Seit 2022 klettern Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam im dortigen DAV-Kletterzentrum – an mittlerweile zwei Terminen pro Woche. Nicht nur die Begeisterung der Teilnehmenden, auch die Nachfrage ist enorm groß. Diesen Senkrechtstart honorierte der Bundesverband mit dem alljährlich vergebenen Ehrenamtspreis. Die Initiatoren Marcus Wehner und Christian Schmidt sowie die Trainerin Lena Schumacher nahmen die Auszeichnung am 22. November auf der Hauptversammlung in Passau entgegen. #KletternOhneGrenzen ist ein Erfolgsmodell, das weitere Sektionen inspirieren kann, inklusive Angebote auf die Beine zu stellen. „Einfach mal machen!“, so lautet das Credo von Marcus Wehner, Inklusionsbeauftragter der DAV-Sektion Bremen. Im Interview gibt er spannende Einblicke in das Projekt.
Marcus, #KletternOhneGrenzen richtet sich an Menschen mit Behinderung. Das ist ja sehr allgemein formuliert. Wer darf denn alles bei Euch mitmachen?
Bei uns sind in der Tat alle willkommen. Zunächst haben wir eine breite Altersspanne: Das jüngste Kind momentan ist zehn, die älteste Teilnehmerin ist um die 60. Genauso verhält es sich bei den Einschränkungen. Wenn Menschen zu uns kommen, fragen wir in der Regel nicht „Was hast du für eine Behinderung?“ Wir nehmen sie auf, kommen ins Gespräch und dann gehen wir an die Wand und gucken uns das einfach mal an. Bei uns muss niemand den Behindertenausweis vorzeigen, sondern alle Menschen sind herzlich eingeladen.
Dann seid Ihr also eine bunt gewürfelte Truppe?
Ja, die Streuung der medizinischen Indikationen ist sehr breit. Es gibt Teilnehmende mit psychischen Störungen. Es gibt Menschen mit motorischen Einschränkungen, manche sitzen im Rollstuhl. Teilweise wissen wir es aber gar nicht so genau. Man sieht es ja nicht allen Menschen gleich an. Und wir müssen es auch nicht wissen. Wir respektieren, wenn es sich um eine persönliche, intime Angelegenheit handelt.
Wie viele Teilnehmer*innen sind derzeit dabei?
Momentan sind es so zwischen vierzig und fünfzig Teilnehmende. Die kommen aber nicht alle auf einmal. Wir haben zwei Gruppen, die jeweils im zweiwöchentlichen Turnus klettern. Anders können wir es derzeit nicht bewältigen. Ein Wunsch für die Zukunft wäre, dass wir jeder Gruppe wöchentlich dieses Kletterangebot machen können.
Ganz schön viele Leute. Wie erklärt Ihr Euch diesen großen Erfolg? Was lieben die Teilnehmenden so am Klettern?
Das Schöne am Klettern sind die vielfältigen Ebenen, auf denen es stattfindet. Zunächst auf der individuellen, auf einer mentalen, psychischen Ebene: was das Klettern mit einem macht. Auf der anderen Seite hat es auch eine starke soziale Komponente. Man klettert ja in einer Seilschaft. Man muss sich selbst vertrauen, aber auch der Person, die unten steht. Ein anderer Aspekt ist sicherlich, dass Menschen, die in die Höhe gehen, etwas Besonderes erleben. Diese Höhe macht etwas mit uns! Außerdem merken gerade die Menschen mit körperlichen Einschränkungen, wie das Klettern hilft, Kraft, Koordination und Kondition aufzubauen.
Ist Klettern für manche nicht viel zu schwierig und zu anstrengend? Klappt das überhaupt bei allen?
