In Sella Nevea (1190 m) kann man vergleichsweise günstig pisteln und sehr schöne Skitouren gehen. Bei meist guter bis sehr guter Schneelage, denn durch die Nähe zur Adria gehört der Gebirgsstock um den Großen Kanin (2587 m) zu den schneereichsten Gebieten der Alpen. Wie praktisch, dass es dort eine der wenigen Hütten in den Julischen Alpen gibt, die auch im Winter geöffnet hat: das Rifugio Celso Gilberti (1850 m). Marco Milanese, Bergführer und Paralpinist aus Udine, hat uns auf die Schatten- und auf die Firnseite von Sella Nevea geführt. Mit steilen Abstechern nach Slowenien, einem Grenzübertritt durch ein Felsloch und Ragout vom Pistenhirsch.
Wenn man mit Marco unterwegs ist, deutet er mit dem Skistock gern auf Gipfel und Felsnadeln, Scharten und Rinnen: Dann geht es um Abfahrten hier, um Basejumps dort, um Kletterrouten, um Highlines und ganz besonders um Wingsuit-Flüge. Denn Marco ist ein wahrer Multisportler. Einer, der von sich sagt, dass er die Berge gern „interpretiert”: fliegend oder kletternd, auf Ski oder mit dem Gleitschirm. Mit uns, Torsten, Boris und mir, wird Marco die Julischen Alpen bei Sella Nevea auf Ski interpretieren. Bei uns fliegt höchstens Boris’ Drohne, die allerdings manchmal mit dem Nebel und den Felswänden nicht so gut klarkommt. Wir selbst fliegen von Sella Nevea mit der Gondel hinauf zum Rifugio Celso Gilberti, unserem Quartier für die nächsten Tage.
Berghütte und Cafébar
Steil und neblig, felsig und weiß präsentiert sich der Kaninstock als langgezogener Grat hinter dem Rifugio mit seinen blauweißen Fensterläden. Bei unserer Ankunft Mitte März herrscht großes Gewusel: Die Trainer der paralympischen Ski-Teams, die im Skigebiet trainieren und Rennen fahren, essen zu Mittag. Die Bergretter von der Finanzpolizei und die Pistenraupenfahrer schauen auf einen Espresso vorbei. Tagsüber ist das Rifugio Gilberti eine Art Cafébar für das ganze Skigebiet. Und das Tourengebiet darüber. Mittendrin: die Hüttenwirtsleute Fabio Tschurwald und Irene Pittino mit ihrem Pane Nero – dem Hüttenhund, schwarz wie Schwarzbrot, der freundlich allen zuwedelt. Fabio trägt ein Käppi im Patagonia-Design mit der Aufschrift „Julian Alps“, Irene präsentiert sich als freundliche Hütten-Hippiefrau: langer Zopf, Wollweste über einem buddhistisch angehauchten Heavy-Metal-T-Shirt, Halskette und mehrere Armreifen.
Unsere Eingehtour führt am späten Vormittag auf die Sella Ursič (2280 m), die kurz hinter der Hütte mit einer steilen Querung beginnt und dann über Mulden und Hänge durch den nebligen Karst führt. Auf dem Sattel fellen wir ab und erhaschen einen Blick zum Großen Kanin. Marco erzählt, dass man hier bei dichtem Nebel besser gar nicht loszieht, weil man sonst riskiert, in Dolinen und Schächte zu fallen, die auch im Winter offen sein können. Der vom Nebel gekühlte Schnee fährt sich in der Abfahrt erstaunlich flott. Pulver? Nicht wirklich. Heruntergekühlter Firn? Egal, er fährt sich gut und griffig.
Am Nachmittag geht es nach einer Panini-Pause – Käse und Schinken, mit oder ohne Zwiebeln – nochmal nach draußen. Von der Prevala-Scharte (2067 m) steigen wir in einer Rinne zum Sattel Ovčja škrbina, von dem nicht einmal Marco einen italienischen Namen kennt. Und wo uns die letzten Aufstiegsmeter im Nebel so steil vorkommen, dass wir nicht wissen, ob es wirklich so steil ist oder ob uns das nur der Nebel so empfinden lässt. In der Abfahrt geht es steil in ein trogförmiges Tal, das nach Bovec/Flitsch führt. Und im Aufstieg wieder zur Prevala-Scharte. Weil der Nebel nochmals dichter geworden ist, beschließen wir, es gut sein zu lassen.
