In der Wintersaison 2025 erlebte die deutsche Bergführerin Raphaela Haug einen Vorfall, der sie nicht mehr losließ – und den sie später in einem Instagram-Post öffentlich machte. Während einer mehrtägigen Führungstour mit Übernachtung auf einer Hütte wurde sie mit sexistischen Kommentaren konfrontiert – durch Kollegen, mit denen sie sonst einen professionellen Umgang pflegte. Von Anfang an sei die Grundstimmung unangenehm gewesen, es fielen Sätze wie: „Für dich würde ich alles tun, mein Schatz“, oder: „Bist du zufrieden mit mir? Die Bergführer auf deinem Zimmer sehen gut aus.“ Auch körperliche Grenzüberschreitungen blieben nicht aus: Ein Mann legte den Arm um sie und sagte: „Du bist echt hübsch, wir sollten mal etwas trinken gehen.“ Sie sei anfangs nur genervt gewesen, ignorierte die Vorfälle aber. Doch ein Moment prägte sich Raphaela Haug besonders ein: In ihrem Zimmer war wegen Umbauarbeiten eine Metallstange mitten im Raum angebracht.
Einer der Männer fragte: „Wofür ist denn diese Stange?“ Ein anderer antwortete: „Da tanzt Raphaela heute Abend für uns.“ Es herrschte betretenes Schweigen – drei Männer, eine Frau, ein kleiner Raum.
„Ich war wie erstarrt“, sagt Haug. Als sie entgegnete: „Warum ich und nicht du?“, hieß es nur: „Ist doch nur ein Witz. Nimm’s nicht so ernst.“ Für Raphaela Haug war es aber kein Witz. Sie fühlte sich sehr unwohl. Plötzlich ergaben die kleinen Bemerkungen der vergangenen Tage ein klares Muster. Und dieses Gefühl blieb ihr noch Wochen später. Was die gebürtige Allgäuerin, die mittlerweile in der Schweiz lebt, zunächst noch als persönliche Erfahrung einordnete, entpuppte sich schnell als Teil eines größeren Musters. Im Gespräch mit Freundinnen wurde deutlich: Viele hatten Ähnliches erlebt. „Das war ein Moment unter tausend großartigen Momenten in den Bergen“, sagt Haug, „aber dieser Kommentar war zu viel.“ Sie betont, wie fein die Grenze zwischen einem ehrlichen Kompliment und einer sexistischen Bemerkung sei. Komplimente über Stärke, Können oder Auftreten seien willkommen – entscheidend sei jedoch die Intention. „Diese Bemerkung im Zimmer, das war eindeutig sexuell und damit unangemessen“, sagt sie. Vielleicht hätte sich die Situation anders angefühlt, wäre sie nicht die einzige Frau im Raum gewesen. Doch das war sie.
Über Grenzen
Was Raphaela Haug erlebt hat, sind keineswegs Einzelfälle. Anfang 2024 griffen die „Bergfreundinnen“ das Thema in ihrem Podcast beim Bayerischen Rundfunk auf. Sie brachten zahlreiche Geschichten über grenzüberschreitendes Verhalten in den Bergen ans Licht: in einem Raum, der für viele als Safe Space gilt – als Ort der Entfaltung, Freiheit und Naturerfahrung.
Auch zwei Artikel in der Süddeutschen Zeitung, verfasst von der Autorin dieses Textes, stießen auf große Resonanz. Nach einem Aufruf über Social Media, persönliche Erfahrungen mit Sexismus im Bergsport zu teilen, gingen zahlreiche Rückmeldungen ein, nicht aus fernen Regionen, sondern direkt aus den Alpen:
Eine Frau wurde auf einem abgelegenen Bergpfad von zwei Mountainbikern umkreist, die erklärten, sie wollten sie „nur mal von allen Seiten betrachten“. Für sie war das eine erniedrigende Erfahrung.
Bei einem Mehrseillängenkurs wurde eine Frau vom deutlich älteren Trainer bedrängt, der ihr trotz seiner anwesenden Partnerin seine Faszination gestand und um ein Treffen bat. Später beschaffte er sich über die Kursorganisation ihre Adresse und schickte ihr ein Buch. Für sie ein Beispiel männlicher Grenzüberschreitung und Selbstüberschätzung.
Eine routinierte Alpinistin wird trotz ihrer langjährigen Erfahrung immer wieder gefragt, ob sie „allein unterwegs“ sei oder „wo ihr Bergführer“ bleibe – ein klares Zeichen für Zweifel an der Kompetenz von Frauen.
