Wanderin auf einem Panoramaweg mit Blick auf die steilen Felswände der Grandes Jorasses und den vergletscherten Mont Blanc im Hintergrund
Zieleinlauf auf der Alta Via 1 mit Blick auf die Grandes Jorasses und den Mont Blanc (links). Foto: Isa Ducke/Natascha Thoma
Unterwegs auf der Alta Via 1

Im Schatten der Giganten

Von Deutschland aus liegt das italienische Aostatal gefühlt "hinter den sieben Bergen". Und tatsächlich wandert man hier auf der weniger bekannten Rückseite von Gipfeln wie Mont Blanc, Grand Combin und Matterhorn - und das meist auf einsamen Bergwegen.

Die Alta Via 1, oder auch der „Weg der Giganten“, ist gewissermaßen das südliche Gegenstück zur beliebten Walker’s Haute Route, wird aber viel weniger begangen. Offiziell beginnt der Weitwanderweg in Donnas am Eingang des Aostatals und führt in siebzehn Etappen bis in den bekannten Bergsteigerort Courmayeur. Wir nehmen uns die etwa hundert Kilometer lange Strecke ab Paquier vor. Die Vorbereitung gestaltet sich schwierig. Spezielle Wanderkarten? Gibt es eigentlich nicht. Gar nicht so leicht ist auch, das Klima einzuschätzen. Immerhin sind wir in Italien: Für den Hauptort Aosta sind Temperaturen von über dreißig Grad vorausgesagt, andererseits liegen die Berghütten oft auf gut zweitausend Metern. Also packen wir besser die leichten Steppanoraks ein. Und da in der Saison manche Hütten bereits seit Wochen ausgebucht sind, kommt auch das Zelt mit.

Heißer Aufstieg zum Rifugio Barmasse

Über Turin geht es zunächst mit der Regionalbahn in eineinhalb Stunden bis Châtillon- Saint Vincent, wo wir in einen Bus in Richtung Valtournenche umsteigen. Im Ortsteil Paquier ist die Alta Via 1 dann gut ausgeschildert. Anfangs geht es durch Wald, doch bald steigen die Talwände steil an. Die Sonne brennt, und wir fragen uns etwas beklommen, ob wir all die warmen Kleidungsstücke wirklich über die Berge schleppen müssen. Familien mit Tagesrucksäcken kommen uns von einem Ausflug zum Stausee entgegen.

Um das Rifugio Barmasse spiegeln mehrere kleine Bergseen die Alpenlandschaft wieder. Foto: Isa Ducke/Natascha Thoma

Inzwischen ist es später Nachmittag und kaum noch jemand wandert in unsere Richtung. Zeitgleich mit einer italienischen Familie erreichen wir das Rifugio Barmasse und kommentieren mit einigem Mitgefühl den enormen Rucksack des Vaters. „It‘s for the faaamili“, seufzt er. Und tatsächlich hören wir später mit Erstaunen Föhngeräusche aus dem einfachen Bad der Hütte. Das italienische Hüttenfrühstück ist nicht besonders üppig. Ein paar Scheiben Weißbrot mit Marmelade und Nutella, dazu Cornflakes und Schokopops – und immerhin kräftigen Kaffee.

Mit Erstaunen hören wir Föhngeräusche aus dem einfachen Bad der Hütte.

Um acht sind wir schon unterwegs auf dem langen, eher seichten Anstieg zum Fenêtre du Tsan (2736 m). Dahinter fällt ein Schuttkar supersteil in den nächsten Talkessel ab. Nach unserer Wegbeschreibung sollten wir da runter und auf der anderen Seite wieder hoch, doch erfreut stellen wir fest, dass die Alta Via mittlerweile knieschonender auf halber Höhe seitlich um den Talschluss herumführt. Dafür geht es etwas anspruchsvoller durch felsiges Terrain. Und sogar Blaubeeren gibt‘s am Wegesrand.

