Wanderer und Wanderin geben sich die Hand
Am ersten Tourentag auf der Etappe von der Fallerscheinalpe über das Putzenjoch um die Namloser Wetterspitze zur Anhalter Hütte. Foto: Enno Kapitza
Alpenüberquerung mit Krebserkrankung

Da geht noch was!

Jedes Jahr bringt der Verein „20.000 Höhenmeter“ Menschen mit und nach Krebs über die Berge. Der Freiburger Bergwanderführer Johannes Hepting hat dafür eine spezielle Route ausgetüftelt. Sie ist eine machbare Herausforderung – und eine schöne Tour zum Nachwandern.

Wie eine Prüfung aus Fels und Geröll überragt der Scharnitzsattel in den Lechtaler Alpen die letzten Latschenkiefern. Grau und steil erhebt sich seine Wand, Eisentritte und Seilversicherungen glänzen in der Sonne. Der Sattel selbst, hoch oben auf 2441 Metern, ist von der Einstiegsstelle aus nicht zu sehen. Auch dann nicht, wenn man den Kopf weit in den Nacken legt. „Traust du uns das zu?“, fragt jemand aus der Gruppe vorsichtig.

Gemeinsam lassen sich schwere Abschnitte gut meistern. Foto: Enno Kapitza

„Ja“, sagt Hannes klar und einfach. „Deshalb haben wir die Vorbereitung gemacht.“ Seit April haben sie alle für diesen Moment hier trainiert, auch für die Schlüsselstelle auf dieser ganz speziellen Alpenüberquerung. Alle fünf Teilnehmerinnen haben Krebs. Bei manchen liegt die letzte Chemotherapie erst ein paar Monate zurück. Zwei von ihnen tragen noch einen Port-Katheter unter der Haut, jenen dauerhaften Zugang zur Vene, der eingesetzt wird, um Medikamente direkt ins Blut zu bringen, ohne dass immer wieder in die Armvene gestochen werden muss. Die Ports sind auch ein Symbol: Mag sein, dass die eine oder andere noch nicht über den Berg ist. Doch über die Berge wollen sie, und das gemeinsam. Um sich zurückzuholen, was ihnen der Krebs gestohlen hat: das Vertrauen in den eigenen Körper. Und das Vertrauen auf ein gutes Leben trotz der Diagnose.

Deshalb sind Ariane, Anke, Astrid, Angelika und Gabi an einem Sonntag Ende Juli von der Gemeinde Stanzach im unteren Lechtal aus losgewandert, geführt von Johannes Hepting, einem leidenschaftlichen Bergsportler und Bergwanderführer aus dem Schwarzwald. Hannes, wie alle ihn rufen, ist vor vielen Jahren selbst an Krebs erkrankt. Er kennt das Gefühl, wenn einem Chemo und Operationen die letzte Kraft aus den Knochen saugen. „Als ich nach der Therapie das erste Mal wieder auf dem Feldberg stand, fühlte sich das an, als hätte ich den Mount Everest erklommen“, erinnert er sich. Dieses Erlebnis will er mit anderen teilen. Und so hat er den Alpencross für Krebserkrankte ersonnen, eine Route ausgetüftelt, gemeinsam mit seiner Frau Renate einen Verein zur Finanzierung gegründet. Mit einem Team aus den Bereichen Sportmedizin, Sportwissenschaft, Physiotherapie, Onkologie und Wanderexpertise haben sie die Teilnehmerinnen über drei Monate hinweg vorbereitet, den großen Weg über die Alpen zu nehmen.

Mag sein, dass die eine oder andere noch nicht über den Berg ist. Doch über die Berge wollen sie, und das gemeinsam.

Und doch kann einen nichts darauf vorbereiten, das erste Mal im Leben vor einem vierhundert Meter hohen Aufstieg voller Geröllschutt zu stehen, aus dem Eisentritte herausragen. „Es hat wahnsinnig viele Ketten drin, da könnt ihr euch überall gut festhalten“, beruhigt Hannes ein paar blank liegende Nerven, dann teilt er die Gruppe auf. Die Stärkeren steigen mit Wanderführerin Kirstin Rütschle vor, den Rest der Gruppe nehmen Hannes und seine Frau Renate in ihre Mitte. Schritt für Schritt arbeiten sie sich hoch. Langsam, vorsichtig, doch immer stetig. Bejubelt werden sie von jenen, die bereits auf dem Sattel angekommen sind, das Pfeifen des Windes im Ohr, wild flatternde Tibet-Flaggen über den Köpfen. Als schließlich alle oben stehen auf dem kleinen felsigen Plateau, fallen sie einander in die Arme, so manche Träne fließt. „Wir schaffen das gemeinsam“: Das alte Bergsteigermotto, dass eine Gruppe exakt so schnell ist wie ihr langsamstes Mitglied und man sich gegenseitig hilft, wird hier gelebt.

