Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit
Sachbuch
06.05.2020, 14:42 Uhr
"Die Welt ist mir stumm und taub." Depression und Burnout, die Seelenkrankheiten unserer Zeit, drohen ausgerechnet dann, wenn alles erreichbar, beherrschbar, nutzbar ist. Unverfügbarkeit ist der Schlüssel zu heilsamer "Resonanz" – diese These entfaltet der Soziologe Hartmut Rosa in diesem Buch.
"Unablässig versucht der moderne Mensch, die Welt in Reichweite zu bringen: Dabei droht sie uns jedoch stumm und fremd zu werden: Lebendigkeit entsteht nur aus der Akzeptanz des Unverfügten." Hartmut Rosa ist einer der inspirierendsten Denker unserer Zeit. Sein Konzept der "Resonanz", des Einswerdens mit einem größeren Ganzen, ist ein heilsames Gegenmodell zum "immer mehr" der Wachstumsgesellschaft.
In diesem "Versuch", wie er das dünne, aber mit Ideen vollgepackte Taschenbuch nennt, analysiert er eine weitere Kehrseite unserer kapitalistischen Gesellschaft: ihre aggressive Grundhaltung zur Welt. "Alles, was erscheint, muss gewusst, beherrscht, erobert, nutzbar gemacht werden." Der Körper muss optimiert funktionieren, die Karriere muss passen, selbst Freizeit und Liebe werden (oft digital) gesteuert, kontrolliert und maximiert. Als Maxime der Wachstumsgesellschaft führt dieser Drang der "Verfügbarmachung" zu den Bedrohungen und Katastrophen, denen wir uns derzeit gegenübersehen.
Den Prozess des Verfügbarmachens unterteilt Rosa in vier "Dimensionen", man könnte auch Schritte sagen: sichtbar machen – zugänglich machen – beherrschbar machen – nutzbar machen. Ziel dieser ständigen Umwandlung von Dingen und Wissen in Mittel zum Zweck sei eine ständig zu steigernde "Weltreichweite". Doch dieses Programm mache uns nicht glücklich, formuliert er dann als Hauptthese – im Gegenteil: "Die … verfügbar gemachte Welt scheint sich uns auf geheimnisvolle Weise zu entziehen und zu versperren … erweist sich als bedroht und bedrohlich gleichermaßen." Frustration und Daseinsangst seien Folgen dieses "Weltverlustes".
In Resonanz mit dem Unverfügbaren
Als Heilmittel dagegen resümiert er dann sein Resonanzkonzept, das den Menschen in lebendige Beziehung zur Welt treten lässt: 1) Man lässt sich "berühren" von etwas; 2) man reagiert darauf emotional; 3) es geschieht eine Transformation/Anverwandlung: Der Berg, auf den ich gestiegen bin, ist danach für mich ein anderer, und auch ich bin ein anderer; 4) dieses Gelingen der Beziehung ist "unverfügbar", nämlich nicht per Rezept erzwingbar. So stünde der gesellschaftliche Imperativ der Verfügbarmachung dem seelischen Bedürfnis nach Resonanz entgegen und im Wege. Diesen Konflikt zeichnet er für sechs Lebensstationen nach, von Geburt bis Tod; dann skizziert er, wie gesellschaftliche Strukturen (wie Optimierung, Regulierung, Verrechtlichung,…) das Dilemma verschärfen. Zuletzt zeigt er, wie Unverfügbarkeit heute eher als bedrohlich erfahren wird: Uns stehen zwar alle Möglichkeiten offen, aber keine fühlt sich richtig an. "Dort, wo alles verfügbar ist, hat uns die Welt nichts mehr zu sagen."
Rosas Sprache ist klar, konkret und manchmal dennoch fast poetisch. Dann und wann muss man auch einen Satz zweimal lesen. Wert ist es das auf jeden Fall. Denn seine Denkmodelle erklären plausibel manches, was man im Inneren gefühlt haben mag. Danach müsste man es nur noch schaffen, die Kurve zu kriegen – hin zu Resonanz mit dem Unverfügbaren …
Kurzcheck
Info
Besonders geeignet für … Menschen, die sich schon immer gefragt haben, warum "mehr" nicht wirklich glücklicher macht.
Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit, Residenz Verlag, 2018, 136 S., 19 Euro