Pasta Pipi - wie bitte?!

Gegen fünf stellen wir uns schon am Rifugio Cuney für die kalte Dusche an. Gegessen wird an zwei langen Tischen. Um uns herum schwellen die italienischen Unterhaltungen an und ab, während alle erwartungsvoll die Tür zur Küche im Auge behalten. In der Regel besteht das Hüttenessen aus einem Primo, meist Suppe oder Pasta. Der Secondo ist dann Fleisch mit Gemüse. Und ein Dessert gehört auch dazu. Beim ersten Gang wird am Tisch gekichert – „Pasta Pipi!“ Wir lernen, dass Pasta Pipipi ein typisches Kinderessen ist: drei Ps für Prosciutto (Schinken), Piselli (Erbsen) und Panna (Sahne). Hier ist der Primo zur allgemeinen Erheiterung nur Pasta Pipi: mit Schinken und Sahne. Schade eigentlich, als Vegetarierinnen hätten wir lieber Pasta Pipi mit Erbsen und Sahne gehabt. Für uns gibt es aber eine Gemüsesuppe. Überhaupt ist es mit dem Essen und speziell dem vegetarischen so eine Sache in Italien. Die Hütten liegen alle recht einsam, die Lebensmittel werden per Auto, Seilbahn und zu Fuß heraufgebracht. Für die seltenen vegetarischen Gäste gibt es meist statt Fleisch eine oder zwei dickere Scheiben Käse. Wir nehmen noch einen Nachschlag Suppe – egal, ob das gierig wirkt. Immerhin bekommen wir zum Nachtisch Mousse au Chocolat.

Wild, einsam und karg liegt das Rifugio Cuney. Foto: Isa Ducke/Natascha Thoma

Am nächsten Morgen sind wir früh unterwegs. Heute geht es vor allem viel bergab, insgesamt fast 1800 Meter. Blaubeeren und später unterhalb der Waldgrenze Himbeeren bieten willkommene Pausen. In einem Talkessel stoßen wir auf eine Wandergruppe, die gerade ihre Zelte zusammenpackt. Zelten ist in den Bergen in Italien hier und da erlaubt. Die Hütten sind oft sehr klein, und es ist mit Erlaubnis der Wirtsleute in Ordnung, neben der Hütte sein Zelt aufzuschlagen. Üblich ist es dann, zumindest die Mahlzeiten in der Hütte einzunehmen.

Der Campingplatz liegt malerisch am See und verfügt über alle Annehmlichkeiten der Zivilisation.

Unten im Valpelline überqueren wir die historische Steinbrücke von Betenda und sind bald am Campingplatz. Der liegt malerisch am See und verfügt über alle Annehmlichkeiten der Zivilisation: warme Duschen, ein Lädchen und Wäschewaschbecken! Die steilen Hänge um das Tal sind von Murenabgängen durchzogen, die aussehen wie Bäche aus Beton. Wegen eines Hangrutsches ist auch die reguläre Route der Alta Via 1 auf der nächsten Etappe gerade gesperrt. Statt über den Pass führt die Alternativroute auf halber Höhe um den Berg herum. Den ganzen Tag geht es auf schlecht gewarteten Wegen durch einen Nadelwald, unerwartet anstrengend.

Gemeinschaft im Zeltlager

Am Nachmittag trotten wir durch Ollomont auf der Suche nach dem Zeltplatz, den die Online-Karten zeigen. Dort stehen schon einige Zelte; die Rezeption scheint geschlossen, dafür fordern uns etliche Gäste auf, abends zum gemeinsamen Essen zu kommen. Später sitzen wir bei Zuppa Valpellinese, einer regionalen Spezialität mit Weißbrot, Wirsing und viel Käse und reichlich Wein und Genepy, einem lokalen Kräuterlikör, zusammen. Da stellt sich heraus, die Wiese ist gar kein öffentlicher Campingplatz, sondern ein privates Zeltlager des Alpenvereins von Paina nördlich von Mailand. Ein bisschen peinlich ist es uns schon, dass wir uns quasi eingeladen haben – aber gleichzeitig großartig, so in die italienische Wander-Community integriert zu werden.

