Gruppe von Kindern beim Wandern in den Bergen
Mit der Jugendgruppe zum Klettern: ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg zum eigenverantwortlichen Bergsteigen. Foto: Nico Lindlar
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Die Entwicklung eines Menschen

Vom Neugeborenen zum Säugling, vom Kleinkind zum Schulkind, einmal quer durch die Pubertät ins Erwachsenenleben – das Erwachsenwerden ist ein wilder Ritt mit vielen Änderungen und Erlebnissen. Peter Nickl-Baur (Dipl.-Sozialpädagoge, Kinder- und Jugendpsychologe) erklärt die zentralen Entwicklungen.

Niko Lindlar

Kannst du nochmal kurz zusammenfassen, was die zentralen Entwicklungsschritte zwischen Geburt und Eintritt ins Erwachsenenalter sind?

Peter Nickl-Baur

Im Prinzip geht es um das in kleinen Schritten unabhängig von den Eltern werden, dabei Fähigkeiten entwickeln, eigene Lebensräume erobern. Das ist dann in der späteren Phase, der Pubertät, besonders wichtig. Besonders bis 6, 7 Jahre ist viel Halt und Fürsorge durch die Eltern, aber auch durch die öffentliche Erziehung nötig. Damit kann es dann in kleinen Schritten in die eigene Unabhängigkeit gehen, der größte Schritt passiert hier ab ca. 12-14 Jahre. Die Jahresangaben sind natürlich immer eine Spannbreite, das kann auch immer ein bisschen früher oder ein bisschen später passieren.

Niko Lindlar

Siehst du in deiner Arbeit Probleme mit dieser Entwicklung, diesen Schritten, bzw. kann man das so darauf eingrenzen?

Peter Nickl-Baur

Insgesamt kann man schon sagen: Gut gebundene, gut „gehaltene“ Kinder entwickeln sich auch gut. Ein zentrales Thema in meiner Arbeit sind Bindungsschwierigkeiten – entweder zu wenig Bindung oder zu stark eingeengt werden. Letzteres ist aber der kleinere Teil. Meine Ansicht ist, dass oft zu wenig Bindung an die Eltern existiert. Das ist vielleicht auch nicht ganz Mainstream, aber ich glaube, dass eine gute Bindung an die Eltern sehr wichtig ist und besonders in jungen Jahren die öffentliche Erziehung nicht unbedingt einen so großen Raum einnehmen muss.

Niko Lindlar

Du hast die öffentliche Erziehung erwähnt, damit meinst du vermutlich Kindergarten und Schule, richtig? In welcher Rolle siehst du denn die außerschulische Jugendarbeit bei der Entwicklung junger Menschen?

Peter Nickl-Baur

Ich sehe die Jugendarbeit als sekundären Sozialisationsfaktor mit einer wichtigen Aufgabe. Hier geht es darum, sowohl die Kinder Schritt für Schritt in die Unabhängigkeit begleiten als auch eine Sozialisation mit der Gruppe zu erreichen. Das ist besonders für die Kinder wichtig, die aus nicht so stabilen Elternhäusern kommen. Was die Jugendarbeit da leistet, das können Schulen und institutionelle Betreuung nicht ersetzen. Ich halte das für ein ganz zentrales Angebot. Selbstverständlich kann Jugendarbeit nie Eltern und einen festen Halt zuhause ersetzen, aber sie kann ergänzen und fördern in Bereichen, wo die Eltern das nicht mehr können. Es gibt ja auch viele Eltern, die das aus Ressourcenmangel nicht können, das ist schade. Meiner Erfahrung nach ist – anders als früher – heutzutage „Selbstbeschäftigung mit Medien“ eine Art „Überschwemmung“ und es ist notwendig, dass es da andere Angebote gibt. Leider ist es so, dass – wieder in meiner Erfahrung - insgesamt die Jugendarbeit abgenommen hat. Ich war als junger Mann ja auch selber sehr aktiv in der Jugendarbeit und den Rückgang, den ich da sehe, das ist sehr bedauernswert. Also zumindest sind die Aktivitäten der Pfadfinder und des CVJM sehr zurück gegangen, mir begegnet es in meiner Arbeit und der Stadtrandlage in der ich lebe deutlich seltener als früher.

Niko Lindlar

Und nun noch eine übergreifende Frage: Was ist deine Einschätzung, geht es jungen Menschen heute schlechter und wenn ja, woran könnte das liegen?

Peter Nickl-Baur

So allgemein würde ich das nicht sagen. Die konkreten Lebensbedingungen von früher und heute sind qualitativ ganz anders. Früher waren viele Entwicklungsräume vorhanden für Selbstwirksamkeitserfahrungen, heute ist das Leben eher durchorganisiert, z.B. in der Ganztagesschule. Da gibt es wenig Räume, wo Kinder sich selbstständig entfalten und selbstwirksam werden können, ihre eigenen Erfahrungen machen können.

Niko Lindlar

Ich selbst war oder bin ja auch Jugendleiter und strahlende Kinderaugen, wenn sie gerade etwas selbst geschaffen haben oder ein Problem gelöst haben, waren für mich immer das Tollste.

Peter Nickl-Baur

Ja genau, gerade für Jugendleiter und Jugendleiterinnen ist das ja Selbstwirksamkeit in doppelter Weise: Sowohl für die Jugendleiter als auch für die Kinder! In der Jugendarbeit kann ich mir Ziele setzten und diese erreichen: Außerhalb der rein schulischen Ziele, das ist breiter gefasst. Hier geht es dann um die persönliche Entwicklung.

Niko Lindlar

2023 hat ein Schweizer Outdoor-Bekleidungshersteller eine Befragung unter Eltern durchgeführt zum Thema „Zeit an der frischen Luft verbringen“. Ca. 2 Drittel aller Eltern sagen darin, sie hätten früher mehr Zeit draußen verbracht. Das restliche Drittel genau so viel wie ihre Kinder, aber nicht weniger. Auf Basis dieser Befragung scheint es also, Kinder verbringend heutzutage weniger Zeit draußen. Kommt dir das aus deiner Arbeit bekannt vor, wie schätzt du die Folgen von dieser Reduktion der „Outdoor-Zeit“ ein?

Peter Nickl-Baur

Draußen selbsttätig sein, entdecken, Entfaltungsräume haben, soziale Erfahrungen machen, das ist heute schwieriger. Es gibt weniger Entdeckungsräume und damit auch weniger Entfaltungsräume. Ich sehe das schon auch so, dass es sicher weniger Möglichkeiten zum draußen spielen gibt, ohne da jetzt konkrete Zahlen zu haben. Wir haben auch andere Vorstellungen heute, was für „Entfaltungsmöglichkeiten“ es gibt oder geben soll – hier hat sicher auch eine Entfremdung von der Natur stattgefunden. Daher finde ich, dass der Jugendarbeit in dem Bereich eine ganz besonders wichtige Rolle zukommt!

Niko Lindlar

Na wenn das mal kein gutes Schlusswort ist für ein Interview im Magazin des Deutschen Alpenvereins! Peter, vielen Dank für das tolle Gespräch und deine Zeit!

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