Eine Wanderin und und ein Wanderer mit großen Rucksäcken steigen ein Schuttkar zwischen erodierten Kalkgipfeln empor.
Die großen Kare können ganz schön schlauchen: Aufstieg zur Eppzirler Scharte. Foto: Wolfgang Ehn
Durch den Tiroler Naturpark

Karwendel Höhenweg: Weite Kare, steile Wände

Das beeindruckende Karwendelgebirge lässt sich auf einem sechstägigen Höhenweg von allen Seiten kennenlernen. Unterwegs begeistern die schroffe Felslandschaft, die Artenvielfalt im Naturpark und die gepflegte Hüttenkultur. Wenn das nicht reicht, kann man auf Abstechern noch den ein oder anderen Gipfel mitnehmen.

Langsam wird das Wasser knapp. Dabei ist es erst Vormittag. Ich schwitze und sehne mir etwas Abkühlung herbei. Wie heiß es im September auf zweitausend Metern werden kann, hatte ich bei der Planung unterschätzt. Frühmorgens beim Aufbruch an der Pfeishütte war es noch angenehm kühl, der flache Aufstieg zum Stempeljoch entspannt. Zwischen den langen Schatten der umliegenden Felsgipfel entdeckten wir einige Gämsen – mit etwas Glück kann man hier auch Steinböcke, Adler, Schneehasen oder Schneehühner sehen. Die felsigen und gerölligen Flanken des „Wilde- Bande-Steigs“ unterhalb von Stempeljochspitze und Roßkopf bieten hingegen fast keinen Schatten. Wir freuen uns umso mehr, als wir in einer Felsnische eine kleine Gumpe mit etwas fließendem und trinkbarem Wasser entdecken.

Namensgeber für diesen Abschnitt der vierten Etappe des Karwendel Höhenwegs war eine Gruppe Bergbegeisterter, die sich Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Stempeljoch zusammenschloss. Die „Wilde Bande“ war viel im unwegsamen Gelände oberhalb von Innsbruck und Hall unterwegs und baute später auch die Bettelwurfhütte, das nächste Etappenziel.

Der beste Kaiserschmarrn?

Vor zwei Tagen waren wir aufgebrochen. „Wir“, das sind noch Iris, die in Amerika aufgewachsen ist und beim Naturpark Karwendel als Rangerin arbeitet, und Simon, der dort ein Praktikum absolviert. Aus Zeitmangel nutzten wir die Liftanlagen von Seefeld hinauf zum Härmelekopf. Von dort erreicht man in etwa einer Stunde die Nördlinger Hütte. Zum höchstgelegenen bewirtschafteten Stützpunkt im Karwendel (2238 m) führt auch ein schöner, im oberen Teil sehr aussichtsreicher Wanderweg von Reith. Wer mag, nimmt noch den lohnenden Abstecher auf einem schwarzen Bergweg hinauf zur Reither Spitze mit. An der Hütte angekommen, begrüßt uns Tobi schon auf der Terrasse. Er ist gelernter Koch und zählt zu den dienstältesten Hüttenwirten im Karwendel. Simon lässt es sich nicht nehmen und bestellt einen Kaiserschmarrn, der, wie auf so vielen Hütten, legendär sein soll. In diesem Fall bewahrheitet sich allerdings das Gerücht. Eine Nacht in der Nördlinger Hütte, weit oben am Grat, mit spektakulärem Sonnenuntergang und -aufgang, ist ein ganz besonderes Erlebnis, für Hüttenneulinge ebenso wie für die alten Hasen.

Gemächlicher Aufbruch zur zweiten Tagesetappe an der Nördlinger Hütte. Foto: Wolfgang Ehn

Auf der zweiten Tagesetappe geht es steil bergab zum Ursprungsattel, um dann die weitläufigen Kare unterhalb der Freiungen zu queren. Hier taucht man das erste Mal so richtig ein in das, was das Karwendel ausmacht: endlose Kare und mächtige Wände. Ob der Name „Karwendel“ auch daher stammt, ist zwar umstritten, passen würde es allemal. Der folgende Anstieg im Geröll hinauf zur Eppzirler Scharte zieht sich.