Der Col de Malatra ist der höchste Punkt der Route. Hinter dem Felsenfenster wartet der Mont Blanc auf uns. Foto: Isa Ducke/Natascha Thoma

Anderntags geht es bergauf, bergauf und bergauf – knapp 1600 Höhenmeter bis zum Col de Champillon auf 2709 Metern. Von hier oben hat man das erste Mal Blick auf den Mont Blanc. Müde und glücklich sitzen wir eine Weile in der Wiese und genießen die Aussicht. Und das direkt neben einem dicken Büschel Edelweiß, wie wir erst beim Aufstehen feststellen. Beim Abstieg schleppen wir uns missmutig in langen Kehren über Forstwege durch den Wald, am Schluss mehrere Kilometer auf der Straße, weil der eingezeichnete Fußweg von Dessous nach Vachéry nicht mehr existiert.

Bei der Fete La Veillá ist das ganze Dorf mit von der Partie.

Als wir endlich vor dem Campingplatz stehen, wackeln die Knie, die Schulter sticht höllisch und zum Kochen haben wir keine Lust mehr. Was für ein Glück, denn sonst hätten wir das Dorffest wahrscheinlich vor Erschöpfung ausgelassen. Bei der Fete La Veillá ist das ganze Dorf mit von der Partie. Es gibt Kostümumzüge, Marktstände mit traditioneller Handwerkskunst, Tanz und Musik. Wir stellen uns für Käseplatten und heimischen Rotwein an, schlemmen frische Beeren mit Sahne und beobachten mit großen Augen die Festlichkeiten.

Ein Glückstreffer: Das Dorffest von Étroubles. Foto: Isa Ducke/Natascha Thoma

Abends sinken wir wohlig ins Zelt, völlig erschöpft, aber satt und glücklich. Hinter Étroubles geht es ein Stück parallel zur alten Pilgerroute Via Francigena. Erst gegen Mittag lassen wir die Straßenkehre zum Großen Sankt Bernhard-Pass hinter uns und steigen über saftig grüne Almwiesen auf. Vorbei geht es an verlassenen Almhütten und blühenden Alpenblumen. Hier ist kaum jemand unterwegs und das Bergpanorama ist überwältigend. Das recht neue Rifugio Frassati liegt auf 2550 Metern. Das Essen ist gut und reichlich und statt Bettenlager gibt es gemütliche Zimmer mit Stockbetten – nach Geschlechtern getrennt, denn das Rifugio wird von einer christlichen Organisation betrieben.

Grandioses Finale

Gut ausgeschlafen wird der Anstieg durch ein Schuttkar zum Col de Malatra mit Elan bewältigt: 2925 Meter, der höchste Punkt auf der Route! Vortrefflich choreografiert führt der Weg auf eine schmale Felsscharte zu, und ab da kommt der Mont Blanc wieder in den Blick. Ein grandioser, ausgedehnter Zieleinlauf: Die meiste Zeit ist es nicht allzu steil, der Ausblick wechselt hinüber zu den spitzgipfeligen Grandes Jorasses. Nach und nach treffen wir mehr Ausflügler*innen aus dem touristischen Courmayeur. Und ab dem Rifugio Bonatti wird es richtig voll. Plötzlich schnaufen Grüppchen mit riesigen Leihrucksäcken über den Höhenweg – hier verläuft auch die bekannte Tour du Mont Blanc. Nach hundert Kilometern und fast siebentausend Höhenmetern ist es Zeit, bei einer Pizza mit einem Glas Rotwein auf die gelungene Tour anzustoßen. Wir kommen wieder!