Strategie & Handwerkszeug

Das „Lawinen-Mantra“

Seit rund 20 Jahren gibt es die SnowCard als das Tool zur Risikoabschätzung im Lawinengelände – ob auf Skitour, beim Freeriden oder mit Schneeschuhen. Sie ist eingebettet in das „Lawinen-Mantra“ als die Entscheidungsstrategie im DAV. Wie die Strategie funktioniert und welche Rolle dabei das Werkzeug SnowCard spielt, erklären Jan Mersch und Christoph Hummel.

40.000 Exemplare der SnowCard sind bis heute bei Skitourengeher*innen und Freerider*innen angekommen. Die SnowCard wird kontinuierlich aktualisiert, zum Beispiel hinsichtlich des Lawinenlageberichts oder der Lawinenkunde (Stichwort „Probleme“). Im Ausbildungswesen des DAV wird das Lawinen-Mantra als die Entscheidungsstrategie für den Lawinenkontext favorisiert; es bringt das Beste aus „analytischer“ und „probabilistischer“ Denkweise systematisch zusammen.

Das Lawinenmantra strukturiert alle Aspekte der Risikoentscheidung, damit in keiner Tourenphase etwas übersehen wird: 1) Probabilistik 2) Analytik 3) Konsequenzen 4) Maßnahmen 5) Faktor Mensch. Illustration: Georg Sojer Illustration: Georg Sojer

Moderne Strategien verbinden Analytik und Probabilistik

Die Analytik versucht, den Schneedeckenaufbau naturwissenschaftlich zu verstehen, also zu analysieren. Mit ausreichend schnee- und lawinenkundlichem Hintergrundwissen lässt sich so die Bereitschaft der Schneedecke einschätzen, als Lawine abzugehen. In den letzten Jahren wurden Methoden entwickelt, die kompetente Skitourengehende unterwegs im Gelände anwenden können, um – ausgehend vom Lawinenlagebericht und von Beobachtungen unterwegs – am Einzelhang zu beurteilen, ob dort eine Lawine ausgelöst werden kann oder nicht. Diese Beurteilung ist jedoch komplex und die Treffsicherheit liegt selbst für Fachleute nicht bei 100 Prozent.

Wegen dieser Treffer-Unsicherheit der analytischen Methoden entwickelte der Schweizer Bergführer Werner Munter in den 1980er Jahren seine bekannte „Reduktionsmethode“ – die erste probabilistische (wahrscheinlichkeitsbasierte) Methode zur Beurteilung der Lawinengefahr. Sie berechnet das Unfallrisiko aus der Kombination von Unfalltoten in Lawinen in Relation zu Gefahrenstufe und Geländeparametern. Auf der Basis von Munters Reduktionsmethode entwickelten in den 1990er Jahren Martin Engler und Jan Mersch die SnowCard, die eine laufende Risikoabschätzung ermöglicht. Allerdings bietet sie keinen direkten Bezug zur konkreten Situation (Schneedecke) in einem Hang. Sie liefert nur eine Aussage über das statistische Risiko der Situation – basierend auf LLB und Gelände.

Heute sind sich „Analytiker“ wie „Probabilistiker“ einig, dass Strategien, die beide Ansätze kombinieren, Wintersportler*innen in der Praxis am besten helfen. Moderne Strategien berücksichtigen darüber hinaus weitere Aspekte für die Entscheidungsfindung. Bei der Tourenplanung, wo noch keine Beobachtungen oder Untersuchungen vor Ort möglich sind, steht die Probabilistik im Vordergrund. Am Einzelhang, wo letztlich eine Ja-/Nein-Entscheidung gefällt werden muss, bieten analytische Überlegungen und Methoden konkretere Anhaltspunkte. Wer aber am Einzelhang keine analytischen Argumente findet, hat in der Probabilistik zumindest einen Anhaltspunkt. Im Zweifel ist der Verzicht die einzige konsequente Alternative. Die Strategie Lawinen-Mantra, die in der DAV-Ausbildung vermittelt wird, vereint die Vorteile von Analytik und Probabilistik auf unterschiedlichen Kompetenzniveaus.

Mantra – das Handwerkszeug

Der Lawinenlagebericht (LLB) ist die Basis für jede ganzheitliche Strategie. Die Lawinenwarner – Profis mit einem großen Informationsnetzwerk (Beobachter, Wetterstationen, …) – beschreiben im LLB die Gefahrensituation für ein Gebiet.

Die SnowCard ist das probabilistische Werkzeug des Mantras. Durch die Kombination von Gefahrenstufe, Hangsteilheit und Lawinenproblem(en) führt sie zu „grün“ (niedriges Risiko), „gelb“ (mittleres Risiko) und „rot“ (großes Risiko) und so zu einer defensiven Handlungsempfehlung.

Fünf Lawinenprobleme: Wer sich mit Lawinenkunde beschäftigt (mit geschärften Sinnen im Schnee unterwegs sein, Literaturstudium, Kurse, …), wird ein zunehmend besseres Verständnis entwickeln. Dazu gehören unter anderem: Die Infos des LLB zu den fünf Lawinenproblemen und der Schneedecke verstehen, Karten lesen können, Wissen um Alarmzeichen, Methoden zur Schneedeckenuntersuchung, Beobachtungsgabe (Schnee, Wind, Geländebeschaffenheit, Temperatur, …) Interpretationsfähigkeit (Beobachtungen + Hintergrundwissen und das Zusammenspiel der vielen einzelnen Faktoren).

