Fluss schlängelt sich durch ein Tal mit kahlen Bäumen und Feldern, im Hintergrund sind schneebedeckte Berge unter bewölktem Himmel zu sehen.
Ausblick über das Vjosatal bei Kaludh (Oberlauf). Foto: Kirsten Adlunger
Europas letzter Wildfluss

Wildnis für die Vjosa oder Trinkwasser für die Küste?

Albanien ist ein Rising Star unter den Reisezielen. Lange stand das kleine Balkanland für kommunistische Diktatur, Massenflucht und organisiertes Verbrechen. Nun wandelt sich das Image langsam. Grund dafür ist auch ein Fluss: In weiten Bögen windet sich die Vjosa durch riesige Kiesbänke, umgeben von sanften Hügelketten und aufragenden Bergmassiven. Sie gilt als letzter großer freifließender Strom Europas, der mit seinen Schotterinseln, verzweigten Flussarmen, weiten Auen und Nebenflüssen ein einzigartiges, dynamisches Flusssystem bildet.

Im März 2023 erklärte Albanien die Vjosa zum ersten Wildfluss-Nationalpark des Kontinents – eine immense Errungenschaft für die Natur und ein starkes Aushängeschild für Albanien. Über Jahrzehnte drohte der Flusslandschaft Gefahr: Mehr als zehn Wasserkraftwerke hätten an ihrem Lauf gebaut werden sollen. Dass es anders kam, ist einer der erfolgreichsten Naturschutz-Initiativen zu verdanken, die der Balkan seit den Neunzigerjahren gesehen hat. Trotzdem steht ihre Unberührtheit auf dem Spiel. Müll an den Ufern, ein geplanter Flughafen im Deltagebiet und Trinkwasserableitungen für den Küstentourismus gefährden das Ökosystem. Kann ihr Schutz gelingen? Wie bewältigt Albanien den Spagat zwischen Naturschutz und wirtschaftlicher Entwicklung und wie formt der Tourismus das Land?

Breit gefächerter Einsatz für den Fluss

An einem Wintertag im Februar 2024 steht Dorina Islami, tief in ihre Regenjacke und Kapuze gehüllt, nahe Kuc am Ufer der Shushica, einem der wichtigsten Zuflüsse der Vjosa. Dorina Islami ist mit der Gegend sehr verwurzelt. Sie lernte in der Vjosa schwimmen, ihr Opa liegt am Flussufer begraben. Die Endvierzigerin blickt freundlich, aber ernst. Gemeinsam mit etwa hundert anderen protestiert sie heute gegen die Regierungspläne, Wasser zur Küste abzuleiten. Diese Flusslandschaft zu bewahren, ist ihr ein Herzensanliegen.

Auch Raftguide Irma Tako wäre gerne zu dem Protest gefahren. Doch in wenigen Tagen wird sie Albanien auf der Internationalen Tourismusmesse (ITB) in Berlin präsentieren – und ihre Aufgabenliste ist noch lang. Spätabends sitzt die Gründerin des Rafting-Unternehmens "Vjosa Explorer" noch an ihrem Rechner, vor ihr liegen diverse Zettel mit Notizen. Sie wirkt unermüdlich. Inzwischen verbindet Irma Tako ihre Leidenschaft für heimische Pflanzen und Erzeugnisse mit dem Raftbetrieb. "Diese Region hat so viel zu bieten", sagt sie. "Die Produkte und der Geschmack sind Teil des kulturellen Reichtums, Teil der Identität."

Regionale Sammelstücke und Erzeugnisse von Irma Tako beim "Vjosa Explorer". Foto: Kirsten Adlunger

Ein breites Sortiment an Sirups, Marmeladen und Eingelegtem steht heute auf Tischen in ihrem Büro – das zugleich Aufbewahrungsort für Raftingausrüstung und Ausstellungsraum ist – und wartet darauf, beschriftet und verpackt zu werden und seine Reise nach Berlin anzutreten: Albaniens Ministerin für Umwelt und Tourismus, Mirela Kumbaro, bat Irma Tako diese Spezialitäten von den Hängen und Ufern der Vjosa auf der Messe vorzustellen. Für Irma Tako ist die Mischung aus der Präsentation regionaler Geschmacksvielfalt und lebhaften Ausflügen auf dem Wasser, bei denen sie von der Region erzählt, auch ein Werkzeug, die Vjosa zu bewahren. Mit ihren Touren will sie auf den einzigartigen Charme des Flusses aufmerksam machen.

