Highlights des Alpinismus.Illustration: AdobeStock/zzooby
Highlights des Alpinismus (Teil 5)
Der Siebte Grad und "by fair means" (1970er- bis 1980er-Jahre)
Eine mehrteilige Reise in die Alpinismus-Historie lädt ein, herausragende Berg-Ereignisse kennenzulernen – ebenso wie die Menschen, die hinter diesen Geschichten stehen.
Highlights des Alpinismus.Illustration: AdobeStock/zzooby
31. Oktober 2025
Lesedauer: 23 Minuten
"Der siebte Grad" hieß das Buch, in dem Reinhold Messner 1973 konstatierte, dass man wohl kaum vom Grad VI+ als "Grenze des Menschenmöglichen" sprechen dürfe, wenn so bewertete Routen mit weniger Haken, alleine oder im Winter begangen wurden. Das Ideal des freien Kletterns (ohne Hakenhilfe) war in England, den USA und dem Elbsandstein immer gepflegt und auf hohes Niveau gebracht worden – in den Alpen wurde die Öffnung der Schwierigkeitsskala erst in den 1970ern Realität.
Das Aufbruchsjahrzehnt nach Vietnamkrieg, Studentenprotesten und Hippiebewegung setzte neue Energien frei, die mageren Nachkriegsjahre waren endgültig vorbei und die Jugend konnte ihre Energien dem Sport widmen. Optimierte Ausrüstung (der 1969 gegründete DAV-Sicherheitskreis testete systematisch Material, aus England und den USA kamen Klemmkeile und Friends zur schnellen mobilen Sicherung) erlaubte verlässliche Sicherung und damit, wie Reinhard Karl feststellte, gezielte Gänge an und über der Sturzgrenze; zunächst in den Klettergärten, dann auch in den Alpen. Gesteigertes Können im Fels, viel Freizeit und bessere Sponsoring-Möglichkeiten trugen auch dazu bei, dass an den Bergen der Welt neue, anspruchsvollere Stilformen entstanden, analog zu den Alpengipfeln nach dem "Goldenen Zeitalter".
Reinhold Messner setzte publikumswirksam neue Marksteine, Engländer und Bergsteiger aus dem Ostblock (Jugoslawien, Polen) begingen schwierigste Wände, teils in kleinen Teams, oder stiegen im Winter auf die Achttausender. In den Alpen hatte sich derweil der Tourismus zum Massenbetrieb entwickelt, die Alpenvereine verstärkten ihr Naturschutz-Engagement, und im "Grundsatzprogramm" von 1977 beschloss der DAV, keine neuen Hütten und Wege mehr zu bauen.
Reinhold Messner hinterlässt mit dem „Mittelpfeiler“ (500 m, VI+, A0 oder VIII-) am Heiligkreuzkofel eine der legendärsten Kletterstellen der Alpen, mit einer extrem kleingriffigen, ungesicherten Vier-Meter-Boulderplatte; für die damalige Zeit eine andere Dimension. Sein Können in allen Disziplinen bewies er damals auch in extremen Solos – danach erstürmte er die Berge der Welt.
29.–31. Januar 1973 – Senkrecht durchs Eis
Das „Drucouloir“ (700 m, ED, 80°, V, A1) in der Nordwand des Petit Dru ist ein Symbol für die Weiterentwicklung der modernen Eistechnik: Vor allem Eisgeräte mit scharfen Hauen erlaubten es Walter Cecchinel und Claude Jager, auch steilstes Eis frei zu erklettern. Diese Leistung ist heute kaum mehr nachvollziehbar, wo die Ausrüstung noch weiter perfektioniert wurde und zum Beispiel von Hand leicht setzbare Eisschrauben jederzeit Sicherheit versprechen. Das McIntyre-Couloir (1200 m, ED+, 90°, V, A0, M5) an der Grandes Jorasses (4208 m) von Alex McIntyre und Nick Colton setzte 1976 noch eins drauf.
10. August 1975 – Zu zweit am Achttausender
Reinhold Messner und Peter Habeler durchsteigen als Zweierseilschaft die Nordwestwand des Gasherbrum I (8080 m). Eine schwierige Wand auf einen Achttausender (zweite Besteigung), ohne Träger und Lagerkette – das inspiriert die Szene.
24. September 1975 – Die Wände der Riesen
Die Südwestwand des Mount Everest (8848 m) wird von einer englischen Expedition unter Chris Bonington erstbegangen. Doug Scott und Dougal Haston erreichen den Gipfel und überstehen beim Abstieg ein Freibiwak auf 8700 Metern, obwohl ihnen der Flaschensauerstoff ausgeht. Auch an den höchsten Gipfeln rücken nun schwierige Wände und lange Grate in den Fokus – und statt großer Expeditionen mit Fixseil- und Lagerketten sind es oft kleine Seilschaften leistungsstarker und risikobereiter Topathleten vor allem aus England, Polen und Slowenien, die sich den Aufgaben stellen.
2. Juli 1977 – Der Siebte Grad
Pumprisse (VII) – eine der wichtigsten Routen der Alpingeschichte. „Weil wir in den Rissen gepumpt haben wie die Maikäfer beim Hochzeitsflug“, war der Name rasch geklärt. Eine Konzept-Tour, die zu dem Zweck erstbegangen wurde, die UIAA-Schwierigkeitsskala, die beim Grad VI+ („äußerst schwierig, obere Grenze“) endete, zu objektivieren und zu erweitern.
