
Du lebst als Bergführerin und Profi-Bergsteigerin, was ja immer noch ein ziemlich radikaler "way of life" ist. Hattest du Vorbilder oder Gleichgesinnte?

Ich bin gegen diese Idee von Vorbildern, weil auf diese Art Superhelden entstehen, und ich hätte Angst, dass mein Superheld dann kein guter Mensch ist. Ich habe einfach einen guten Zeitpunkt erwischt, weil die Sponsoren sich im Moment sehr für Bergsport und für Frauen interessieren, aber es war kein großer Plan dahinter. Ich wollte nie jemand werden, der in der Zeitung steht.

Mit deinem Selfie vom Cerro Torre bist du in ziemlich vielen Zeitungen gelandet, unter anderem in der BILD, der auflagenstärksten deutschen Tageszeitung. Wie kam dieses geniale Foto zustande? Normalerweise feiert man den Gipfel mit einer Siegerpose, reckt den Eispickel nach oben oder so.

Wir haben ein paar normale Fotos gemacht und dann dachten wir, okay, jetzt noch irgendwas Beklopptes. Wir waren dann aber völlig überrascht, dass sich die Medien so auf dieses Bild gestürzt haben. Und überall, wirklich überall - Deutschland, Korea, Italien, was weiß ich - haben sie dieses Bild genommen. Auf allen anderen Bildern sehen wir viel netter aus. (lacht)

Die Headwall am Torre wurde 2012 gründlich ausgenagelt, ihr musstet also nicht nur frei klettern, sondern auch selbst absichern. So wie die Headwall dem Wetter ausgesetzt ist, dürfte der Fels dort oben ziemlich mürbe sein. Die Sicherungen also zweifelhaft und das im achten Grad.

Exakt! Man musste sich trauen, ich habe nicht gezögert und bin drauf los geklettert.

When in doubt, run it out?

Ganz genau!

In Frankreich gibt es einen großartigen Bergsteiger namens Léo Billon. Ist er dein Bruder?

Ja, das ist mein "kleiner" Bruder.

Habt ihr in der Nähe der Berge gelebt, als du ein Kind warst?

Nein, aber wir sind mit den Eltern in die Berge gegangen, das war so unser Familiending. Später sind mein Bruder und ich nach Chamonix gezogen.

Die Huber-Brüder waren als Kinder und Jugendliche Rivalen um die Aufmerksamkeit ihres Vaters. Geschwister sind ja immer auch Konkurrenten, während sie sich gleichzeitig sehr nahe stehen. Wie war das bei euch?

Wir haben beide mit dem Bergsteigen angefangen, um die Aufmerksamkeit unseres Vaters zu bekommen, ganz klar. Bergsteigen ist mit einem so großen Risiko verbunden, dass die Frage, warum wir das machen, meistens mit unserer Kindheit zu tun hat.

Zu deinen Expeditionen habe ich die Namen aller Beteiligten gegoogelt, aber dein Bruder war nie dabei. Klettert ihr nie zusammen?

Einerseits fährt er nicht so gern auf Expedition, andererseits ist er viel besser als ich. Wir haben ein paar einfachere Sachen geklettert, die nirgendwo erschienen sind. 2016 haben wir zusammen mit unserem Vater den Freerider am El Capitan gemacht.
Mit Leo und mir ist es wie bei den Huber-Brüdern, wir haben Zeiten, in denen wir harmonieren und Zeiten, in denen wir nicht harmonieren. Aber der Hauptgrund ist, dass er am liebsten zu Hause in Chamonix klettert, während ich lieber Expeditionen mache.

Wie wählst du deine Ziele aus? Geht es um die Linien oder um die Leute, mit denen du unterwegs bist?

Die größte Motivation für mich besteht in der Auseinandersetzung mit der Natur, mit der Wildnis. Ich war gerade zum zweiten Mal in Alaska, und da ist mir erst klar geworden, wie schön es dort ist. Im Gegensatz zum Himalaya sind die Täler mit Eis gefüllt, das ist das Besondere. In Patagonien bist du im Tal und irgendwie neben den Bergen, eigentlich ist die Landschaft flach und manchmal wachsen diese Zähne in den Himmel. In Alaska ist alles riesig und alles ist gefroren.

Ist es nicht auch irgendwie traurig, sich so lange in einer Gegend aufzuhalten, in der es überhaupt kein Leben gibt? Wir haben früher Winterbesteigungen in Chamonix gemacht, bei denen wir zwei, drei Tage in der Wand waren und nichts, wirklich nichts Lebendiges gesehen haben, nur Fels, Schnee und Eis. Spätestens nach 48 Stunden fand ich diesen Aspekt eigentlich immer leicht deprimierend.