Das klappt auf jeden Fall. Klettern hat ganz viele Vorteile gegenüber anderen Sportarten, denn es lässt sich wohl dosieren. Wir nennen uns zwar „Klettern ohne Grenzen“, aber die Grenzen setzen die Teilnehmenden auch selbst. Niemand muss fünfzehn, sechzehn Meter hochklettern. Sie können auch nach zwei Metern sagen: „Heute reicht mir das“. Und auch die Möglichkeit, sich ins Seil zu setzen und Pause zu machen, ist ein großer Vorteil beim Klettern – gegenüber dem Bouldern zum Beispiel. Unsere Teilnehmenden merken: Ich bewege mich anders durch den Alltag, wenn ich ein- bis zweimal die Woche klettern gegangen bin. Aber es geht bei uns auch nicht nur ums Klettern…
Um was geht es denn noch?
Wir sind so eine Art soziale Anlaufstelle geworden. Ein Ankerpunkt des Vereins, könnte man sagen. Wo die Leute sich regelmäßig treffen, um einfach ein bisschen zu schnacken, Kaffee zu trinken, um einfach eine gute Zeit zu haben. Die Kletterhalle ist zum Treffpunkt geworden. Mittlerweile arbeiten sogar Leute aus unserem Kurs dort. Außerdem machen wir gemeinsame Ausflüge, gehen nach draußen an den Fels, zum Beispiel im Ith.
Das hört sich nach einer großen Erfolgsstory an. Wie fing denn alles an?
Eine Trainerin, die mittlerweile nicht mehr bei uns in der Sektion ist, hatte im Rahmen ihrer Masterarbeit ein Projekt gestartet. Dabei sollte evaluiert werden, wie das Klettern die Lebensqualität von Menschen mit Behinderung steigern kann. Ich war als sichernder Trainer mit dabei. Mein Trainerkollege Christian Schmidt und ich dachten uns: „Ja, warum machen wir so etwas nicht mal als Kurs? Wo wir mit Menschen mit Behinderung unsere Leidenschaft fürs Klettern teilen?“ Schon bald stieß auch Lena Schuhmacher als Trainerin hinzu, die ebenfalls Gründungsmitglied ist. Wir gingen gleich zur Betriebsleitung der Kletterhalle und zum Vorstand der Sektion Bremen, um von unserem Vorhaben zu erzählen. Das Tolle war: Wir rannten überall offene Türen ein.
… was sicherlich nicht selbstverständlich ist. Wie ging es dann weiter? Wie habt Ihr das Angebot auf die Beine gestellt?
Zunächst einmal absolvierten wir beide die Ausbildung zum Trainer C Klettern für Menschen mit Behinderung. Dann mussten wir die finanzielle Frage klären. Wir wussten, wir können von unserer Klientel keine hohen Eintrittsgebühren verlangen. Deshalb sind wir an die Aktion Mensch herangetreten und haben glücklicherweise eine Anschubfinanzierung bekommen. Die läuft aber jetzt im November aus.
Ach – könnt Ihr die Gruppe dann jetzt überhaupt noch weiterführen?
Ja, das können wir. Denn wir haben sozusagen die „kritische Masse“ an Teilnehmenden erreicht und unser Kurs kann aus Eigenmitteln finanziert werden, wie der Vorstand der Sektion versichert hat.
Das ist beruhigend. Wie habt Ihr denn in so kurzer Zeit so viele Menschen gewinnen können?
Da Christian als Heilerziehungspfleger arbeitet, war er sowieso in diesem Bereich verortet. Ich hatte aus meiner vorangegangenen Arbeit sehr viele Kontakte im Parasport. Wir konnten dadurch recht schnell ein Netzwerk aufbauen und interessierte Leute rekrutieren. Aber das war auch nicht wirklich unsere Sorge: Klettern ist ja ein Trendsport und wir waren uns sicher, auf großes Interesse zu stoßen. Womit wir recht behielten, die Resonanz war sehr groß. Wir haben auch sehr niedrigschwellige Angebote gemacht: Kommt einfach mal vorbei und schaut euch das an, dann sehen wir weiter…
Gab es denn auch Leute, die nicht mitmachen wollten?