Anders als bei vielen Flüssen in Westeuropa wurde ihr Lauf nie begradigt oder bebaut. Mit ihren Kiesbänken, wandernden Flussarmen, ausgedehnten Auen und Nebenströmen bildet sie ein einmaliges, lebendiges Wildflusssystem. So etwas wie die Vjosa gibt es kein zweites Mal in Europa.

Die Vjosa – türkis und seidenmatt

Der Betrieb von Irma Tako liegt nahe von Permet, einer kleinen Stadt im Süden Albaniens, auf mittlerer Strecke der Vjosa. Von ihrem Haus aus hat man einen Blick auf den türkisenen, seidenmatten Fluss. Die Vjosa strömt hier durch enge Felsformationen, bevor sie später in weiten Bögen entlang ausgedehnter Kiesbänke mäandert. Im griechischen Pindosgebirge entspringt der Fluss als Aoos und fließt nach etwa achtzig Kilometern als Vjosa durch Albanien weiter, bis er in einer Ebene nahe der Hafenstadt Vlora ins Mittelmeer mündet. Nicht nur die Vjosa selbst, sondern auch ihre wichtigsten Nebenflüsse sind Schutzgebiet, ein vierhundert Kilometer langes Adernetz. Es zieht Wander-, Paddel- und Abenteuerlustige an, ebenso wie Ökolog*innen, die die Einzigartigkeit dieses Refugiums erforschen.

Zwischen felsigen Ufern strömt die Vjosa hier nördlich von Permet. Foto: Kirsten Adlunger

Albanien – im Kommunismus jahrzehntelang vom Rest der Welt isoliert – expandiert spätestens seit 2017 als Reiseland. Mehr als vierzig Jahre lang waren Ein- und Ausreisen verboten, existierten kaum Handelsbeziehungen zu anderen Ländern. Stattdessen prägten Überwachung, Einschränkung der Meinungsfreiheit und Repressionen die Gesellschaft. Nach der Öffnung 1991 verließ mehr als die Hälfte der Menschen das Land. Nun kommen die Tourist*innen in die entgegengesetzte Richtung. Immer mehr Reisende wollen das Land an der Adria sehen. Während vor zehn Jahren noch gut drei Millionen Gäste das Land besuchten – was in etwa der Einwohnerzahl Albaniens entspricht – waren es 2023 mehr als zehn Millionen. Es verwundert nicht: Flüsse, Berge, Seen, Meer – alles liegt dicht beieinander. Abgeschiedene Naturerlebnisse, Eintauchen in albanisch-europäische Geschichte, städtische Ausflüge sowie Entspannen im Hotel am Küstenstreifen, alles lässt sich gut verbinden.

Gleichzeitig steht Albanien vor großen Herausforderungen. Stromausfälle sind keine Seltenheit, es gibt keine flächendeckende Trinkwasserversorgung und das Müll- und Recyclingsystem befindet sich vielerorts noch im Aufbau. Die Tourismusspitzen verschärfen diese Probleme: Die Müllabfuhr kommt nicht nach, Kläranlagen sind überlastet, Gaststätten kämpfen mit dem Andrang und der Verkehr bringt die Straßen zum Erliegen.

Dass Tourismus und Umweltschutz in Albanien in einem Ministerium vereint sind, ermöglicht eine synergetische Entwicklung. Der Vjosa-Nationalpark ist bereits ein großes Werbemittel. In einem Statement des albanischen Umwelt- und Tourismusministeriums heißt es: "Auch die neue Tourismusstrategie für 2024-2030 legt den Schwerpunkt auf nachhaltigen und naturfreundlichen Tourismus." Am Tag der Nationalpark-Unterzeichnung, im Frühjahr 2023, war Irma Tako auf dem Wasser. "Es war sehr emotional", erinnert sie sich zurück und hält kurz inne. Kaum ein Jahr später wirkt der erkämpfte Schutz sehr zerbrechlich. Die Vjosa ist auf dem Papier geschützt, aber ob das auch in der Praxis funktionieren wird, fragen sich viele.