Aber es ist trotzdem schön. Und es gibt Leben in Alaska: Spuren von Polarfüchsen zum Beispiel. Außerdem reizt es mich natürlich, eine intensive Zeit mit meinen Partnern zu verbringen, weil ich das Gefühl habe, dass man seine menschliche Seite offenbart. Auf einer Expedition kann man sich nicht vor seinem Partner verstecken und schon gar nicht in einer solchen Landschaft.

Du bist Leiterin der Équipe Nationale d'Alpinisme Féminin, dem Pendant zum DAV-Expeditionskader der Frauen. Der deutsche Kader geht zum Abschluss immer auf Expedition, wie ist das bei euch?

Das Programm ist ziemlich ähnlich: sechs Teilnehmerinnen, drei Jahre, im dritten Jahr die Expedition. Ich habe mich mit Dörte Pietron ausgetauscht, sie leitet das bei euch von Anfang an, seit 2011. Ich bin sehr beeindruckt von dem, was sie erreicht hat. Es gibt diese Kader jetzt auch in Spanien und in der Schweiz. Und bei uns hat es sich schon mal ausgezahlt, in Frankreich hat sich seit der Gründung dieses Teams 2007 die Zahl der Frauen verdoppelt, die die Bergführerprüfung abgelegt haben. Fast alle waren in diesem Team, und jetzt sind wir auf der zweiten Stufe des Prozesses, wo Frauen auf hohem Niveau unterwegs sind, die da gar nicht dabei waren.

Du sagst, du magst keine Vorbilder, aber du bist höchstwahrscheinlich schon ein Vorbild für eure Teinehmerinnen?

Auf diese Art und Weise ist es okay, weil sie mich kennenlernen. Sie lernen kennen, wer ich als Mensch bin.

...jetzt verstehe ich: Wenn sich einer einen großen Fußballer zum Vorbild nimmt und der ist einfach so weit weg, dass wir nur ein Bild sehen können und die Person an sich unerreichbar bleibt - das ist das Superheldentum, von dem du gesprochen hast.

Naja, das ist ein weites Feld, besonders beim Bergsteigen. Die Bereitschaft, ein Risiko einzugehen, hängt sehr mit unserem Ego zusammen. Wir leben in einer sehr egoistischen und narzisstischen Welt. Wenn wir unser Ego zu weit treiben, gehen wir unüberlegte Risiken ein. Damit erschaffen wir das Gefühl des Superhelden, wir zelebrieren diese Risikobereitschaft. Für mich ist das völlig ungesund. Ich sehe da einen Zusammengang zu den Vorwürfen, dass der gefeierte Nirmal Purja sich sexuelle Übergriffe geleistet haben soll. Wir feiern seine Leistung wie die eines Superhelden und dann ist es für ihn schwierig, nicht in die Falle zu tappen. Er glaubt an seinen öffentlichen Charakter und verliert den moralischen Kompass fürs richtige Leben. Mir sind Leute lieber, die schlecht im Bergsteigen sind, aber gut als Menschen.

Gibt es ein typisch männliches Bergsteigen und ein typisch weibliches?

In Frankreich erscheint demnächst ein Buch über Frauen im Alpinismus, ich habe das Vorwort geschrieben und um genau dieses Thema geht es da. Für mich hat es viel damit zu tun, dass der Alpinismus, wie wir ihn jetzt kennen, auf dem Alpinismus der englischen Aristokraten beruht, die im neunzehnten Jahrhundert mit dem Bergsteigen anfingen. Das waren aristokratische, kultivierte und gelangweilte Männer, die dem Rest der Welt zeigen wollten, wie überlegen sie waren. Die Romantik spielte auch eine Rolle, aber nicht im Sinne von Romeo und Julia, sondern im Sinne von Mensch vs. Natur. Eine der zentralen Ideen des Bergsteigens ist eine romantische: Männer sind stärker als die Natur.

Ich klettere jetzt seit fünfzig Jahren, und habe so viele Veränderungen miterlebt - und als die beste Veränderung empfinde ich die unzähligen Frauen, die da draußen jetzt unterwegs sind. Wie frei sie im Kopf sind, das ist einfach großartig zu beobachten. Und man sieht oft zwei Frauen zusammen, nicht Freund und Freundin wie früher immer, das war ja quasi die Missionarsstellung am Fels: er oben und sie unten beim Sichern. Und sobald eine Frau aufgetaucht ist, hat jeder angefangen, ihr Sachen zu erklären, nach denen sie nie gefragt hat. Sie konnten sich, wenn sie wollten, jeden beliebigen Kerl aussuchen, aber wenn sie einfach nur klettern wollten? Das war ziemlich mühsam. Und ich muss gestehen, ich war da ganz genau so.

