Wir Bergsteiger*innen sagen gerne: „Wir gehen in die Berge, weil es da noch wild ist!“ Ich würde sagen, so wirklich wild ist an den Alpen kaum noch was.
In nahezu jedem Tal ist eine breite Straße, in jedem Seitental eine Hütte. Als „einfache“ Unterkünfte gelten diese nur, weil wir zu Hause schon im Luxus leben. Fast alle Routen auf die Gipfel sind in diversen Führern detailliert beschrieben, Erstbegehungen muss man eigentlich erzwingen. Und sind wir auf Tour unterwegs, haben wir die Gewissheit, dass uns im Notfall die Berg wacht immer helfen wird, den Weg aus der Wildnis zu finden.
Mich wundert nicht, dass es Engländer wie Edward Whymper waren, die im 19. Jahr hundert begonnen haben, die Alpen zu er schließen. Die Industrialisierung war in England schon fortgeschritten, immer mehr Menschen lebten hier in verhältnismäßigem Wohlstand. Sie suchten dann wieder die Einfachheit in den Bergen und sprachen über deren „Wildheit“. Die Alpen wurden als „Playground“, also als Spielplatz, bezeichnet – auch, weil zu Hause alles schon reguliert, schon zivilisiert war. Hier wurde auch viel romantisiert – dieses Muster kennen wir nicht nur aus den Alpen. Auch in der Kolonialzeit beschrieben Reisende ferne Länder gerne als „unberührt“ und „wild“ – ob wohl dort seit Jahrtausenden Menschen lebten, Felder bewirtschafteten und Städte bauten. „Wildnis“ war dabei oft mehr Projektion als Realität, ein Bild, das man brauchte, um Abenteuer zu erleben oder Geschichten erzählen zu können. In den Alpen war es ähnlich: Was für die Städter ungezähmt wirkte, war für die Bergbauern längst Kulturlandschaft. So ähnlich wie damals ist es auch heute, glaube ich: Wer es richtig schwer hat im Leben, im Alltag viele Heraus forderungen bewältigen muss und mit dem schieren Überleben beschäftigt ist, wird eher nicht bergsteigen gehen. Das liegt sicher auch daran, dass man den Wunsch nach Wildnis erst dann verspürt, wenn das normale Leben keine Wildnis mehr bietet.
Und genau hier liegt die Crux. Unser Anspruch an Unterkünfte ist gewachsen, die Anzahl der Bergtourist*innen stark gestiegen. Gleichzeitig ist die Sehn sucht nach wilder Romantik nicht zurückgegangen. Aber: Hand aufs Herz, die meisten von uns wollen „echte“ Wildnis doch gar nicht mehr. Im Regen draußen schlafen, sich mit einer kratzigen Rosshaardecke in der Hütte zufriedengeben, das Essen selbst hinauftragen – das ist den meisten dann doch zu unbequem.
Und doch steckt in dieser Sehnsucht nach Wildnis etwas Grundlegendes. Wir Menschen brauchen Heraus forderungen, wir brauchen Gelegenheiten, uns auf Unsicherheit einzulassen, ein Wagnis einzugehen. Früher war das Alltag – ein Winter mit knappen Vorräten, ein Fluss ohne Brücke, ein Weg ohne Markierung. Heute suchen wir es uns gezielt: beim Klettern, auf der Skitour, in der Hütte ohne WLAN. Wildnis ist Luxus und Bedürfnis zugleich. Luxus, weil wir sie uns leisten können müssen. Bedürfnis, weil wir ohne sie nicht ganz wir selbst sind.