Der Walserweg
Viele Täler der Westalpen sind geprägt von der Erschließungstätigkeit und Kultur der Walser. So bietet die Wanderung von Thusis zum Lukmanierpass neben großzügigen Landschaften auch Einblicke in die Geschichte.
von Stefan Neuhauser
Als Bergführer komme ich seit über zwanzig Jahren in den unterschiedlichsten Alpentälern herum. Immer wieder stoße ich dabei auf die Kultur der Walser. Ihre Fähigkeit, sich an Geografie und Klima von Hochlagen und abgelegenen Gebieten anzupassen, fasziniert mich jedes Mal aufs Neue. Auch die Menschen in diesen Regionen sind interessant. So half ich einmal der Enkelin einer in die Jahre gekommenen, aber immer noch rüstigen Bäuerin auf der Staffal oberhalb von Gressonney bei den Mathe-Hausaufgaben, während die Oma Schmugglergeschichten aus der Zeit des Mussolini-Regimes erzählte. War es Zufall oder Bestimmung, dass ich für eine Führung auf dem Graubündener Walserweg von Thusis zum Lukmanierpass eine Gruppe eingesessener Oberstdorfer bekam?
Oberhalb von Thusis tost der Rhein durch die Via-Mala-Schlucht, bekannt durch einen Bergroman, erschlossen durch Straßen und Eisenbahn. Zwischen der Schlucht und dem Walserort Mutten schlendern wir durch Almwiesen und über eine neuzeitliche Hängebrücke nach Zillis; ein gemütlicher Beginn. Der Bus bringt uns zum Quartier im Gasthaus Roflaschlucht. Auch ein Beispiel für das Meistern der Lebensumstände: Auf der Suche nach Arbeit war der Sohn der Besitzer nach Amerika ausgewandert; angesichts der Niagarafälle kam ihm die Idee, die Kaskaden des Rheins für Touristen zu erschließen. Eine erfrischende Nachmittagsdraufgabe zur ersten Etappe. Am nächsten Morgen bringt uns der Postbus nach Splügen. Früher einmal „Vogelberg“ genannt, ist es der geografische Knotenpunkt zwischen dem Splügenpass und dem San Bernardino – die Handelswege mit ihrem Warenverkehr boten den im Rheinwald lebenden Walsern unterschiedliche Verdienstquellen: als Bauern, Fuhrleute, Gastwirte, Säumer und Handwerker. Aus Balken „gestrickte“ Walserhäuser stehen zwischen massigen Gasthöfen und steinernen großen Handelshäusern. Von 1280 datiert die erste Urkunde einer Walsersiedlung, ein Stück weiter, in Hinterrhein. Der Weg zum Safierberg oder „Löchlibeerg“ führt uns durch ein schmales halbtonnenförmiges Gewölbe, „das Törli“ im Splüger Oberdorf. Hier wurden einst die Waren von Pferden auf die Rücken der Bergträger umgeladen. Als wir drei Stunden später die Passhöhe des Safierbergs erreichen, belohnt uns eine Aussicht bis zu den Eisriesen der Bernina.
Erst in den 1950er Jahren wurde das Safiental mit einer Strasse vom Vorderrhein erschlossen, als die zwei wenig hübschen Ausgleichsbecken der Zervreilawerke gebaut wurden – das bedeutete Postbusanbindung, Strom und Licht für alle Höfe im Tal. Zuvor war der Safierberg ein wichtiger Übergang, über den die Safier ihr Vieh auf die Märkte bis in die Poebene trieben. Die Industriealisierung und Verstädterung Norditaliens bot einen dankbaren Absatzmarkt für Rindfleisch aus dem Safien- und Valsertal. Zwischen 1300 und 1310 waren ebenfalls über den Safierberg die Walser aus dem Rheinwald ins Safiental gezogen. Die Freiherren von Vaz erhofften sich von der Kolonisation eine Stärkung ihrer militärischen Macht und Vorteile für den Handelsweg über den Safierberg. Wälder und Weiden gehörten damals dem Kloster Cazis, das sich von der Rodungsarbeit der Walser einen vermehrten Ertrag versprach. Bisher kannte ich das Safiental nur im Winter. Im Hochwinter bis Ende Februar bieten die baumfreien Hänge ein feines Gelände zum Tourengehen mit hoher Pulverwarscheinlichkeit. Im historischen „Turrahus“, wo wir heute übernachten, entdecke ich in Irene Schulers Buch über den Graubündner Walserweg eine faszinierende Geschichte über einen frühen „Wintersport“: Auf ihren Handelsrouten nach Süden verwendeten die Valser Bergträger im Winter Schneereifen, Schlitten und das „Reitbrett“, um Lebensmittel über die Pässe zu transportieren. Dabei waren die Schneereifen eine Art Vorläufer unserer heutigen Schneeschuhe, das Reitbrett quasi eine historische Form des Snowboards. Mit den Reifen stiegen sie zweimal zur Passhöhe auf, jeweils mit fünfzig Kilo Lasten auf dem Rücken, und fuhren auf dem Reitbrett wieder ins Tal. Nach einer Zwischenübernachtung fuhren sie dann am nächsten Tag mit den 100 Kilogramm Ware auf dem Schlitten zum Zielort.
Das Snowboard, das bei seinem Aufkommen in den 1980er Jahren von vielen Skifahrern schräg angesehen wurde, hat also sozusagen jahrhundertealte Wurzeln – in der Walserkultur. Unsere nächste Etappe, der Tomülpass, verbindet die beiden von Walsern besiedelten Täler Safiental und Valsertal. Er hat eigentlich nur regionale Bedeutung, ist aber erstaunlich gut ausgebaut – im Zweiten Weltkrieg in Zwangsarbeit von polnischen internierten Studenten. Jenseits der Passhöhe laden die Landschaft um die Alp Tomül und der mäandernde Bach im „Riedboda“ mit seinem bläulich schimmernden Wasser zum Verweilen ein. Wer weiß, ob die bronzezeitlichen Jäger, die um 1300 bis 1000 vor Christus hier unterwegs waren – was der Fund eines Dolchs aus der Bronzezeit belegt – sich nicht auch vom Glucksen und Plätschern des Wassers haben inspirieren lassen? Bei uns jedenfalls dauert es nicht lange, und die komplette Gruppe schläft im weichen Gras. Nur die Vorfreude, auf dem Dorfplatz von Vals einen „Chafeschümli“ mit Nusstorte oder ein Bierchen mit „Röschti“ zu genießen, lässt uns das Mittagsschläfchen unterbrechen und frohen Schrittes den Abstieg fortsetzen. Doch die Einkehr will verdient sein: Die starken Regenfälle vom Wochenende haben den steilen Weg ausgespült, die Erde ist nass und rutschig, die Oberschenkel glühen.
Den kompletten Artikel lesen Sie in DAV Panorama 5/2015