Marktübersicht Lawinenairbags
Marktübersicht Lawinenairbags
Neben der Standardausrüstung "Schaufel, Sonde, Pieps" sind Lawinenairbags mittlerweile das am meisten verkaufte Lawinen-Notfallprodukt. Der Lawinenexperte Dr. Thomas Exner informiert über die momentan erhältlichen Systeme.
Eine Ganzverschüttung bei einem Lawinenunfall bedeutet immer akute Lebensgefahr. Der Lawinenairbag ist die einzige Lawinen-Notfallausrüstung, die das Risiko einer Verschüttung reduzieren kann. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass der Markt für Airbag-Rucksäcke boomt. Doch wie wirksam ist der Luftsack tatsächlich? Welche Vor- und Nachteile haben die derzeit am Markt erhältlichen Systeme? Was müssen sie können?
Alles gemäß Norm
Sicherheitsrelevante technische Mindestanforderungen für Lawinenairbags werden in Zukunft durch eine EU-Norm geregelt, die 2017 gültig wird. Alle Produkte, auch von nordamerikanischen Herstellern (BCA, Black Diamond, Arcteryx), müssen dann diese Norm erfüllen, um in Europa verkauft zu werden. Da der Normentwurf schon seit Längerem steht, haben die Hersteller ihre Produkte auf die Anforderungen hin entwickelt oder überprüft; es ist also davon auszugehen, dass die aktuell erhältlichen Produkte schon heute die Norm erfüllen. Die wohl wichtigste Anforderung ist das Mindestvolumen von 150 Litern. Spätestens fünf Sekunden nach Auslösung muss der Airbag sein maximales Volumen erreicht haben; die meisten derzeitigen Systeme brauchen etwa drei Sekunden. Dauert der Aufblasvorgang zu lange, kann die Lawine zum Stillstand kommen, bevor der Airbag vollständig aufgeblasen ist, und eine Verschüttung wird wahrscheinlicher. Damit das Ballonmaterial nicht während des Lawinenabgangs beschädigt wird, wird eine Mindestreißfestigkeit gefordert. Zur Befestigung des Airbag-Rucksacks am Körper dienen Schultergurte, Hüft- und Brustgurt und eine Schenkelschlaufe. Damit der Rettungssack auch bei den in einer Lawinen wirkenden Kräften nicht weggerissen wird, schreibt die Norm einen Festigkeitsund Abstreiftest vor. Für die Auslösung des Airbags sollen die Zugkräfte am Auslösegriff etwa fünf bis 15 Kilo betragen. Eine zu niedrige Auslösekraft würde viele unabsichtliche Auslösungen zur Folge haben, eine zu hohe könnte eine gewollte Auslösung verhindern. Natürlich muss das Airbagsystem auch unter extremen Bedingungen funktionieren: bei Temperaturen zwischen -30 °C und +50 °C, bei Feuchtigkeit und leichter Schneebedeckung. Zur Form des Ballons regelt die Norm Praxisrelevantes: So soll der aufgeblasene Ballon nicht die Beweglichkeit und Umsicht des Wintersportlers behindern. Andererseits dürfen am Rucksack befestigte Ausrüstungsgegenstände wie Ski, Pickel oder Schneeschuhe die Funktion des Airbags nicht einschränken.
Verschiedene Prinzipien
Prinzipiell bestehen Lawinen-Airbagsysteme aus Ballon, Fülleinheit, Auslöseeinheit und Tragesystem. Das Volumen der zur Zeit erhältlichen Systeme liegt zwischen 150 und 200 Litern. Einige Ballons bestehen aus zwei voneinander unabhängigen Kammern – eine gewisse Redundanz, falls während des Lawinenabgangs eine Kammer beschädigt wird. Es gibt aber auch Ballons in Form einer „Nackenstütze“, die teilweise bis vor den Wintersportler ragt.
Aufgeblasen werden die Airbags entweder durch komprimiertes Gas, das in Kartuschen mitgeführt wird, unter Beimengung von Umgebungsluft (Venturi-Effekt) oder durch kleine batteriebetriebene Hochleistungsgebläse.
Kartuschensysteme gibt es mit wiederbefüllbaren oder Einwegkartuschen in verschiedenen Ausführungen (Stahl, Karbon oder Alu). Je nach Kartuschentyp ist der Austausch mit mehr oder weniger (auch finanziellem) Aufwand verbunden (siehe Tabelle).
