Irmgard, hast du dich mit dieser Neun selbst überrascht?
Nee, gar nicht. Ich hatte zuvor in der Türkei eine 8+/9- geklettert und dort noch wegen meinem lädierten Knie etwas Angst… aber das hat mitgespielt. Meine Schonzeit war also vorbei – und ich wusste, dass meine Power für diese Tour reichen würde.
Du kletterst im Vergleich zu den allermeisten älteren Kletterinnen und Kletterern noch mit 72 Jahren sehr schwer. Woran liegts?
Ich bin jemand, der gerne an seine Grenzen geht und mein Körper macht das zum Glück mit. Außerdem projektiere ich gerne schwere Routen und bouldere darin, das macht mich stärker. Rumzuknobeln und Lösungen für Stellen zu finden, die zu Beginn nicht kletterbar erscheinen, fasziniert mich, das ist für mich die Essenz des Kletterns. Der Kopf spielt dabei sicher auch eine Rolle, ich habe nie daran geglaubt, dass mein Alter mich am schwer Klettern hindert. Aber ich bin definitiv kein Trainingsmonster - und ich habe auch keinen asketischen Lebensstil. Dafür schätze ich Schokolade und guten Wein viel zu sehr.
Wie hast du das Klettern für dich entdeckt?
Ich bin schon als Teenager Hochtouren gegangen und über Grate gekraxelt, das war der Beginn. Als ich dann Referendarin an einer Schule in Marbach war, bin ich alleine in die Hessigheimer Felsengärten gefahren und habe dort in Quergängen rumgebouldert. Dabei wurde mir sofort klar: das ist mein Ding. In den Jahren danach lag mein Fokus aber erst einmal auf alpinen Touren, was damals das Übliche war. Zum Sportklettern kam ich dann erst in den Achtzigerjahren nach einem Kreuzbandriss im Knie, weil damit für mich die ganz großen Gebirgstouren nicht mehr möglich waren.
Deine erste Klettertour im 9. Grad hast du dann aber erst relativ spät gemacht?
Ja, die erste glatte Neun am Fels war mit Anfang 50. Mit 53 Jahren kletterte ich am Fels bis 9+. In den Jahren danach, bis etwa Anfang 60, hatte ich häufig Verletzungsphasen, in dieser Zeit standen die alpinen Sportkletterrouten mehr im Vordergrund. Danach konzentrierte ich mich wieder auf Einseillängen-Routen, und mit 65 Jahren war ich wieder in der Nähe einer Neun – meine letzte hatte ich 2006, also fast zehn Jahre zuvor, geklettert. 2017 hatte ich dann aber einen Mofaunfall, mein Handgelenk war gebrochen. Der Muskelschwund danach war erschreckend.
Im Jahr danach hast du dann aber wieder eine Neun geklettert. Wie hast du es geschafft, dich zurückzukämpfen?
Ich wollte nicht zum Softmover werden, ich hasse Platten! Nach dem Unfall habe ich sobald wie möglich speziell meine Fingerkraft trainiert. Ich habe mir auch selbst Druck gemacht, weil ich auf den sozialen Medien meinen Plan angekündigt habe, im nächsten Jahr, im Alter von 66 Jahren, eine Neun klettern zu wollen. Das Echo darauf war gewaltig - und ich habe es zum Glück hingekriegt. 2018 gelangen mir zwei glatte Neuner und mehrere Neunminen. Mit 69 Jahren schaffte ich dann eine 9+, „Open Box“ in der Tarnschlucht.
Welche Kletterei magst du besonders und was sind deine Lieblingsklettergebiete?
Kleingriffig, leicht überhängend und lange Strecken mag ich, Sloper hasse ich. Und ich liebe die Gorges du Tarn in Frankreich und das Frankenjura.
Wie trainierst du?
Zuhause, wenn ich nicht auf Klettereisen bin, trainiere ich halbwegs konsequent: Zweimal in der Woche stehen Core, Schulterstabi, Antagonisten-Training und Stretching auf dem Programm, was insgesamt jeweils eine Stunde dauert. Und an zwei Wochentagen bouldere ich am Seil. Das ist nicht nur ein super Krafttraining – auch das Bewegungsrepertoire erweitert sich und die Klettertechnik wird dadurch besser. Außerdem gehe ich etwa einmal in der Woche leichtere Routen. Im Winter kommt dann für sechs Wochen noch ein Hängetraining an Leisten dazu.
Was liebst du am Klettern, was gibt es dir?
Klettern ist vielfältig und kreativ, jede Route ist anders. Wenn du kletterst, fokussierst du dich ganz auf das, was du tust, du lebst im Moment. Und ich liebe das Gefühl, mich festzukrallen. Ich bin schon als Kind in Bäumen rumgeklettert. Wobei mir die schwierigen Stellen besonders viel Spaß gemacht haben.
Wie geht es weiter mit Irmgard Braun? Welche Ziele hast du?
Ich würde gerne noch etwas dazulernen beim Klettern und ein bisschen stärker werden. Und ich will andere Senioren motivieren, beim Klettern dranzubleiben und an sich zu glauben.
Mehr über Irmgard und ihr Leben unter irmgard-braun.de