Wachstumsmotor Massentourismus – Zukunftsvision Ökotourismus

Für einen möglichen Beitritt Albaniens in die EU spielen auch Umweltbelange eine Rolle. Im jüngsten Bericht des Europäischen Parlaments würdigt dieses die Schaffung des Vjosa-Nationalparks und das zivile Engagement hierfür. Es fordert außerdem, "Projekte einzustellen, bei denen die Gefahr besteht, dass nationale und internationale Normen zum Schutz der biologischen Vielfalt verletzt werden." Betont werden besonders der Bau von Wasserkraftwerken und des Internationalen Flughafens Vlora, der im Mündungsraum der Vjosa – in unmittelbarer Nähe eines bedeutenden Vogelschutzgebietes mit Rosaflamingos und Pelikanen, der Narta-Lagune – weiter voranschreitet. Das Ziel der Regierung: den Flughafen bis 2025 fertigstellen, um mehr Reisende zu empfangen.

Gleichzeitig gehört die Verbesserung der Lebensbedingungen zu den wichtigsten Aufgaben des Landes, eine Heranführung an EU-Standards. Albanien verfügt über große Wasserressourcen. Trotzdem haben viele Menschen keinen Zugang zu sauberem, beständigem Trinkwasser. Der Ministerpräsident Albaniens, Edi Rama, sicherte als Teil der Wasser-Strategie 2020-2030 für neunzig Prozent der Gebiete eine ununterbrochene Trinkwasserversorgung bis 2025 zu.

Im südlichen Teil Albaniens soll die Shushica Abhilfe schaffen – sie ist ebenso majestätisch türkis, ebenso Teil des Nationalparks. Ihr Wasser soll siebzehn Kilometer entfernt 80.000 Menschen an der Küste konstant mit Trinkwasser versorgen. Eine immense Steigerung der Lebensqualität. Das Wasser dient jedoch auch zur Versorgung der stetig wachsenden Besucherströme, vor allem im Sommer. Die geplante Entnahme ist beträchtlich: 104 Liter pro Sekunde – bei einem durchschnittlichen Wasserfluss von 139 Litern pro Sekunde. Doch nach der Entnahme fehlt das Wasser im Flusslauf – insbesondere in den trockenen, heißen Sommermonaten. Die Folgen wären eine stärkere Austrocknung des Wasserlaufs unterhalb der Ableitung und weniger Wasser für die Bevölkerung. Der Wassermangel würde die lokale Landwirtschaft und damit die Lebensgrundlage der Anwohnenden beeinträchtigen. Ebenfalls betroffen wäre die Artenvielfalt im und am Fluss. An Shushica und Vjosa gibt es Arten, die nur dort vorkommen. Dazu zählen Fische, Muscheln und Schnecken. Auch Pflanzen, wie der östliche Erdbeerbaum, der in Albanien nur im Vjosa-Tal wächst, und Vogelarten, wie Uferschwalbe und Flussregenpfeifer, die zu den bedrohten Arten nach IUCN, der internationalen Naturschutzorganisation, gehören. "Jegliche Veränderung des Lebensraums, Beschädigung des Flussbetts, Verringerung des Wasserflusses würde sich erheblich negativ auf die Populationen dieser Vögel auswirken", erläutert Kristi Bashmili von der Albanischen Ornithologischen Gesellschaft (AOS).

Die Ausweisung als Nationalpark soll das Flusssystem rund um die Vjosa schützen. Foto: Kirsten Adlunger

Die Vjosa und ihr gesamtes Flusssystem gelten als bedeutende "Referenz". Forschende können untersuchen, wie sich Ökosysteme entwickeln, die noch weitestgehend unbeeinflusst und intakt sind – was in anderen Regionen so nicht mehr möglich ist. Eine Veränderung der Abflussdynamik würde diese Möglichkeit zunichtemachen. 