Im Rifugio duftet es nach Abendessen: Minestrone und Ragout von einem Hirsch, der im Bereich der mittleren Piste gelebt haben soll, wie Hüttenwirt Fabio versichert.
Von den vielbehangenen Wänden blickt ein Porträtgemälde von Celso Gilberti auf das Hüttengeschehen, dem Kletterhelden aus dem Friaul, der 1933 im Alter von 22 Jahren tödlich an der Paganella verunglückte und nach dem die 1934 eröffnete Hütte benannt ist. Als wir die üppige Schneelage um die Hütte diskutieren, zückt Fabio eine historische Aufstellung der gemessenen Schneehöhen. Den Rekord hält der Winter 2013/14: In Summe waren damals auf 1850 Metern 15,67 Meter gefallen, mit einer maximalen Schneedecke von 6,7 Metern. Was für ein Schneeloch!
Abends kehrt in und vor der Hütte Ruhe ein. Wir sind die einzigen Übernachtungsgäste, draußen flattert die italienische Flagge im Wind, dahinter zeichnen sich die Umrisse des Bila Pec-Gipfels ab. Pane Nero massiert sich den Rücken an den Rillen der frisch präparierten Piste. Gegenüber – hinter der Bergstation der Gondel, zu der man gehen muss, wenn man Handyempfang sucht, – lockt der mächtige Montasch mit seinen Firnhängen.
Am nächsten Morgen ist das landschaftlich eindrucksvollste Skitourenziel im Kaningebiet unser Ziel: der Monte Forato, der perforierte Berg mit seinem Felsenfenster (Foro del Monte Forato, 2391 m), das nach dem slowenischen Namen des Berges auch als Prestreljenik-Fenster bekannt ist. Man kann es von der Hüttenterrasse gut sehen, dieses Kunstwerk der Erosion, durch das man von der slowenischen Seite des Felskammes auf die italienische – oder umgekehrt – wechseln kann. Wir steigen von der Sella Prevala zur Sella Forato, wo wir eine slowakische Tourengruppe treffen. Die geschlossenen Anlagen des Skigebiets von Bovec stehen nebulös in der Landschaft herum. Nach dem Ausfall der Tal-Gondel ist unklar, wann das Skigebiet von Bovec wieder öffnen wird. Bis dahin freuen sich die Skitourenfans über die Ruhe auf der slowenischen Seite des Kaninstocks. Zuerst fahren wir in einem Wechsel aus Brutzel-Sonne und Nebel nach Südosten, Richtung Slowenien ab. Am besten laufen die Ski in alten Lawinenbahnen, weil dort kein eingeweichter Pulver bremst. Im Wiederaufstieg zum Felsenfenster erleben wir, wie sich ein italienischer Tourengeher von einem Freund per Handy durch die Rinnen und den Nebel einer Steilwand lotsen lässt, die er von oben im Nebel nicht richtig einsehen kann. Wir sind froh, als er unten heil angekommen ist.
Am Felsfenster steigen wir die ersten Meter zu Fuß Richtung Italien ab. Marco erinnert noch einmal an seine wichtigsten Tipps für steile Hänge: „Die Stöcke kürzer als sonst. Checkt nochmal, ob ihr richtig in der Bindung seid. Und macht bitte Jump-Turns!“
Und schon saust er nach unten. Der Schnee ist im Schatten der Felswand so pulvrig wie er auf der slowenischen Seite feucht war, nur auf kleine Steine, die der Wind aus den Felsbändern geblasen hat, muss man aufpassen. Und auf die Siktourengeher*innen, die von der italienischen Seite aufsteigen.
Am Nachmittag geht es noch mal zur Sella Prevala. Dann queren wir über flaches Gelände zum Einstieg in den Canale delle Pecorelle Basse. Eng und verdammt steil sieht die sogenannte Felsrinne der Schäflein aus, die wir abklettern müssen, um in die Abfahrt zu gelangen. Für alle Fälle haben wir Steigeisen in die Rucksäcke gepackt. Als Marco die Rinne in Augenschein nimmt, meint er, dass es gut auch ohne gehen könnte. Der Bergführer will aber erstmal den Schnee testen und klettert ein paar Meter ab.