Die Sportlichen nehmen gerne noch die Erlspitze oder den Großen Solstein mit.

Von dort ist es aber nicht mehr weit zum Solsteinhaus und die zweite Etappe ist geschafft. Die Sportlichen nehmen dann gerne noch die Erlspitze oder den Großen Solstein mit. Aber Achtung: Die folgende Etappe ist die längste und anspruchsvollste – die Kräfte zu sparen, kann nicht schaden. Wir lassen es gut sein und genießen die große Sonnenterrasse und den Blick weit hinunter ins Inntal. Simon erzählt, dass er vor Kurzem schon mal hier war: als er mit einem Freund die gesamte Nordkette vom Solsteinhaus bis nach Hall in Tirol an einem Tag überschritten hatte – über viele brüchige und anspruchsvolle Gipfel hinweg. Iris ist nicht nur privat, sondern auch als Rangerin viel im Gelände unterwegs, um nach Tieren zu schauen, die Natur zu kartieren oder Gäste zu informieren.

Ausgesetzte Drahtseilpassage kurz vor dem Frau-Hitt-Sattel. Foto: Wolfgang Ehn

Der Naturpark Karwendel, der früher einmal Alpenpark hieß, betreut das gesamte Naturschutzgebiet auf Tiroler Seite und ist seit 2018, dem offiziellen Gründungsjahr des Karwendel Höhenwegs, auch für diesen zuständig. Bereits vorhandene Wege wurden damals neu beschildert, wesentlich auf Initiative einiger Hüttenwirtsleute, allen voran Robert Fankhauser vom Solsteinhaus. Denn das Interesse an Mehrtageswanderungen hatte stark zugenommen. Zwar gibt es im Karwendel viele Möglichkeiten dazu, aber heutzutage bevorzugen viele ein festes Angebot – garantierte Erlebnisse auf einer definierten Route.

Einige Übergänge wie am Frau-Hitt-Sattel, der Abstieg vom Stempeljoch, oder die Besteigung des Großen Bettelwurfs sind nicht zu unterschätzen.

Nach erfolgreicher Bewältigung, nachgewiesen durch einen vollen Stempelpass, holt man sich am Ende sein Finisher-Geschenk, die „Karwendel Höhenweg Goody Bag” ab. Ganz im Zeitgeist. Wer diesem hier folgt, sollte allerdings absolut trittsicher und schwindelfrei sein. Einige Übergänge wie am Frau-Hitt-Sattel, der Abstieg vom Stempeljoch, oder die – optionale – Besteigung des Großen Bettelwurfs sind nicht zu unterschätzen. Ebenso halten sich an manchen Stellen steile Schneefelder bis weit in den Juni hinein.

Entspannung vor der Königsetappe

Im Solsteinhaus haben wir Glück: Nach dem Sonnenuntergang über dem Inntal und einem geselligen Hüttenabend bekommen wir noch ein Zimmer für uns allein. Iris und Simon nutzen die Ruhe zum Lesen, während ich mich um die Fotoausrüstung kümmere, Bilder anschaue und in Erinnerungen schwelge. Vor über zwanzig Jahren war ich hier häufig unterwegs. Damals lag in der Kamera ein Diafilm und ich fotografierte für meinen ersten und einzigen Bildband über das Karwendel.

Der Goetheweg führt hoch über Innsbruck zur Pfeishütte. Foto: Wolfgang Ehn

Am nächsten Morgen geht es los zur Königsetappe, die nicht nur sehr abwechslungsreich und landschaftlich wunderschön ist, sondern sich auch ganz schön zieht. Mit offiziell neun Stunden Gehzeit für die meisten eine Herausforderung – so auch für mich. Der Weg geht zuerst bergab, dann weiter im Auf und Ab auf der Nordseite der Nordkette entlang, zuletzt seilversichert rauf zum Frau-Hitt-Sattel.

Während in den ursprünglichen Gebieten des zentralen Karwendel meist Ruhe herrscht, blickt man ins Inntal in die hektische Zivilisation unserer Zeit.

