Wer einmal auf einem gut besuchten Berggipfel gestanden hat, weiß: Es gibt ein fast schon choreografiertes Schauspiel, das dort abläuft. Rucksäcke werden abgenommen, nasse Shirts aus- und trockene angezogen, Mützen hervorgekramt und aufgesetzt. Eine Gruppe postiert sich am Gipfelkreuz, um das obligatorische Foto zu machen – möglichst mit weitem Panorama und ohne Fremde im Hintergrund. Gleich daneben reicht jemand einen Gipfelschnaps herum, während wieder jemand anderes versucht, das Gipfelbuch aus der metallenen Schutzdose zu ziehen ... Beim Beobachten hat man das Gefühl, diese Szenen spielen sich seit Generationen genau so ab – und das stimmt auch. Denn am Gipfel beginnt nicht nur die vorzüglichste Aussicht, sondern auch eine ganze Reihe von liebgewonnenen Ritualen.
Mehr als nur ein Punkt auf der Landkarte
Rein objektiv ist der Gipfel einfach der höchste Punkt einer Route – nicht selten nur ein paar wenige Quadratmeter Fels oder Schnee. Doch in der Wahrnehmung all derer, die oben ankommen, ist er viel mehr. Er ist das Ziel, auf das jeder Schritt – sei es zu Fuß, mit den Ski oder Schneeschuhen – ausgerichtet war. Nach Stunden des früher oder später meist schweißtreibenden Aufstiegs verändert sich hier plötzlich der Blickwinkel: Statt den nächsten Meter und noch einen und noch einen schaffen zu müssen, breitet sich das Gipfelpanorama in seiner ganzen Weite und Schönheit vor einem aus.
Wusstest du schon?
In der Psychologie kennt man den „Peak Experience“-Moment. Dieser kann im Zusammenhang mit kreativen Aktivitäten wie Malerei oder Musik erlebt werden, bei besonderen Naturerlebnissen wie einem Sonnenaufgang oder eben auch bei sportlichen Höchstleistungen. Dieser Moment ist oft geprägt von intensiven Emotionen.
Am Gipfel gesellt sich zur körperlichen Erleichterung also das Gefühl tiefster Glückseligkeit. Einmal mehr, nachdem man etwas aus vollkommen eigener Kraft vollbracht hat. Es geht einher mit dem Gefühl, die Welt für einen Augenblick als stimmiges Ganzes zu erleben und beschreibt so einen besonders intensiven und sinnstiftenden Moment von … nun ja, hier wohl: „Gipfelglück“.
Klassische Gipfelrituale
Zwar ist der Gipfel selten der Endpunkt eines Tourentages, doch er ist immer ihr Höhepunkt. Und genau das macht ihn zum perfekten Ort für Traditionen. Viele der Traditionen am Gipfel sind dabei so alt wie das Bergsteigen selbst:
Vom Gipfelkreuz-Berühren bis zum Brotzeit-Machen
Das Gipfelkreuz
m Alpenraum ist es das Symbol überhaupt: Seit dem 19. Jahrhundert schmücken Gipfelkreuze die höchsten Punkte vieler Berge. Ursprünglich als Schutzsymbol aufgestellt oder Ausdruck religiösen Dankes, sind sie heute auch kulturelles Erbe.
Nach dem Aufstieg das Gipfelkreuz zu berühren, kommt gewissermaßen dem Erreichen der Ziellinie gleich. Und auch, wenn es niemanden sonst auf der Welt interessiert, so weiß man selbst: ich hab’s geschafft, hier und jetzt, der Gipfel ist tatsächlich „mein“.
Die Fotos
Ähnlich obligat wie das Berühren des Gipfelkreuzes ist für viele ein Foto vor und mit ihm. Schließlich möchte man sich auch später daheim seines ganz persönlichen Erfolgs vergewissern und auch anderen etwas zeigen können.
Früher wurde dieser Augenblick in maximal ein, zwei Analogbilder festgehalten, heute gibt es schnell ein halbes Fotoalbum auf dem Smartphone. Ob inszeniertes „Gipfeljump“-Bild oder Selfie im Sonnenuntergang – das Bedürfnis, den einen, ganz besonderen Moment festzuhalten, ist ungebrochen.