Kurz nachdem wir Marco aus dem Blick verloren haben, ruft seine sonore Stimme auf Italo-Englisch nach oben: „Guter Stapfschnee. Geht ohne Steigeisen. Ihr könnt kommen!“
Es klingt ein wenig, als ob er uns, seine Schäflein, zum Essen rufen würde. Ich folge Marcos steilen Tritten im Schnee als erster, dann mit Abstand Torsten. Schon lange habe ich meine Skistiefel nicht mehr so konzentriert in den Schnee gehauen: Zuerst mit zwei, drei Stößen den rechten, dann den linken. Dann die Ski und Stöcke auf der kalten Schneeoberfläche ein Stück nach unten ziehen. Kurze Pause: ein schneller Blick nach oben und einer durch die Beine nach unten. Rechter Fuß. Linker Fuß. Pause. Rechter Fuß. Linker Fuß. Pause. Als kurz vor dem Ende der steilen Rinne die Schneeauflage plötzlich dünner und härter wird, bekomme ich nur noch die äußerste Spitze der Skischuhe in den Schnee. Mein Puls geht nach oben. Doch bevor ich den Gedanken ausformuliere, dass Steigeisen vielleicht doch keine so schlechte Idee gewesen wären, ist die Rinne auch schon zu Ende. Ein paar Meter rechts unterhalb steht Marco auf Ski im steilen Hang. Ich platziere Stöcke und einen Ski in den Spalt zwischen Felswand und Schnee, bin Marco dankbar, dass er eine so schöne Plattform zum Anschnallen hinterlassen hat, ramme das hintere Ende des Talskis so gut es geht in den Schnee und steige – Klick – in die Bindung. Als ich auch noch den Bergski unter den Füßen spüre, kommt mir alles sehr viel weniger krass vor als ein paar Minuten zuvor. Was haben Stahlkanten doch für eine beruhigende Wirkung …
Von der Nord- auf die Südseite
Am Abend zeichnet sich sternenklar eine kalte Nacht ab. Gute Bedingungen für die Firn-Tour am nächsten Tag auf der Südseite des Montasch (italienisch: Jôf di Montasio, 2754 m). Nach dem Frühstück und dem Abschied von Fabio, Irene und Pane Nero, der nur ungern den Tennisball herausrückt, mit dem ich die Spitze meines Pickels entschärfe, rattern wir mit vollen Rucksäcken über die hartgefrorenen Pisten ins Tal. Kurzes Umpackeln, dann geht es mit Marcos Auto über die steile Almstraße in Richtung Altipiano di Montasio: schneebedeckte, leicht geneigte, von losen Baumgruppen unterteilte Almwiesen, die schon langsam auffirnen. Darüber die Südkette des Montasch-Stocks, der an einen noch höheren Wilden Kaiser erinnert. Zwischen Lawinenkegeln arbeiten wir uns nach oben, in Richtung der Forca del Palone (2242 m). Marco erzählt, dass das die erste Skitour seines Lebens war, auf die ihn sein Vater mitgenommen hat. Ganz schön anspruchsvoll für eine Premiere denke ich mir, als es Richtung Scharte merklich steiler wird und der Schnee noch hartgefroren ist, weil die Sonne erst seit wenigen Minuten draufscheint. Gut, dass wir die Harscheisen aufgezogen haben. Über uns sind zwei Skialpinisten vom Kar aus auf eine breite, steile Rampe hinübergequert. Die stapfen sie, zwei kleine Punkte mit Ski am Rucksack, Richtung Modeon di Montasio (2573 m) hinauf.
An der Palonescharte angekommen, blicken wir ins kalte, schattige Herz der Montasch-Gruppe hinab: in die Spragna, das Ende des Saiseratals tausend Meter tiefer. Darüber mächtig aufragend der große östliche Nachbar des Montasch, der Jôf Fuart (Wischberg, 2666 m) mit seinen berühmten Scharten (Mosesscharte, Bärenlahnscharte etc.). Weil es in unserer Scharte noch sehr zapfig ist, verschieben wir die Pause in den Firn und machen uns flott auf die Abfahrt in die Sonne. Hinter uns der Montasch, unter uns der Firn und gegenüber wie im Breitwandkino die Kaningruppe. Zurück in Tarvis schlemmen wir uns bis zur Abfahrt des Zuges durch den Ort. Und kaufen essbare Souvenirs ein. So fährt auch der Montasio mit nach München zurück – als wohlduftender Bergkäse.