Das ist doch in Ordnung. Wir alle haben dazu gelernt, warum sollen wir uns immer noch über die Vergangenheit aufregen statt zu sagen: Was tun wir, um das zu ändern?

Zurück zu dir. Du lebst in Chamonix, wie sieht dein Jahr normalerweise aus?

Ich habe eine Wohnung in Chamonix, das ist mein Basislager, das ist ein gutes Gefühl, weil ich mehr als fünfzehn Jahren quasi Nomadin war. Ich war immer unterwegs, habe für zwei Monate eine Wohnung gehabt und sie dann wieder gekündigt. Diese Wohnung habe ich jetzt seit drei Jahren und es fühlt sich sehr gut an, einen Ort zu haben, an den ich zurückkehren kann. Es ist sehr, sehr befreiend. Dieses Jahr war ich zwei Monate in Patagonien, einen Monat in den USA, einen Monat in Alaska und Kanada, jetzt bin ich seit vier Wochen hier. Nächsten Monat steige ich in meinen Van und klettere irgendwo in Europa.

Gehst du auch mit deinem Freund zusammen auf Expeditionen oder klettert ihr lieber getrennt? Auf deiner Homepage steht, du lebst mit ihm zusammen?

Nicht mehr. Wir waren in diesem Klischee, dass er der Mann ist und ich die Frau, die ihm nachsteigt - und diese Touren waren damals viel zu hart für mich. Davon musste ich mich emanzipieren. Seitdem habe ich es geschafft, selbstbewusster zu werden. Aber ich wundere mich immer noch, wie ich vor Männern reagiere: 'Oh, das ist eine schwierige Länge, du machst das bestimmt schneller.' Ich war mit richtig guten Freunden unterwegs, die haben immer gesagt: 'Du kannst das, Lise, du gehörst hierher.' Das hat mir sehr geholfen.

Aber du warst auf Expeditionen mit Männern, für eure Erstbegehung am Riso Patron in Patagonien habt ihr den Piolet d'Or bekommen, für eine andere Route eine Nominierung, so schlecht kann es also nicht geklappt haben?

Ich bin da halt auch gewachsen. Es war ein harter Weg. Ich habe diese zwei Anläufe am Cerro Torre als Frauenseilschaft gebraucht und jetzt fange ich wieder an, mit Männern zu klettern. Vielleicht auch wieder mit einem "Boyfriend", aber dazu müsste ich erst wieder einen haben (lacht).

Pläne für die Zukunft?

Ich möchte ein bisschen zum Mixed-Klettern zurückkehren, Alaska, die Rockies, große Wände probieren und viel unterwegs sein, mal schauen.

"Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann" - beschreibt dich dieses Zitat nicht ganz gut?

Ja, das bin ich, mein Denken wechselt ziemlich oft die Richtung. (lacht) Ich bin eine Nomadin und, ja, ich bin ein freier Geist. In der Outdoor-Branche fühle ich mich ein bisschen wie ein Spinner, weil ich nicht so viel Wert auf Leistung lege...

Noch einmal: Du hast einen Piolet d'Or gewonnen und eine Nominierung und sagst, du legst keinen Wert auf Leistung?

Letztes Jahr in Pakistan sind wir fünf Tage lang am Stück geklettert, für mich war es eines meiner Meisterstücke, aber wir haben den Gipfel nicht erreicht, es interessiert also niemanden. Aber für mich war es eine meiner besten Erfahrungen überhaupt... hmhhhh, ist mir Leistung also doch wichtig und nur der Erfolg nicht so sehr?
Keine Ahnung, ich bin ziemlich glücklich mit meinem Leben und glücklich, dass meine Sponsoren mir das ermöglichen. Und um auf das Thema 'boyfriend' zurückzukommen: es ist schwierig, einen Kerl zu finden, der bereit ist, einen freien Geist, eine freie Frau an seiner Seite zu haben. Das ist nicht üblich. Die Bergführer hier in Chamonix dagegen haben fast alle Frauen, die zu Hause auf sie warten.

Wäre es für dich nicht auch schön, wenn du von einem harten Tag am Berg nach Hause kommst und da ist ein Mann, der für dich kocht?

Aber Hallo! Wenn du jemanden weißt, ruf mich an!