Das Gipfelbuch
Meist versteckt in einer wetterfesten Metallbox, wartet es geduldig auf die Einträge der Gipfelgäste. Selbst, wenn man selbst nichts hineinschreiben möchte, lässt sich gut darin blättern. Man findet alles von einem einfachen „Ich war hier“ samt Name und Datumsangaben, über humorige Sprüche bis hin zu kunstvollen Zeichnungen.
Früher mehr als heute hatte das Gipfelbuch außerdem eine lebenswichtige Funktion: Galten Personen als vermisst, so ließ sich anhand der Einträge nachvollziehen, ob und wann sie den Gipfel erreicht hatten – In Zeiten ohne Smartphone für die Bergrettung oft ein wichtiger Anhaltspunkt.
Inzwischen sind auch digitale Gipfelbücher sind im Kommen: Statt per Hand ins Buch zu schreiben, wird via App der Eintrag mit Koordinaten dokumentiert. Manche Puristen schütteln den Kopf, andere sehen darin einfach die zeitgemäße Weiterentwicklung einer alten Idee.
Der Gipfelgruß
„Berg Heil!“ – ein kurzer Zuruf, der unter Bergfreunden die gemeinsam gemeisterte Anstrengung würdigt.
Erstmals benutzt wurde der Gruß, so ist es überliefert, am Gipfel des Olperers. Von dort verbreitete er sich rasch in den alpinen Bergsteigerkreisen. Sprachlich ist „Heil“ verwandt mit dem englischen „Hail!“, das als Gruß oder Glückwunsch steht. Im Bergsteigergruß wird es als Glück- und Segenswunsch verstanden, also der Wunsch, am Berg unversehrt und erfolgreich zu bleiben.
Nicht immer wird der Gruß wörtlich ausgesprochen, zu nah ist vielen die Verbindung zu nationalsozialistischen Grußformeln. Oft hört man auch einfach ein „Glückwunsch“ oder es gibt ein Nicken, einen festen Händedruck oder eine herzliche Umarmung.
Die Brotzeit und der Gipfelschnaps
Kaum irgendwo schmeckt ein simples Käsebrot besser als am Gipfel. Und während die einen nebenher auf Schokolade und Müsliriegel schwören, favorisieren andere den Enzian im mitgebrachten Flachmann. Schaut man sich um, wird klar: Am Gipfel geht es weniger um die kulinarische Finesse als um das Teilen des Moments – und genau hier liegt der Wert.
Das Abschalten
Bei all den Ritualen – von Gipfelselfie bis hin zu Gipfelschnaps – ist es durchaus legitim, sich dem ersten Impuls und einzelnen oder allen Ritualen zu entziehen. Stattdessen: einfach mal abschalten, nur still beobachten und das In-der-Natur-Sein genießen. Später dann einzig ein genaues Bild im Kopf mit ins Tal nehmen.
Der Ausblick – Eine Faszination ohne Verfallsdatum
Manche Rituale werden verschwinden, andere neu entstehen. Vielleicht wird das Gipfelbuch irgendwann tatsächlich nur noch virtuell existieren – vielleicht feiern wir künftige Gipfelerfolge mit 360°-Hologramm. Doch eines wird bleiben: das Bedürfnis, diesen besonderen Moment zu würdigen.
Verantwortung und Rücksichtnahme am Dach des Tages
So sehr das Erreichen des Gipfels ein besonderer Moment ist und er mittels verschiedenster Rituale „zum Feiern“ einlädt – ein Ehrenkodex gilt überall: Kein Müll bleibt zurück, keine Spuren werden mutwillig hinterlassen. Das Prinzip „Leave no trace“ ist dabei viel mehr als ein Modewort, es ist eine Überlebensregel für empfindliche Bergökosysteme.
Auch Rücksicht auf andere gehört dazu: Wer eine Drohne fliegen lassen oder die Musik aufdrehen möchte, sollte bedenken, dass viele den Gipfel gerade wegen der Stille suchen. Das Miteinander am Gipfel ist Teil der Magie – und lebt vom Respekt füreinander.
Traditionen am Berg sind unglaublich vielfältig und werden unterschiedlich gelebt. Noch mehr Bildeindrücke:
Der DAV und Bergader - aktive Partnerschaft seit 2020
Gemeinsam mit unserem Partner Bergader setzt sich der DAV im Rahmen der Kampagne „Spüre Dich selbst“ für einen gesundheitsorientierten Lebensstil und Achtsamkeit für das eigene Körpergefühl ein – in den Bergen wie auch Zuhause.