Eine weitere Frau erzählte, dass ein Bergführer sie bei einem Kurs mit den Worten begrüßte: „Ah, du bist also das Mädchen“, und sie aufforderte, sich bei ihm anzuseilen – „damit du später noch Kinder bekommen kannst“. Nur ihr Partner, der ebenfalls am Kurs teilnahm, konnte die Situation entschärfen.
Diese Beispiele zeigen: Es geht nicht nur um einzelne Vorfälle, sondern um strukturelle Muster, die Frauen systematisch abwerten und einschüchtern. Dabei ist die Bergwelt der Spiegel dessen, was tagtäglich überall auf der Welt passiert. Sexismus – also die Abwertung, Herabwürdigung oder Benachteiligung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Geschlechtsidentität – sei keineswegs harmlos, sagt Katharina Mayer, die beim Deutschen Alpenverein (DAV) als gesamtverbandliche Ansprechperson für die Prävention sexualisierter Gewalt (PsG) tätig ist. Sexismus bildet das Fundament der sogenannten Pyramide der Gewalt. Am unteren Ende stehen abwertende Sprache und stereotype Denkmuster. Wenn sie nicht gestoppt werden, können sie sich zu struktureller Benachteiligung und schlimmstenfalls zu körperlicher Gewalt oder Machtmissbrauch entwickeln.
Um dem entgegenzuwirken, setzt der DAV auf ein umfassendes Präventionskonzept. „Es geht dabei nicht nur um den Schutz vor konkreten Übergriffen“, betont Mayer, „sondern um Bewusstseinsbildung, Aufklärung, klare Verhaltensregeln und verlässliche Strukturen.“
Widerstand und Wandel
Ein zentraler Baustein sind Schulungen für Trainer*innen, Jugendleiter*innen und Lehrteams. Diese sollen nicht nur sportlich qualifiziert, sondern auch für zwischenmenschliche Grenzverletzungen sensibilisiert sein. DAV und die Vereinsjugend (JDAV) haben mittlerweile vier hauptamtliche Ansprechpersonen für PsG-Fälle. Die Zahl der Meldungen steigt: „2021 und 2022 waren es jeweils zehn Fälle, 2023 bereits zwanzig, 2024 sogar 33 Fälle“, sagt Mayer. Sie sieht darin vor allem ein positives Zeichen: „Die Hemmschwelle, Vorfälle zu melden, sinkt“ – auch, um sich Unterstützung zu suchen in Fällen, in denen nicht ganz sicher ist, ob es sich um eine übergriffige Situation handelt. Oft besteht Unsicherheit darüber, wie gravierend ein Vorfall war und ob er meldungswürdig ist. Aber am Ende entscheidet der oder die Betroffene selbst, was er oder sie als übergriffig empfunden hat. Auffällig sei, dass viele Fälle Kinder und Jugendliche betreffen, etwa durch sexistische Sprüche, unangemessene Berührungen oder problematische Nähe zwischen Erwachsenen und Jugendlichen. Doch auch Erwachsene melden Übergriffe – meist subtiler, oft tief verwoben mit Alltagssexismus.
Auf Berghütten wird Prävention ebenfalls zunehmend sichtbar: durch Plakate, Handreichungen oder Schulungen für Hüttenpächter*innen. Doch die Umsetzung sei vielerorts freiwillig. „Natürlich gibt es Widerstände“, räumt Katharina Mayer ein, „wir wollen aber niemanden pauschal beschuldigen.“ Oft geht es um das Bedürfnis, dass eine kommunizierte Grenze respektiert wird und nicht als falsch oder unwichtig abgewertet wird. Mit so einer Haltung können vor allem Männer ein Vorbild für einen respektvollen Umgang miteinander sein. Insgesamt beobachte sie aber einen Wandel vor allem in der jüngeren Generation.
