit vier Tagen wieder auf eine kleine Ortschaft. Gerade mal fünfzig Menschen leben in der ehemaligen Walsersiedlung. Im Spätmittelalter hatte sie eine beachtliche Größe, vor 350 Jahren lebten hier über tausend Menschen. Ein Zeugnis dieser vergangenen Zeit ist das fast dreihundert Jahre alte Fresko des italienischen Malers Giuseppe Mattia Borgnis im Außenbereich der kleinen Dorfkirche. Eine ähnliche Vergangenheit und heutige Einwohnerzahl hat auch der malerische Ort Bosco Gurin im Nachbartal. Die fünfte – und einzig wirklich leichte – Etappe der VAVM zwischen den beiden Ortschaften wollen wir am gleichen Tag noch anhängen. Da das zu Fuß ein arger Gewaltmarsch wäre, nehmen wir in Cimalmotto den Bus und lassen uns in kurzer Fahrt bequem nach Bosco Gurin bringen.

Spendenaktion für die Capanna Soveltra

2017 wurde die Capanna Soveltra im Tessin durch einen Brand fast vollständig zerstört. Nun soll die Hütte ihre zentrale Position als Verbindung zwischen den Tälern Leventina, Vallemaggia und Verzasca zurückerhalten. So wie früher soll sie nicht nur eine attraktive Station auf der Via Alta Vallemaggia sein, sondern auch wieder ein ganz besonderer Ort der Begegnung.

Für den Wiederaufbau bittet die Schweizerische Società Alpinistica Valmaggese (SAV), ein kleiner Alpenverein im Tessin, der die Hütte gehört, um Spenden.

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Blockfelder und Gipfelglück

Das Aufwachen am nächsten Morgen wird begleitet von lautstarkem Regenprasseln. So fahren wir erst gegen Mittag mit dem Sessellift zur Bergstation nahe der Grossalp, die aktuell bis auf Weiteres geschlossen ist. Wir sind entspannt, da es pünktlich, wie vom Regenradar prognostiziert, aufreißt und unser Planungstool uns gute sechs Stunden Wegzeit angegeben hat. Etwas stutzig werden wir allerdings, als wir bei der Bergstation die Angabe von neun Stunden sehen. Und tatsächlich: Aufgrund von weiten Strecken über ausgedehntes Blockgelände erreichen wir erst nach über acht Stunden in durchaus zügigem Tempo beim letzten Tageslicht die hübsche Capanna Piano delle Creste.

Wollten wir die VAVM bis zum Ende weitergehen, hätten wir noch volle zehn Tage vor uns, da der gesamte Höhenweg siebzehn Etappen aufweist. Insgesamt zweihundert Kilometer auf anspruchsvollen Wegen und deutlich über tausend Höhenmeter pro Tag. Wir haben allerdings nur noch einen Tag Zeit, bis wir uns wieder auf den Heimweg begeben müssen. An diesem letzten Tag könnte man in zwei Stunden gemütlich zum Talschluss des Valle Maggia absteigen. Und damit den ultimativen Höhepunkt des Tals verpassen – den Basòdino, mit 3273 Metern der höchste Berg des Tessins. So machen wir uns auf und verlassen die VAVM alsbald. In wunderbarer Kraxelei geht es über den Südgrat auf den Gipfel und im Abstieg auf dem Normalweg über den bereits Ende Juni aperen Gletscher. Bleibt man stattdessen auf der VAVM, gibt es keinen Gletscherkontakt.

Zurück ins Tal – voller Eindrücke

Abschließend geht es knieschonend mit der Gondel hinab ins Maggiatal, wo schon der Bus wartet. Die kleinen Ortschaften mit den alten Tessiner Steinhäusern, den staubenden Wasserfällen und gewaltigen Felswänden, das wilde Bachbett der Bavona und der Maggia: Trotz unserer Müdigkeit hängen wir gebannt an den Fenstern, die mehr als einstündige Fahrtzeit verfliegt im Nu. Ein letztes Bad in der Maggia lassen wir uns nahe der Ponte Brolla nicht nehmen. Eine dringend nötige Erfrischung der Füße, bevor wir den Heimweg antreten – mit verschwitzter Wäsche und jeder Menge unvergesslicher Eindrücke im Gepäck.