Der geplante Eingriff an der Shushica würde zudem die Glaubwürdigkeit des Nationalparks in Gefahr bringen, so Olsi Nika. "Was an der Shushica passiert, könnte dann auch andernorts geschehen." Olsi Nika und Besjana Guri haben vor gut zehn Jahren Eco Albania gegründet, eine nationale Umweltschutzorganisation, die besonders im Gewässerschutz aktiv ist. Die NGO bildete sich aus Biolog*innen der Universität Tirana und dem albanischen Team der Kampagne "Save the blue heart of Europe". Diese Kampagne, initiiert von der Stiftung EuroNatur und der österreichischen Gewässerschutz-Organisation Riverwatch, verfolgt das Ziel, auf die bedrohten Flüsse des Balkans aufmerksam zu machen und diese wertvollen und unberührten Gewässer zu schützen. Viele Verbündete aus Wissenschaft, Bevölkerung, Naturschutz, Paddelgemeinschaft und Anwaltswesen unterstützen die Initiative. Auch Prominente, wie Leonardo di Caprio, sprechen sich für die einzigartige Landschaft aus. "Jahrelange Kämpfe gingen der Einrichtung des Nationalparks voraus", sagt Olsi Nika.

Die Zukunft des Flusses – viel erreicht, weiter viel zu tun

Ab Tepelana weitet sich das Tal deutlich und die Vjosa bildet weit verzweigte Flussarme aus. Foto: Kirsten Adlunger

Viel wurde schon erreicht für den Naturschutz: Der Bau diverser Wasserkraftwerke entlang der Vjosa und ihren Nebenflüssen konnte abgewendet werden. Gut zehn Jahre hielt die Regierung daran fest, mehrere Staudämme zur Stromgewinnung zu errichten. Solche Projekte werden vielfach gut subventioniert und der Strom wird benötigt. Doch die Umweltauswirkungen sind immens. Gewöhnlich trägt der Fluss Geröll und Gesteine kontinuierlich vom Oberlauf, dem Ort, wo er entspringt, Richtung Meer. Er verändert seinen Lauf, verlagert sein Flussbett. Wird er für die Wasserkraft gestaut und nach den Bedürfnissen des Strommarktes reguliert, fehlt diese natürliche Dynamik. Ein aufgestauter Fluss gräbt sich unterhalb der Staudämme weiter ein. Der Grundwasserspiegel sinkt, Brunnen trocknen aus. Zudem werden während der Bauphase Tier- und Pflanzenwelt durch schwere und laute Maschinen geschädigt.

Aktuell gewinnt Albanien seinen Strom nahezu vollständig aus Wasserkraft. Drei große Kraftwerke erzeugen mehr als die Hälfte des Stroms, viele kleinere tragen deutlich unwesentlicher bei. Doch in den trockenen Sommermonaten stößt die Wasserkraft an ihre Grenzen. Nur etwa siebzig Prozent des Bedarfs können gedeckt, der Rest muss durch teure Importe ergänzt werden. In heißen, regenarmen Sommern hielt die albanische Regierung bereits zur Stromdrosselung an, kündigte steigende Tarife bei höheren Verbräuchen an. Zunehmend setzt das Land auf Wind und Sonne. "Dafür hat Albanien ein riesiges Potenzial", so Olsi Nika. 

An einem Tisch im vierten Stock eines Hochhauses sitzen die Mitarbeitenden von Eco Albania zusammen. Olsi Nika trägt noch den "Espid 4 Vjosa"-Button vom vorherigen Meeting am Pulli. Es ist der Titel eines Projektbausteins, in dem Politik, Wissenschaft und Bevölkerung zusammengebracht werden, um über den konkreten Schutz der Vjosa zu sprechen. Der Nationalpark ist ausgewiesen, nun braucht es Maßnahmen, wie sein Schutz langfristig sichergestellt werden kann, wie etwa durch die Entwicklung nachhaltiger Tourismuskonzepte, Umweltbildung oder Infrastruktur für Abfallbeseitigung – ausgearbeitet in Managementplänen.