Helmut Kiene wollte die Linie am Fleischbankpfeiler schon im Herbst 1976 mit Bernd Kullmann erstbegehen, doch schlechtes Wetter vertrieb die zwei aufs Oktoberfest, wo sie mit einem befreundeten Garmischer versumpften und zuletzt mit ihm nachts nach GAP fuhren – samt zwei Amerikanern, die sie in einer Kneipe kennengelernt hatten und die sich beim Aufwachen sehr wunderten …
Im Frühling darauf konnte „Kulle“ nicht; der DAV-Schriftleiter Elmar Landes vermittelte Kiene Reinhard Karl als Begleiter und Fotograf und schmuggelte Kienes perfekt argumentierten Beitrag an der internen Zensur vorbei in die „DAV-Mitteilungen“ – der Rest ist Geschichte (siehe nachfolgende Infobox). Heute reicht die Schwierigkeitsskala bis zum Grad XII; und das ist nicht doppelt so schwierig wie VI, sondern exponentiell schwerer.
1978 – Jenseits des siebten Grades
In den USA, wo schon lange die englische Freikletterethik gepflegt wurde, ist der siebte Grad längst überwunden – mit spektakulären Ikonen. Ron Kauk bouldert „Midnight Lightning“ (V8 / Fb 7B+) und bringt Klettern als Bewegungskunst in die internationalen Magazine. Ähnlich schockierend ist sein waagerechtes Sechs-Meter-Rissdach „Separate Reality“ (VIII+) im Yosemite, gesichert an den „Friends“, die der Raumfahrttechniker und Kletterer Ray Jardine entwickelt hat. Und im Jahr darauf klettert Leonard Coyne die gleiche Schwierigkeit bei der ersten freien Begehung der 600 Meter hohen Half-Dome-Nordwestwand.
In den Alpen wird der achte Grad zumindest angekratzt: VIII- gibt es für Reinhard Schiestls und Luggi Riesers „Mephisto“ am Heiligkreuzkofel, für „Supertramp“ (400 m) am Bockmattliturm von Martin Scheel und Gregor Benisowitsch 1980 – ein Jahr später auch für „Locker vom Hocker“ (200 m) an der Schüsselkarspitze-Südwand von Wolfgang Güllich und Kurt Albert (a.f., 1. Rotpunkt: Stefan Glowacz, Peter Gschwendtner) und die „Voyage selon Gulliver“ (400 m) von Michel Piola am Grand Capucin.
8. Mai 1978 – Ohne Flaschen
Ärzte hatten medienwirksam verkündet „ihr werdet verblödet von dort zurückkommen.“ Dennoch wagen Reinhold Messner und Peter Habeler den Aufstieg auf den Everest (8848 m) ohne Hilfssauerstoff – und gewinnen. 1980 steigt Messner völlig alleine auf den Nanga Parbat (8125 m), später im gleichen Jahr ebenso einsam auf den Everest (wieder ohne Flasche): Jede neue Aktion ließ die Szene zusammenzucken. 1986 hatte Messner als erster Mensch alle 14 Achttausender bestiegen, teils auf neuen Routen oder Überschreitungen, und nie das Hilfsmittel Flaschensauerstoff verwendet.
1982 – Moderne Zeiten!
„Moderne Zeiten“ an der Marmolada-Südwand bewerten Heinz Mariacher und Luisa Iovane zwar „nur“ mit VII+. Wiederholer finden die erste Seillänge allerdings deutlich „streng bewertet“ – und vor allem setzen die Erstbegeher keinen Bohrhaken, sondern beschränken sich auf Normalhaken und Klemmkeile: ein Statement für Zurückhaltung und sauberen Stil, das bis heute jeden beeindruckt, der sich der Route stellt.
Luisa Iovane und Heinz Mariacher an der Marmolada Südwand.Foto: Archiv Mariacher
1984 – Grad Neun in den Alpen
Martin Scheel treibt das alpine Sportklettern weiter: In „Amarcord“ (320 m) an der Siebten Kirchlispitze (Rätikon) klettert er 1984 erstmals in den Alpen den Grad IX-; ein Jahr drauf den glatten Grad IX in „Kein Wasser, kein Mond“ (100 m) am Wildhuser Schafberg und 1986 auch in größerer Wand, mit „Hannibals Alptraum“ (220 m) an der Vierten Kirchlispitze, die durch ihre Hakenabstände auch die Psyche fordert.
1986 – Vollgas durch die Nacht
Erhard Loretan und Jean Troillet nehmen den Everest im Handstreich: während der Nacht steigen sie auf gut gefrorenem Firn die Nordwand hinauf, ruhen sich bei Sonne aus und rutschen beim Abstieg auf dem Hintern hinunter; nach nur 40 Stunden sind sie zurück, natürlich ohne Hilfssauerstoff. Cleveres Konzept, cool umgesetzt – so geht Inspiration.
Eindrucksvoll: die Nordseite des Mount Everest.Foto: Luca Galuzzi, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons