Oberhalb der Baumgrenze verändert sich die Landschaft deutlich. Wenn auch die letzten einzelnen Zirben und Lärchen zurück bleiben, bestimmen offene, grasige Hänge das Bild. Statt dichter Wälder oder Almwiesen findne sich nun Gräser und bunte Alpenblumen wie Enzian, Trollblume und Silberwurz. Die Luft wird kühler, der Wind stärker, der Blick weitet sich. Es beginnen die alpine und subalpine Stufe – ein besonders empfindlicher Lebensraum mit harten Anforderungen an seine pflanzlichen und tierischen Bewohner.
Hart im Nehmen
Oberhalb der Baumgrenze herrschen extreme klimatische Bedingungen: niedrige Temperaturen, die über den Tag stark schwanken können, oft peitschender Wind, wenig Nährstoffe und Wasserreserven im Boden und eine unerbittlich strahlende Sonne. Bäume wachsen hier keine mehr, nur wenige Zwergsträucher trotzen gelegentlich diesen widrigen Bedingungen. Die Zeit, in der die Pflanzen wachsen und sich vermehren, dauert hier oben zum Teil nur einige Wochen - bis die Flächen wieder von Schnee bedeckt werden.
Ausgeklügelte Überlebenstaktiken
Die Pflanzen, die diesen Lebensraum besiedeln, haben deshalb ganz spezielle Fähigkeiten entwickelt, um diesen Bedingungen standzuhalten. Insgesamt 800 Pflanzenarten leben in und auf alpinen Rasen und Wiesen. Etwa 13.000 Pflanzenarten sind grundsätzlich in den Alpen zuhause. Rund 400 von ihnen sind endemisch in den Alpen. Das bedeutet, dass sie ausschließlich in genau diesen Alpengebieten und nirgendwo sonst verbreitet sind. Hier oben, wo Wind, Kälte und intensive Sonnenstrahlung das Klima bestimmen, finden wir vor allem Pflanzen mit Zwerg- oder Polsterwuchs – unscheinbare Überlebenskünstler. Ihre kompakte Form bringt gleich mehrere Vorteile mit sich: sie lassen sich ganz nah am Boden von den Steinen wärmen, schützen sich gegenseitig und bieten kaum Angriffsfläche für den Wind. In den dickfleischigen Blättern speichern sie Wasser. Dichte Behaarung - wie beim Edelweiß - sorgt dafür, dass die Pflanzen weniger Wasser für die Photosynthese brauchen und zudem vor der starken Sonnenstrahlung geschützt sind. Ihre grellen Blüten locken Insekten besonders gut an.
Wusstest du schon?
Die Pflanzen kuscheln sich an den Fels und werden so ...
... gewärmt. Die Steine und der Boden können sich tagsüber aufheizen und die Wärme nachts wieder an die direkte Umgebung abgeben. Gleichzeitig schützt diese Nähe zum Boden vor eisigem Wind. Das Stängellose Leimkraut macht es besonders eindrucksvoll vor: Es bildet dichte, runde Polster mit rosa Blüten – manchmal bis zu zwei Meter breit!
Durch ihre kugelige Form, fast wie kleine, grüne Kissen, speichern ...
... Polsterpflanzen Wärme und Feuchtigkeit – ideal für trockene, windige Hochlagen. Ein echter Profi ist das Alpen-Mannsschild: Im Inneren des Polsters sammeln sich abgestorbene Blätter, die zu Humus werden und wie ein Schwamm Wasser speichern – bis zum 1,6-Fachen des Eigengewichts! Tiefreichende Pfahlwurzeln verankern die Pflanze sicher in Felsspalten.
Behaarung schützt...
...manche Alpenpflanzen in hohen Lagen. Das bekannteste Beispiel: das Edelweiß. Seine silbrigen Härchen reflektieren das Sonnenlicht – und verhindern, dass die Pflanze zu schnell austrocknet.
Mit bunten Farben und betörenden Düften buhlen...
...in den höheren Lagen Pflanzen um Aufmerksamkeit. Bunte Farben sind mehr als nur schön: Sie schützen durch ihre Pigmente vor starker UV-Strahlung – ähnlich wie Sonnencreme für uns. Und sie erfüllen einen klaren Zweck: Bestäuber anlocken!
Denn wer oben in der Höhe auf Bestäuber angewiesen ist, muss ordentlich auffallen. Bunte Blüten und starke Düfte sind dabei die besten Tricks im Wettbewerb um Aufmerksamkeit.
Es gibt Süß- und Sauergräser, zum Beispiel ...
... die Familie der sogenannten Seggen, wie sie hoch oben in den Alpen wachsen. Für Expert*innen sind Süß- und Sauergräser schon optisch voneinander zu unterscheiden: Süßgräser bilden Knoten am Stengel aus und sind innen hohl, während die Halme von Sauergräsern meistens dreikantig wachsen. Auch ihr Standort gibt Hinweise darauf, welche Grasfamilie dort wächst. Denn die Polster-Segge ist zum Beispiel eine Pionierart, die Schuttfelder besiedelt und in deren Schutz sich andere Arten nach und nach ansiedeln können.
Tierische Höhenstrategen
Auch viele endemische Alpentiere, die wir mit etwas Glück bei einer Bergtour beobachten können, sind hervorragend an die Höhe und die rauen Bedingungen der (sub-)alpinen Zone angepasst. Selbst dort, wo die Nahrungssuche schwierig ist und klimatische Extreme den Alltag bestimmen, hat sich eine erstaunlich vielfältige Tierwelt eingerichtet.
In der Nähe felsiger Hänge lassen sich mit etwas Geduld Murmeltiere, Gämsen oder sogar Steinböcke entdecken – trittsichere Kletterer, die scheinbar mühelos durch das steilste Gelände ziehen. Deutlich seltener zeigen sich Hermeline oder Schneehühner, die dank ihrer ausgeklügelten Tarnung fast nicht zu erkennen sind.
Wusstest du schon?
Einfach Abtauchen und Verschlafen...
...ist eine Überlebenstaktik einiger Tierarten, wenn der Winter mit eisiger Kälte und Nahrungsknappheit Einzug hält. Winterschlaf ist eine bewährte Strategie, um Energie zu sparen und die harten Monate zu überstehen.
Ein Paradebeispiel ist das Murmeltier: Während des Sommers frisst es sich eine dicke Fettschicht an. Ab Oktober zieht es sich dann in seinen unterirdischen Bau zurück und verschläft dort rund sechs Monate, bis Ende April oder Anfang Mai.
Einen Outfit-Check...
...vollziehen manche Alpentiere jede Saison! In der alpinen Zone verändert sich mit den Jahreszeiten auch die Umgebung – von schneebedecktem Weiß im Winter zu erdigen Braun- und Grüntönen im Sommer. Einige Tiere passen sich dieser wechselnden Kulisse perfekt an: Fell- oder Gefiederfarben werden einfach der Jahreszeit angepasst.
So tragen etwa der Schneehase und das Alpenschneehuhn im Sommer ein bräunlich-graues Tarnkleid und wechseln im Winter zu schneeweißem Fell bzw. Gefieder. Diese Verwandlung schützt sie vor Fressfeinden.
Einen stabilen Magen...
...brauchen viele Alpentiere in den hohen Höhen. Die Nahrungslage im Hochgebirge ist herausfordernd: Die Vegetationsperiode ist kurz, die Auswahl begrenzt. Viele alpine Tiere sind deshalb wahre Nahrungsspezialisten oder flexible Allesfresser.
Gämse und Steinböcke etwa ernähren sich von Gräsern, Flechten und Kräutern Pflanzen, die für viele andere Arten ungenießbar wären. Ihr robuster Verdauungstrakt ist perfekt auf diese karge Kost eingestellt. Im Winter sparen sie Energie, bewegen sich weniger und halten sich bevorzugt an sonnigen, windgeschützten Hängen auf, wo sie letzte Futterreste aufspüren können.
Andere Tiere, zum Beispiel die Alpenbraunelle, wandern im Winter in tiefere Lagen und kehren erst im Frühjahr zurück in die Höhen.
Unerforschter Untergrund
Unter der Oberfläche der alpinen und subalpinen Zone spielen sich wichtige Prozesse ab, die für die Landschaft entscheidend sind: In alpinen Böden finden wir mehr als 10 000 verschiedene Arten von Pilzen und Bakterien.
Der alpine Boden kann wie ein Schwamm große Wassermengen aufnehmen und zurückhalten. Pflanzenwurzeln sorgen für Stabilität und verhindern so Hangrutschungen, Muren und Überschwemmungen in den Tälern.
Außerdem speichert der Boden Kohlenstoff und trägt so zum Klimaschutz bei. Die Bodenbildung in den Alpen wird vor allem durch Klima und Vegetation beeinflusst. Aufgrund starker Temperaturschwankungen entsteht Boden hier nur langsam.
Viele alpine Böden sind relativ jung, weil Gletscher der letzten Eiszeit ältere Bodenschichten abgetragen und die Landschaft neu geformt haben. Welches Potenzial sie in der Klimakrise haben, ist bislang aber noch Thema aktueller Forschung.
Flucht nach oben: Die Klimakrise bedroht viele spezialisierte Arten
Die Klimakrise setzt den Überlebenskünstlern der Alpen ordentlich zu – besonders in der (sub-)alpinen Zone. Die Alpen erwärmen sich schneller als andere Regionen, und die Pflanzen und Tiere dort müssen jetzt in Rekordtempo neue Wege finden, um zu überleben.
Mit jedem zehntel Grad wärmer rücken sie weiter den Berg hinauf – etwa 100 Meter pro Grad. Doch der Berg wird dabei immer schmaler und enger, je höher man kommt. Oben angekommen, gibt es keinen Platz mehr zum Ausweichen: Am Gipfel ist Schluss. Für die spezialisierten Bewohner der höheren Lagen wird der Lebensraum immer kleiner, und das Risiko, dass sie verschwinden, wächst.
Wer genau hinschaut und schon seit vielen Jahren in den Bergen unterwegs ist, kann das sogar sehen: Die Baumgrenze wandert langsam nach oben, kahle Gipfel werden grüner und buschiger. Pflanzen aus tieferen, wärmeren Lagen erobern langsam die Höhen. Das Paradoxe ist, dass in Zukunft mehr Arten in den höheren Lagen der Alpen wachsen, weil sich die Bedingungen für viele Pflanzen - sogenannte Generalisten - verbessern. Die höhere Artenvielfalt bedeutet jedoch, dass die seltenen und bedrohten Bergspezialisten langsam aussterben.
Manche schneller, manche langsamer
Manche passen sich rascher an, andere brauchen deutlich länger. Das wird zum Problem – denn in hochsensiblen Lebensräumen wie der alpinen Zone ist vieles genau aufeinander abgestimmt.
Wenn zum Beispiel Pflanzen früher blühen, aber die Insekten, die sie bestäuben sollen, später unterwegs sind, geht der ganze Ablauf durcheinander. Solche zeitlichen Verschiebungen können dafür sorgen, dass Blüten unbestäubt bleiben – und damit fehlen nicht nur die Samen für die nächste Generation, sondern auch Nahrung für andere Arten. Das fragile Gleichgewicht des Ökosystems gerät aus dem Takt.
Für manche Tiere ist die Lage besonders prekär. Das Murmeltier etwa – ein echter Gebirgsspezialist – kommt mit den steigenden Temperaturen schlecht klar. Doch weiter nach oben auszuweichen ist für sie keine Option: Dort ist der Boden zu flach, um stabile Höhlen zu graben, und das Nahrungsangebot ist ebenfalls knapp.
In ihrer aktuellen Höhenlage werden heiße Tage zum Problem: Die tagaktiven Nager müssen sich in ihre unterirdischen Baue zurückziehen, um der Hitze zu entkommen. Das frisst Zeit – Zeit, die eigentlich fürs Fressen und Fettanlegen für den Winter gebraucht wird. Bleibt die Energiezufuhr aus, wird der Winterschlaf zur gefährlichen Durststrecke.
Ähnlich geht es Gämsen und Steinböcken: Auch sie sind an kühle Bergluft angepasst und kommen mit Hitze schlecht zurecht. Für sie wird die Suche nach kühlen Rückzugsorten und ausreichend Futter ebenfalls zunehmend schwieriger. Im Frühjahr hat das Schneehuhn Mühe mit der Tarnung bei einer früheren Schneeschmelze, weil das Gefieder noch im Wintermodus ist. Für den Steinadler stellt es somit eine leichte Beute dar, weil die Evolution mit der Geschwindigkeit des Klimawandels nicht mithalten kann.
Das Problem mit Neophyten und Neozoen
Die Bedingungen in den Alpen werden durch den Klimawandel nicht für alle Arten schlechter. Manche Tier- und Pflanzenarten aus anderen Regionen fühlen sich durch die höheren Temperaturen hier inzwischen pudelwohl – und beginnen sich anzusiedeln.
Diese ursprünglich nicht-heimischen Arten nennt man Neophyten (Pflanzen) und Neozoen (Tiere). Zusammengefasst spricht man von Neobiota. Sie können heimische Arten verdrängen und die Ökosysteme zusätzlich aus dem Gleichgewicht bringen.
Beispiele bei den Pflanzen sind der Riesen-Bärenklau, das Drüsige Springkraut oder die Alpen-Goldrute. In der Tierwelt wandern Arten wie die Gottesanbeterin oder der Bienenfresser von der Alpensüdseite oder sogar aus tropischen Regionen ein.
Welche konkreten Auswirkungen diese Tiere auf die heimische Tier- und Pflanzenwelt haben, ist bisher noch unklar.
Runter mit den Temperaturen!
Die wirksamste Methode, um die empfindliche Tier- und Pflanzenwelt der (sub-)alpinen Zone zu schützen – und letztlich alle Lebensräume weltweit – ist klar: Runter mit den Temperaturen!
Denn für die hochspezialisierten Arten in den Bergen zählt jedes Grad. Schon kleine Veränderungen können großen Anpassungsdruck auslösen.
Aber auch unser Verhalten vor Ort macht einen Unterschied. Wer in den Bergen unterwegs ist, kann mit einfachen Regeln zur Rücksicht auf Natur und Klima beitragen:
Auf den Wegen bleiben: Abkürzungen oder Trampelpfade zerstören die schützenswerte Vegetation und bringen viele Pflanzenarten zusätzlich unter Druck.
Blumen stehen lassen: In den Bergen blüht es besonders schön – ein guter Grund, sie nicht zu pflücken.
Ruhezonen respektieren: Wald-Wild-Schongebiete sind wichtige Rückzugsräume – gerade im Winter, wenn Tiere Energie sparen müssen.
Vor der Tour gut informieren: Sperrungen, Schutzzeiten und sensible Gebiete sind online abrufbar. Beim Klettern etwa hilft die DAV-Felsinfo.
Denn klar ist: Naturverträglicher Bergsport ermöglicht unvergessliche Erlebnisse – ohne der Natur unnötig zu schaden.