Protest an der Shushica gegen die geplante Wasserableitung, im Hintergrund die Verlegungsrohre. Foto: Kirsten Adlunger

Heute jedoch geht es um den fortschreitenden Bau an der Shushica. Ein Protest wird organisiert, eine Pressekonferenz, eine Exkursion für Interessierte und Medienschaffende. Viel Zeit bleibt nicht mehr. Vierzehn der siebzehn Kilometer Rohrleitung sind bereits verlegt. Niemand informierte die Menschen vor Ort, die auf das Wasser angewiesen sind. Schon gar nicht wurden sie beteiligt. Auch die ökologischen Auswirkungen wurden nicht ausreichend untersucht. Gewöhnlich müssen bei solchen Infrastrukturprojekten sogenannte Umweltverträglichkeitsprüfungen (UVP) vorgenommen werden – komplexe Verfahren, die Alternativen abbilden, die Bevölkerung einbeziehen und Maßnahmen ableiten, um Umweltfolgen abzumildern. Alle drei Aspekte fehlen. Nationale und internationale Forschende, die den Prozess für die Genehmigung der Wasserausleitung aus der Shushica überprüften, kamen zu dem Schluss, dass die genutzten Daten und Ergebnisse unzureichend bis falsch seien und weisen auf "irreversible ökologische Folgen" hin. Auch Auswirkungen des Klimawandels seien nicht berücksichtigt worden. Grundlegend werden für Albanien steigende Temperaturen, abnehmende Regenfälle und fallende Wasserspiegel prognostiziert. Olsi Nika betont, es müssten andere Wasserquellen gefunden werden, die nicht das Ökosystem des Nationalparks gefährden.

Am Protesttag an der Shushica regnet es immer wieder kräftig. Doch das Wetter hält hier niemanden auf. Als der Nationalpark ausgerufen wurde, war die Freude groß. Die letzten Jahre und Jahrzehnte verließen viele Menschen in der Region ihre Dörfer. Ökotourismus verspricht eine neue Perspektive. Doch dazu braucht es den Schutz der Landschaft, den Schutz durch den Nationalpark.

Sollten die Bauarbeiten nicht gestoppt werden, müsste die Shushica aus dem Nationalpark gestrichen werden. Dann kann die Region nicht vom Ökotourismus profitieren.
- Ulrich Eichelmann, Geschäftsführer von Riverwatch

Über fünfzig Anwohnende haben sich mit Eco Albania zusammengeschlossen und Klage gegen das Projekt eingereicht. Gemeinsam wollen sie Albaniens Umweltministerin Mirela Kumbaro davon überzeugen, das Projekt an der Shushica zu stoppen. Nur wenige Tage später ist Mirela Kumbaro zu Gast in Berlin und betont in ihrer Rede auf der ITB 2024 in Berlin die große Bedeutung des Landtourismus und des Vjosa-Nationalparks für Albanien.

In Albanien ließe sich Einiges noch aufhalten, was in Europa und vielen Teilen der Welt mit den Wasseradern exzessiv geschehen ist: Sie wurden begradigt, aufgestaut, ausgebaggert, verunreinigt, umgeleitet. Vielfach wird in aufwändigen Projekten versucht, gegenzusteuern, die Natur wiederherzustellen. Dem jahrelangen intensiven Ausbau der Wasserkraft stellt sich mittlerweile eine breite Dam-Removal-Bewegung entgegen, um Flüsse wiederzubeleben und die Fische in ihre Gewässer zurückkehren zu lassen. Die Biodiversitätsstrategie der EU von 2020 formuliert das ambitionierte Ziel, 25.000 Flusskilometer bis zum Jahr 2030 zu renaturieren. Das im Juni 2024 verabschiedete "EU-Gesetz zur Wiederherstellung der Natur" verpflichtet die Mitgliedsstaaten, dieses Ziel mit konkreten Schritten zu erreichen. Dazu gehört die Entfernung von Staudämmen oder die Wiederherstellung von Überschwemmungsflächen und Feuchtgebieten, um Flüsse, soweit möglich, wieder frei fließen zu lassen und die Artenvielfalt zu stärken. "Unter natürlichen Bedingungen bilden Flüsse mit ihren Auen die artenreichsten Ökosysteme Mitteleuropas", gibt das Umweltbundesamt an. 