Unabhängig vom Füllmechanismus werden alle Systeme über Zug an einem Griff ausgelöst. Bei den Kartuschensystemen geschieht das entweder mechanisch durch einen Kabelzug oder pyrotechnisch durch einen kleinen Sprengsatz im Auslösegriff. Bei pyrotechnischen Auslösesystemen ist nach Airbagauslösung die gesamte Auslöseeinheit (Kartusche und Griff) zu tauschen. Bei Gebläsesystemen ist nur sicherzustellen, dass die Batterie ausreichend geladen ist. Dadurch werden Mehrfachauslösungen ohne Wartung möglich, auch zu Trainingszwecken. Einige Kartuschensysteme haben einen Trainingsmodus, bei dem das Auslösen ohne eingeschraubte Kartusche geübt werden kann. Die beiden am Markt erhältlichen Gebläsesysteme werden entweder mechanisch (Voltair) oder elektronisch (Jetforce) ausgelöst. Je nach Hersteller ist der Auslösegriff entweder nur am linken Schultergurt befestigt (praktisch für Rechtshänder) oder wahlweise auch am rechten Schultergurt; bei manchen Systemen ist er in der Höhe verstellbar.
Außerdem wissenswert
Beim Flugzeugtransport von Kartuschensystemen sollte man sich genau über die Transportbestimmungen der Fluggesellschaft erkundigen, da für Druckbehälter und pyrotechnische Geräte teilweise Beschränkungen bestehen. Gebläsesysteme sind da vorteilhafter, weil nur der Transport der Batterie geprüft werden muss. Allerdings zählen Gebläsesysteme derzeit noch zu den teuersten und schwersten Airbagsystemen am Markt. Manche Hersteller bieten auch zusätzliche Funktionen an: etwa die ferngesteuerte Auslösung beim ABS Pride (jedes Gruppenmitglied kann bis zu 15 Airbags mittels Fernbedienung auslösen) oder das automatische Entleeren des Ballons beim Jetforce (schafft eine Atemhöhle bei Totalverschüttung).
Viele der Airbagsysteme sind als modulare Einheit erhältlich. Das heißt, die Airbageinheit kann vom Rucksack abgenommen werden und ist kompatibel mit bestimmten anderen Rucksäcken verschiedener Größe des gleichen Herstellers oder seiner Partnerunternehmen.
Was hilft der Ballon wirklich?
Das physikalische Prinzip des Airbags heißt inverse Segregation oder auch „Sortierprinzip“. Ist ein Gemisch aus Teilen verschiedener Größe in Bewegung, wandern die kleineren Teile nach unten und die größeren werden nahe der Oberfläche sortiert. Man kennt diesen Effekt vom Schütteln einer Nussmischung, wenn sich die großen oben ansammeln. Analog soll der Airbag das Volumen des Wintersportlers vergrößern, so dass er im Fluss der Lawine nahe der Oberfläche bleibt und nach Stillstand oben liegt. Dieses Prinzip funktioniert freilich nur, solange die Schneemassen in Bewegung sind. Wird eine Person in einer Geländefalle (Graben, Mulde, Talgrund, ...) erfasst, bleibt der aufgeblasene Airbag wirkungslos.
Unbestritten ist, dass der Airbag hilft, das Risiko einer Verschüttung zu verringern, oder dass er zumindest die Verschüttungstiefe reduziert. Über genaue Zahlen zur Wirksamkeit von Lawinenairbags herrschte lange Zeit große Unsicherheit. Eine Studie von 2014 liefert die zur Zeit aktuellsten und verlässlichsten Daten dazu (bergundsteigen 3/14). Pascal Hägeli und ein internationales Expertenteam untersuchten, wie Lawinenairbags die Sterblichkeitsrate reduzieren. Die wichtigsten Einflussgrößen dabei sind der Verschüttungsgrad, die Größe der Lawine und die Schwere der mechanischen Verletzungen.
Ein Lawinenairbag hilft, den Verschüttungsgrad zu reduzieren, wirkt also nur indirekt auf die Sterblichkeitsrate. Die Lawinengröße beeinflusst entscheidend die Schwere der mechanischen Verletzungen. Ob der Airbag das Verletzungsrisiko verringert, ist derzeit noch umstritten. Vor allem in bewaldetem und mit Felsen durchsetztem Gelände sind mechanische Verletzungen trotz Airbag wahrscheinlich und nehmen mit der Lawinengröße dramatisch zu.