Einen Wandel verortet Lise Billon noch in ihrer Generation, also bei Menschen in ihren 30ern und 40ern. Doch bei Jüngeren sieht die französische Ausnahmealpinistin die Entwicklung kritischer: Durch den zunehmenden Einfluss frauenfeindlich agierender Influencer und Politiker weltweit kehre sich die Situation wieder um. Billon, die in Chamonix lebt, kennt die Herausforderungen, die Frauen im Bergsport nach wie vor überwinden müssen. 2024 schrieb sie gemeinsam mit Maud Vanpoulle und Fanny Schmutz Alpingeschichte: Als erste rein weibliche Seilschaft durchstiegen die drei den legendären Südostgrat am Cerro Torre in Patagonien – eine der anspruchsvollsten Routen weltweit. Billon zählt zudem zu den wenigen Frauen, die mit dem renommierten Piolet d’Or ausgezeichnet wurden, der höchsten Ehrung im Alpinismus. 2016 war das, heute ist sie selbst Jurymitglied. Trotzdem sagt sie: „Anerkennung darf nicht vom Geschlecht abhängen, sondern von Leistung.“ Einen Piolet d’Or nur für Frauen lehnt sie ab. Ihr Ansatz: Frauen auf ein hohes alpinistisches Niveau bringen, sodass sie selbstständig anspruchsvolle Erstbesteigungen in den Gebirgen der Welt realisieren können. Denn im Extrembergsteigen, anders als im reinen Felsklettern, seien Frauen nach wie vor im Aufholmodus. Lange hat Billon selbst die Unterschiede im Bergsport nicht bewusst wahrgenommen.
Erst als ich nach meiner Ausbildung zur Bergführerin zu führen begann, wurde mir klar, wie subtil viele Mechanismen sind, die das Selbstvertrauen untergraben.
Besonders spürbar sei das in der Szene rund um Chamonix, wo noch immer ein traditionelles Rollenbild vorherrsche: Der Mann geht in die Berge, die Frau bleibt zu Hause. Frauen, die dieses Muster durchbrechen, stoßen häufig auf Widerstand, beruflich wie privat. Viele seien gezwungen, zwischen ihrer Leidenschaft und einem stabilen Familienleben zu wählen.
Geschützte Räume für Frauen – und Männer
Dennoch sieht Billon klare Fortschritte. Mentoring-Programme, weibliche Vorbilder und gezielte Förderstrukturen könnten aus ihrer Sicht tiefgreifende Veränderungen anstoßen. In den meisten Alpenländern existieren mittlerweile Ausbildungsprogramme für Nachwuchsalpinistinnen. In Deutschland war es Dörte Pietron, die 2003 als erste Frau in den gemischten Expeditionskader aufgenommen wurde. Heute leitet sie gemeinsam mit Raphaela Haug das Frauen-Expeditionsteam. In Frankreich gab es bereits 1992 erste gemischte Teams, damals mit nur wenigen Frauen. Erst 2005 wurde dort ein reines Frauenteam gegründet. Mit Erfolg: 2007 zählte Frankreich nur siebzehn staatlich geprüfte Bergführerinnen, zehn Jahre später waren es bereits vierzig – auch wenn sie damit immer noch die Minderheit bilden. „Viele der heutigen Bergführerinnen kamen direkt aus diesen Förderprogrammen“, sagt Billon – so wie sie selbst. Heute leitet sie das nationale Frauenteam (ENAF) des Französischen Berg- und Kletterverbands (FFME). Im Herbst 2025 steht die Abschlussexpedition des Teams nach Indien an. Für Billon ist klar: Solche strukturellen Angebote schaffen geschützte Räume, in denen Frauen wachsen und sich entfalten können, ohne sich ständig mit männlichen Kollegen messen zu müssen. Sie plädiert für ein neues Verständnis von Erfolg im Alpinismus: weg von Superlativen und Heldentum, hin zu kollektiven Leistungen und einem nachhaltigen Miteinander. Sie spricht dabei nicht von einem „weiblichen Stil“, sondern von unterschiedlichen Energien: männlich – eher wettbewerbsorientiert – und weiblich – gemeinschaftlich und kontemplativ. Beide Zugänge sollten gleichberechtigt koexistieren, auch in den Medien und verkörpert durch entsprechende Vorbilder. Denn oft ist das „weibliche Prinzip“ zwar vorhanden, aber unsichtbar – wie Frauen in der Geschichte des Bergsteigens. Ebenso würden Männer, die nicht dem traditionellen Männerbild entsprechen, davon profitieren.
Einen versöhnlichen Ton schlägt auch Raphaela Haug an. Mit ihrem Instagram-Post wollte sie in erster Linie mehr Bewusstsein für einen respektvollen Umgang miteinander schaffen. Die Resonanz darauf war jedenfalls groß. Ihr Wunsch für die Zukunft ist es, dass Menschen innehalten, bevor sie den nächsten Spruch machen; dass alle achtsamer miteinander umgehen; und dass irgendwann jede und jeder mit einem Gefühl von Sicherheit, Gleichwertigkeit und Respekt durch die Berge und durchs Leben gehen kann.