Frei fließend, aber nicht frei von Herausforderungen

Solch unbeeinflusste Auen, Schotterfelder und Nebenbäche gibt es an der Vjosa reichlich. Und doch trüben noch andere Umweltprobleme den Blick. Läuft man am Ufer entlang, fällt auf, wie viel Müll in der Umwelt landet. Bunte Plastikfetzen zieren stellenweise ganze Uferläufe, hängen in den Büschen und Bäumen, wirken fast als seien die Ufer dekoriert worden – erinnern ein Stück weit an Gebetswimpel von Himalaya-Fotos – und sind doch Ausdruck der ungenügenden Abfallentsorgung. Nur wenige Kilometer von der Mündung bleibt auf einem vermüllten Ufer kein unbedeckter Fleck: Windeln, Flaschenansammlungen, zerbrochene Plastikstühle, gefüllte Müllbeutel.

In der Nähe von Permet säumt Müll das Ufer der Vjosa. Foto: Kirsten Adlunger

Da Deutschland Albanien in einigen Projekten beim Aufbau seiner Ver- und Entsorgungsstrukturen unterstützt – wie auch bei der umstrittenen Shushica-Ableitung durch finanzielle Mittel der Förderbank KfW – lassen sich bei deutschen Behörden Informationen finden. So gibt die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) an, dass nur die Hälfte der albanischen Haushalte an die Kanalisation angeschlossen ist, "der Rest fließt ungeklärt in Flüsse, Seen und das Meer". Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) führt an, dass die Entsorgung von Abfall in vielen Gegenden noch ungeregelt ist. "Müll wird häufig auf wilden oder schlecht geführten Deponien entsorgt."

Im Dorf Petran, am Oberlauf der Vjosa, sitzen der Fischer Tani Jami Tole und die Lehrerin Alma Cupi beisammen. Alma Cupi erzählt von weiteren Umweltproblemen: In Tagebauen werde Kies aus dem Fluss gebaggert, die Landschaft sei oft vermüllt. "Das gesamte Abwasser wird in den Fluss geleitet", sagt sie. Und doch sei die Landschaft schön. Tani Jami Tole trinkt von seinem Bier, die Zigarette in der Hand. Aber das Land habe noch andere Probleme, es sei schwierig, sagt er. "Es gibt wenig Arbeit und viel Korruption." Veränderungen seien langsam.

Die Vielschichtigkeit von Albaniens Dilemma ist spürbar: Eine bessere Lebensqualität für seine Bürger*innen, intakte Natur und wirtschaftliches Wachstum. All das scheint schwierig auszutarieren. Der Massentourismus gilt als zentrale Stütze für die ökonomische Entwicklung. Dank seiner Einnahmen können Infrastruktur aufgebaut und Arbeitsplätze geschaffen werden. Doch die Kosten für das sensible Flusssystem der Vjosa sind hoch. Ein nachhaltiger Tourismus böte auch die Chance, sich touristisch von der Saisonabhängigkeit zu befreien und über die heißen Sommermonate am Strand hinaus zu tragen – mit Aktivitäten wie Wandern, Klettern, Paddeln und Baden in heißen Quellen, vom Frühling bis in den Winter. Bei der diesjährigen ITB 2025 im März eröffnete Albanien als offizielles Gastland die Messe und beeindruckte unter dem Motto "Albania All Senses" mit seinen einzigartigen Naturlandschaften, kulturellen Wurzeln und touristischen Potenzialen. Es bleibt fraglich, mit welcher Intensität der Massentourismus an der Küste vorangetrieben wird – und ob die Küste dem Hinterland das Wasser abzweigt.

Fernab der Shushica zeigt sich Alma Cupi zuversichtlich: "In den letzten Jahren sind deutlich mehr Touristen in diese ländliche Region gekommen." Ob es am Nationalpark läge oder Albanien insgesamt bekannter würde, sei nicht sicher, aber in jedem Fall sei es gut. "Das bringt Veränderung, Aufschwung", sagt sie.