Von Lawinenunfällen aus Nordamerika und mehreren europäischen Ländern wurden nur die Unfälle ausgewertet, bei denen Personen mit und ohne Airbag-Rucksack beteiligt waren, um eine direkte Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Auch wurden nur Unfälle mit einer Lawinengröße betrachtet, bei der tatsächlich eine ernsthafte Verschüttung möglich ist (mindestens 100 Meter Länge und 100 Tonnen Schnee). Die Beachtung von kleineren Lawinen, bei denen eine Verschüttung unwahrscheinlich ist, würde die Statistik zu Gunsten einer höheren Überlebenschance verfälschen.
Bei Personen ohne Airbag-Rucksack lag die Sterblichkeitsrate bei 22 %. Bei Lawinenerfassungen mit aufgeblasenem Airbag lag die Sterblichkeitsrate bei 11 % – zählt man Airbagbesitzer dazu, deren Rettungssack nicht aufgeblasen war, steigt die Sterblichkeitsrate auf 13 %. Der Airbag kann also die Anzahl der Lawinentoten fast halbieren. Interessant ist, dass in knapp 20 % aller ernsthaften Lawinenerfassungen (nicht nur mit tödlichen Unfällen) der Airbag nicht aufgeblasen war. Jeder fünfte Sack nutzte also nichts. Woran liegt das? In rund 12 % der untersuchten Fälle wurde der Airbag vom Benutzer gar nicht ausgelöst. Professionelle Anwender (Bergführer, Lawinenpatrouilleure) hatten übrigens eine deutlich niedrigere Nichtauslöserate als Freizeitsportler. Bei 2 % waren Wartungsfehler der Grund für die Nichtauslösung (z. B. Patrone nicht richtig eingesetzt). Bei weiteren 2 % wurde der Ballon während des Lawinenabgangs mechanisch zerstört. Gerätefehler, die zu Revisionen durch den Hersteller führten, waren in 3 % für das Versagen des Airbags verantwortlich.
Die Studie zeigt deutlich: Sachgemäße Wartung, Training und Vertrautheit mit dem Airbagsystem führen offensichtlich zu Vorteilen beim Gebrauch dieser Notfallausrüstung. Klar sollte aber auch sein, dass der Sicherheitsgewinn „schnell zunichte gemacht wird“ (so die genannte Studie), wenn man wegen des Ballons mehr Risiko akzeptiert – etwa bei höherer Lawinengefahr loszieht oder heikleres Gelände begeht.
Marktübersicht in Tabellenform
Eine vergleichende Aufstellung der verschiedenen auf dem Markt erhältlichen Systeme mit Informationen zu Ballon-System, Fülmmechanismus, Auslösung, individueller Anpassbarkeit, kompatibler Rucksackgröße, Gewicht, Preis bzw. Kartusche/Betriebskosten ist hier als pdf erhältlich:
Marktübersicht-Lawinenairbags-tabellarisch.pdf [540 kb]
Mitnehmen oder nicht?
Ambitionierte Wintersportler, die häufig im Lawinengelände unterwegs sind, können sich überlegen, den Airbag-Rucksack zusätzlich zur Standard-Notfallausrüstung (LVS, Sonde, Schaufel) mitzunehmen. Die Tatsache, dass der Airbag das Risiko einer Verschüttung reduziert und dass die Anzahl der Lawinentoten fast halbiert wird, spricht für sich. Das große Spektrum der derzeit angebotenen Airbagsysteme bietet passende Lösungen fürs Freeriden wie für mehrtägige Skitouren, bei entsprechendem Preis, Gewicht, Packvolumen und Komfort.
Nicht vergessen darf man dabei jedoch, dass man mit dem Luftsack niemanden ausgraben kann – und dass etwa einer von neun Lawinentoten trotz aufgeblasenen Airbags gestorben ist. Eine ernsthafte Lawinenerfassung bedeutet immer akute Lebensgefahr! Das beste Rezept für ein erfolgreiches Überleben im Lawinengelände bleibt nach wie vor: fundierte Tourenplanung, Wissen, Erfahrung und Training, im Zweifel auch Verzicht.