Die Nordkette liegt eigentlich ganz im Süden des Karwendel. Wer jedoch von Innsbruck im Tal Richtung Norden auf die mächtigen Kalkberge schaut, begreift, warum sie so heißt. Oben angekommen werden uns diese zwei Welten wieder voll bewusst. Während in den ursprünglichen Gebieten des zentralen Karwendel meist Ruhe herrscht, blickt man nach Süden ins Inntal in die pulsierende und hektisch wirkende Zivilisation unserer Zeit. Der Abstieg verlangt zuerst volle Aufmerksamkeit, dann quert der Weg zur Seegrube. Von dort nehmen wir die Seilbahn hinauf zum Hafelekar und sparen uns gut 360 Höhenmeter Aufstieg. Weit über dem Alltag im Inntal geht es über den Goetheweg und später über die Mühlkar- und Mandelscharte zur Pfeishütte.

Auf der Terrasse der Pfeishütte lässt sich ein lauschiger Abend genießen. Foto: Wolfgang Ehn

Anderntags setzen wir am „Wilde-Bande- Steig“, erfrischt vom kühlen Wasser der Gumpe, unseren Weg zum Lafatscherjoch fort. Eigentlich zweigt der Karwendel Höhenweg hier nach rechts zur Bettelwurfhütte ab. Iris und Simon sind aber bereits letzte Woche diesen Abschnitt gegangen und in Anbetracht der Zeit ziehen wir weiter. Dabei ist die urige Bettelwurfhütte ein überaus lohnendes Ziel, für einen Tagesausflug vom Inntal aus genauso wie als Stützpunkt auf dem Karwendel Höhenweg. Sie thront wie ein Adlerhost über dem Hall- und dem Inntal und wer will, kann am nächsten Tag noch den fünft - höchsten Karwendelgipfel, den Großen Bettelwurf (2726 m), über Felspassagen und einen leichten Klettersteig mitnehmen. Iris und Simon schwärmen außerdem von dem leckeren und nachhaltigen Essen, auf das die Wirtsleute Katrin und Michael sehr viel Wert legen und vom Brot, das im Außenofen immer frisch gebacken wird.

Der schönste Platz im Karwendel?

Wir überqueren das Lafatscherjoch und steigen ab zum Hallerangerhaus. Direkt neben uns ragen die senkrechten Kalktafeln der Schnittlwände in die Höhe. Faszinierend und bewundernswert, wie ein Freund von mir, der Kletterer und Fotograf Heinz Zak und auch andere, seit den 1980er Jahren hier anspruchsvollste Klettertouren erschlossen haben. Von der Terrasse des Hallerangerhauses, der letzten Hütte am Höhenweg, blickt man auf den benachbarten Lafatscher mit seiner eleganten Nordverschneidung.

Abstieg vom Lafatscher Joch zum Hallerangerhaus. Foto: Wolfgang Ehn

Die Gegend am Halleranger ist mit die schönste und beeindruckendste im gesamten Karwendel. Thomas, der Hüttenwirt, erzählt von dem Klettergarten „Durchschlag“, der vor einiger Zeit mit Unterstützung der Sektion Schwaben unweit der Hütte eingerichtet wurde. Neben den Kletter*innen kommen aber vor allem Tagesgäste aus Scharnitz herauf, von denen sich nicht wenige entspannt auf E-Bikes hochradeln lassen. Unsere letzte Hütte kann auch die erste sein, wenn man den Karwendel Höhenweg andersherum geht, was zunehmend beliebter wird. Für uns bleibt nur noch der lange Abstieg vorbei an den Isarquellen bis nach Scharnitz. Iris bringt die Tour treffend auf den Punkt: ein tolles Erlebnis mit Vielem, was das Karwendel ausmacht. Das Eintauchen in die Welt der Berge über mehrere Tage hinweg, an denen zunehmend innere Ruhe einkehrt. Der Sonnenauf- und untergang, die sternenklare Nacht, die hohen Wände und weiten Kare, aber auch die Freude über eine kleine Quelle am Wegesrand – und an dem, was man geschafft hat. Was will man eigentlich mehr?