Erstaunlicherweise war die Ansprache der Zielgruppe als solche nicht die größte Herausforderung. Sondern, dass bei vielen Begleitpersonen, in den Einrichtungen oder bei den Eltern große Ressentiments herrschten, nach dem Motto: „Klettern?! Das ist ein Risikosport! Das können die nicht. Die sind ja erstens behindert und zweitens, selbst wenn sie es könnten, ist das viel zu gefährlich. Das können wir nicht verantworten.“ Diese Barrieren einzureißen, war womöglich die größte Herausforderung. Denen klarzumachen, ja, natürlich kann Klettern gefährlich sein, aber wenn man alle Sicherungsstandards einhält, dann ist das auch nicht gefährlicher als Fußball.
Wie viele Trainer*innen habt ihr heute?
Insgesamt dreizehn Trainerinnen und Trainer. Zwei davon sind aus den Teilnehmenden hervorgegangen – das möchten wir auch fortführen. Man muss dazu sagen, dass „Trainer“ so eine Art Überschrift ist. Für unsere vierzig bis fünfzig Teilnehmer*innen müssen wir einen gewissen Betreuungsschlüssel gewährleisten. Um nicht warten zu müssen, bis alle die Ausbildung absolviert haben, haben wir den Status des Vereinshelfers, der Vereinshelferin geschaffen. Die kriegen sektionsintern eine Sicherheitsanweisung und dürfen dann auch im Kursbetrieb helfen.
Ihr seid eine große Gruppe. Wie klappt das in der Halle? Wie reagieren die anderen Kletternden auf euch?
Wir haben einen Außenbereich und einen Innenbereich. Und jetzt, wo die kalte Jahreszeit beginnt und man nicht mehr nach draußen ausweichen kann, ist es tatsächlich proppenvoll. Da bricht dann ein Ressourcenkampf aus: Wer darf in welche Route? Und #KletternOhneGrenzen zeichnet sich auch dadurch aus, dass viele etwas lauter sein können und das auch dürfen. Die Halle ist groß, da hallt und scheppert es ordentlich. Und trotzdem kriegen wir nie das Gefühl, wir wären nicht willkommen. Es ist in der Tat harmonisch. Sogar, wenn sich unsere Leute in den Bereich verirren, wo unser Wettkampfkader, der Nordkader trainiert – was manchmal eine ungewollte Komik provoziert – ist der Umgang miteinander trotzdem herzlich. Wir haben einfach eine Atmosphäre bei uns in der Sektion, die von Respekt und Anerkennung geprägt ist.
Das klingt wunderbar. Welche Ratschläge habt Ihr denn für andere Sektionen, die vielleicht darüber nachdenken, inklusive Angebote zu entwickeln?
Eigentlich gibt es nur einen Tipp, den man auch öfters unten hört, wenn man an der Wand steht. Der lautet: Einfach machen! Es ist so banal und trivial, wie es klingt. Man muss keine Angst haben. Und ich glaube, eine wichtige Voraussetzung ist Neugier. Wenn man neugierig ist, ist man zugewandt und geht auf die Menschen zu. Und 99,9 Prozent von denen sind einfach nur dankbar. Man muss keine Berührungsängste haben. Und einfach mal etwas probieren, es muss ja noch kein verbindliches Angebot sein. Und sich dann Learning by Doing immer weiter verbessern.
Euer Projekt wurde mit dem DAV-Preis Ehrenamt 2025 ausgezeichnet. Was bedeutet Euch dieser Preis?
Die Freude bei uns ist groß gewesen. Für uns Trainerinnen und Trainer ist es eine ganz große Anerkennung vom Bundesverband. Wir merken, unser Ansinnen wird unterstützt und ich verstehe das so, dass der Bundesverband zeigen möchte, wie wichtig ihm der Inklusionsgedanke ist. Ich sehe diesen Preis vor allem als Preis für die gesamte Sektion Bremen. Denn es reicht nicht, wenn einige Trainerinnen und Trainer hoch engagiert sind. Auch die notwendige Rückendeckung muss gegeben sein – wie wir sie von unserer Sektion bekommen haben.