Die Kraft der Gemeinsamkeit verbindet die Gruppe von Anfang an. Sie zeigt sich nach der ersten Nacht im Almdorf Fallerschein, als Ariane, die Jüngste in der Gruppe, ihren Geburtstag feiert und zum Frühstück ein symbolisches Sträußchen Bergblumen überreicht bekommt. Die Alpenüberquerung hat sich die 34-Jährige nach ihrer Brustkrebserkrankung selbst geschenkt, als Belohnung: „Wenn ich es schaffe, ein Jahr ohne Rückfall zu leben, dann laufe ich da mit“, hat sie sich gesagt. Früher hätte Ariane so etwas nie gemacht: „Auf das Duschen zu verzichten oder nur zwei T-Shirts mitzunehmen, das wäre gar nicht gegangen.“ Die Krankheit hat den Blick verändert für das, was wirklich wichtig ist im Leben.

Die Anhalter Hütte ist am zweiten Tag des Alpencross das Tagesziel, knapp 1200 Höhenmeter geht es dafür bergan. Schon nach einer Dreiviertelstunde kleben Haare verschwitzt auf der Stirn, der eine oder andere Rucksack liegt zum ersten Mal schwerer als gedacht auf den Schultern. Besonders anspruchsvoll ist es für die 55-jährige Astrid, deren Körper in ihrem Leben schon gegen vieles erfolgreich gekämpft hat: Die Ergotherapeutin hat Multiple Sklerose, Brustkrebs, Leukämie. „Früher war ich voller Power“, wird sie irgendwann in diesen Tagen erzählen, „doch ich kann das nicht mehr leisten.“ Und das muss sie auch nicht. Es gibt genügend Hände in der Gruppe, die ihr im Anstieg Richtung Putzenjoch einen Teil des Gepäcks abnehmen, Zip-Beutel mit Shirts oder Snacks in die eigenen Taschen umpacken. Astrids Rucksack ist leichter, die Schritte werden es auch. Da geht noch was. Nieselregen hängt am nächsten Morgen über der Hütte, Regenjacken werden aus den Tiefen des Rucksacks gekramt. Neugierig schaut eine Schar freilebender Pferde der Gruppe zu, die durch den Nebel über die tiefgrünen Hänge zum Steinjöchle aufsteigt. Später geht es zum Hahntennjoch hinab und über die Passstraße weiter zum Scharnitzsattel. Dahinter sind es nur noch zwei Stunden bis zur Muttekopfhütte oberhalb von Imst. Dort wirft die Sonne am Nachmittag einen Blick aus den bleigrauen Wolken und lächelt. Es gibt auch allen Grund dazu: In der Gruppe lässt zum ersten Mal die Aufregung gegenüber der Aufgabe spürbar nach. Stolz und Erleichterung zeigen sich auf den Gesichtern, als Hannes beim Abendessen das Feedback-Gespräch anstößt. Wie der Tag war, will er allabendlich von jeder wissen, und auch: Was hast du auf dem Herzen?

Diese Gesprächsrunden sind ein Mix aus dem, was das Leben mit sich bringt. Mal geht es um schlaflose Nächte (die Schnarchgeräusche im Matratzenlager!), mal um das Gehtempo, mal um die Nachrichten von den Lieben daheim. Vor allem geht es ums Zuhören: „Vor vier Jahren bin ich kaum ein paar Schritte aus dem Dorf rausgekommen“, erzählt die 49-jährige Anke, bei der ein Mammakarzinom entdeckt wurde. Was sie bis heute kaum jemandem außerhalb ihrer Familie erzählt hat. „Und jetzt gehe ich über die Alpen“, ergänzt sie voller Stolz. Die Gruppe nickt. Jede kennt solche Geschichten.

Auf der Etappe von der Anhalter Hütte zur Muttekopfhütte über Steinjoch, Hahntennjoch und Scharnitzer Scharte. Foto: Enno Kapitza

Nicht nur die Abende haben ihre Rituale, sondern auch die Morgen: Sie gehören dem Yoga. Alpenüberquererin Gabi, eine erfahrene Yogalehrerin, leitet durch kurze, fünfminütige Sequenzen, mit Atmen und Dehnen, mit Meditation und Balance-Übungen. Einmal sagt die 61-Jährige dabei: „Unten trägt mich die Erde, gibt mir Stabilität. Nach oben sind wir ganz frei und offen für alles das, was da kommen mag.“ Alle wackeln auf dem steinigen Untergrund, während sie einbeinig und in schweren Bergstiefeln in der Haltung des Baums stehen. Doch sie fühlen, dass es stimmt, was Gabi sagt, die selbst einen schwarzen Hautkrebs überwunden hat und mehrere Transplantationen. Wer so etwas durchlebt und dennoch von Offenheit gegenüber dem Leben spricht, dem nimmt man das ab.

20000Höhenmeter e.V.

Den Verein 20000Höhenmeter e.V. gibt es seit 2018, das Team um Johannes und Renate Hepting führt regelmäßig Alpenüberquerungen für Patient*innen mit oder nach Krebserkrankung durch.

Gemeinsam geht es leichter. Gerade für Menschen mit Krebs gilt das, wenn sie in die Berge wollen. Seit zehn Jahren unterstützt sie dabei ein kleiner, feiner Verein aus dem Schwarzwald. „20.000 Höhenmeter“ ist der Name und ebenso das Motto dieses Vereins, der jedes Jahr eine Alpenüberquerung durchführt für Menschen mit und nach einer Krebserkrankung.

Initiator des Projekts ist Johannes Heptin. Der geprüfte Bergwanderführer und Bergwachtler hat selbst eine Krebserkrankung überstanden. „Viele Krebspatienten verlieren durch die Diagnose selbst, aber auch im Verlauf kräftezehrender Therapien das Vertrauen in sich, in den eigenen Körper und in die Zukunft“, sagt Hepting. Das gemeinsame Erlebnis einer Alpenüberquerung schenkt Vertrauen in sich selbst und neue Zuversicht.

2025 wird der Verein zehn Jahre alt. Damit er weiter Menschen über die Berge bringen kann, freut er sich sowohl über neue Mitglieder (Mitgliedsbeitrag 20 Euro pro Jahr) wie über Spenden. Nähere Informationen: https://www.20000hoehenmeter.de sowie bei Facebook: https://www.facebook.com/20000hoehenmeter/

Als ob das Leben die Botschaft ebenfalls gehört hätte, zeigt es sich die nächsten Tage von der leuchtenden Seite. Auf dem Weg von der Muttekopfhütte über den Drischlsteig nach Imst werden die Regenjacken ein letztes Mal ausgepackt, ab Sölden (den Weg dahin kürzt ein Bus ab) beginnt das T-Shirt-Wetter. Der Tag ist als Ruhetag geplant, am frühen Nachmittag erreicht die Gruppe Fiegl’s Hütte im Ötztaler Windachtal oberhalb von Sölden. Hier beginnt das Reich der Bartgeier. Für die kommenden zwei Tage werden sie immer wieder über der Gruppe auftauchen, mit ihrer Spannweite von bis zu drei Metern ihre Kreise ziehen, wie Erscheinungen aus einem anderen Zeitalter.

„Vor dem Tag morgen habe ich Bammel“, sagt Angelika beim abendlichen Feedback. Sie ist nach ihrer Brustkrebserkrankung zum zweiten Mal beim Alpencross dabei und kennt die rund achthundert Höhenmeter, die am nächsten Tag aufs Brunnenkogelhaus führen. „Voriges Jahr bin ich unterwegs an Corona erkrankt, da hat‘s mir den Stecker gezogen.“ Auch bei den anderen kehrt noch einmal die Anspannung zurück. Noch drei Tage, noch drei Hütten: Werden sie es schaffen? Müdigkeit macht sich breit, bei manchen werden die Neuropathien in Händen und Füßen quälender: Die Nervenschädigungen sind eine häufige Begleiterscheinung von Chemotherapien und führen unter anderem zu Taubheitsgefühlen.

„Vor vier Jahren bin ich kaum ein paar Schritte aus dem Dorf rausgekommen, jetzt gehe ich über die Alpen.“

Der nächste Tag kommt, und mit ihm ein neues Tempo: Geradezu mönchisch langsam, jeden kleinen Schritt achtsam setzend, führt Renate Hepting die Gruppe durch einen silbrig glänzenden Bergwald. Immer weiter in Serpentinen hinauf über Steinplatten und Felsen, an einer ausgesetzten, mit Ketten versicherten Stelle vorbei hinauf aufs Brunnenkogelhaus, das exponiert und mit grandioser Weitsicht in 2738 Metern Höhe in den Stubaier Alpen thront. Es ist der höchste Punkt der Tour. Nur 24 Menschen finden hier ein Bett. Sie alle erleben von diesem Logenplatz aus einen grandiosen Sonnenuntergang.

Am nächsten Morgen geht es vorbei an Schafen und Hühnern tief hinab ins Tal, gut tausend Höhenmeter hinunter nach Zwieselstein und von dort teilweise mit Busunterstützung übers Timmelsjoch nach Italien. Im Gasthaus Hochfirst wartet ein Cappuccino, allmählich wird klar: Wir schaffen das wirklich! Und mit der Schutzhütte Schneeberg im Passeiertal wartet noch einmal eine unwirklich schöne Unterkunft auf die Gruppe, ehe mit der Schneebergscharte (Kaindljoch) der wirklich letzte Anstieg vor ihnen liegt. Dahinter führt der Weg ins Ridnauntal. „Auf der Scharte wird viel geweint“, hatte Hannes prophezeit. Und so kommt es dann auch. Es sind Tränen der Erleichterung nach dieser ultimativen, letzten Prüfung. „Jedes Gepäckstück, das ich hier hochgetragen habe, steht für das Gepäck der letzten Jahre“, sagt Anke, und wischt sich die feuchten Augen trocken. „Jetzt kann ich das loslassen.“ Dann schultert sie gemeinsam mit den anderen ihren Rucksack. Ab jetzt wird es leichter.