Mantra – die Systematik

Die beste Entscheidung im Gelände erreichen wir, indem wir laufend alle uns zugänglichen Informationen strukturiert zusammentragen, hinterfragen und neu bewerten. Das Lawinen-Mantra unterstützt uns darin, bei der Beurteilung und Entscheidung nichts zu übersehen. Die fünf Schritte gehen wir laufend gebetsmühlenartig durch. Die Parallelität von Risikoabschätzung (SnowCard) und analytischer Beurteilung (fünf typische Probleme + Prozessdenken) hilft, die Lücken und Schwächen der jeweiligen Herangehensweisen auszugleichen. Die meisten Europäer sind so sozialisiert, sofort alle Informationen zu verknüpfen und gleich Schlüsse daraus zu ziehen. Deshalb ist es für viele anstrengend und mühsam, das Mantra konsequent und beharrlich vollständig abzuarbeiten. Aber: Erfahrene Skitourengeher*innen haben dieses Schema verinnerlicht und arbeiten es in jeder Situation ab – ob bewusst oder unbewusst.

Mantra – die fünf Schritte

Schritt 1: Probabilistik

Wie wahrscheinlich ist es, auf der Tour an dem Tag in einen Unfall zu geraten?

  • Informationen des LLB WIE? -> Gefahrenstufe / WO? -> Gefahrenstellen.

  • Informationen zum Gelände - Höhenlage, Relief, Steilheit, Exposition.

  • Diese Infos werden mit der SnowCard „gefiltert“: Gefahrenstufe + Steilheit + günstig/ungünstig nach LLB.

  • Damit erhalten wir eine erste Risikoabschätzung zur geplanten Tour, zum geplanten Routenverlauf und zum Einzelhang.

Schritt 2: Analytik

Gibt es das beschriebene Lawinenproblem an dem Tag auf der Tour oder in dem Hang, und wenn ja, wie stark ist es ausgeprägt? Kann ich das Problem beurteilen?

  • Informationen des LLB WAS? -> Lawinenproblem /  WARUM? -> Beschreibung und Analyse.

  • Einfache Grundregeln ermöglichen es auch weniger erfahrenen Schneesportler*innen, analytisches Wissen für die Entscheidungsfindung zu nutzen: etwa die „Kritische Neuschneemenge“, die „Windzeichen“ oder die „Alarmzeichen“.

  • Schneedeckentests unterstützen auf der Basis von schneekundlichem Wissen und Prozessdenken die analytische Problembeurteilung. Je nach Situation bringt ein Schneedeckentest viel Differenzierung oder nur wenig mehr an Erkenntnis. Als gut durchführbar und aussagekräftig wird aktuell der ECT (Extended Column Test) favorisiert.

  • Letztendlich versuchen wir im analytischen Schritt, lokales Detailwissen zu sammeln und damit den LLB, der ja für ein ganzes Gebiet gilt, für die Tour zu spezifizieren.  Am Ende des analytischen Schritts fragen wir uns: Ist das beschriebene Problem im Hang zu erwarten (bei der Entscheidung am Einzelhang: Ist es vorhanden?) und wenn ja, wie stark ist es ausgeprägt?

Schritt 3: Faktor Mensch

Welches Risiko ist für uns als Gruppe und als Individuen heute akzeptabel? Wie nahe gehen wir an unsere Grenzen?

  • Wer ist dabei? Wie gut sind wir? Wie sehr wollen/müssen wir das Ziel erreichen? Was machen andere Menschen hier und jetzt?

  • Was sagt mir mein Gefühl? „Grummeln im Bauch“ oder „unsterbliche Euphorie“? Wieviel Reflexion zu meinem Handeln will ich heute zulassen? Eine Würdigung von verarbeitetem Erfahrungswissen mit dem ganz klaren Fokus auf das „Grummeln“. Hier Entscheidungen noch mal zu hinterfragen macht Sinn.

Schritt 4: Konsequenzanalyse

Wenn eine Lawine abgeht, wie groß sind die Überlebenschancen?

Welche Konsequenzen hat die Situation? Großer Hang? Andere Gruppen? Absturzgefahr? Geländefalle? Die Konsequenzanalyse ist eine Abwägung wie in der Notfallmedizin. Gerade bei SnowCard gelb und analytischer Indifferenz ist es zum Beispiel ein Unterschied, ob die ganze Gruppe verschüttet wird oder eine einzelne Person.

Schritt 5: Vorsichtsmaßnahmen

Können wir durch unser Verhalten das Risiko auf ein akzeptables Maß optimieren?

Sind Vorsichtsmaßnahmen (Entlastungsabstände, Sicherheitsabstände, einzeln gehen/fahren, sichere Sammelpunkte) notwendig und sinnvoll? Welche? Wie? Kann ich (und meine Gruppe) diese auch durchführen und einhalten (einen Korridor einhalten, sturzfrei eine Zone queren)? Welche Alternativen gibt es? Jetzt wird es konkret, mit klaren Handlungsanweisungen.

Mantra – die Anwendungsphasen

Der systematische Ablauf mit den fünf Schritten wird schon bei der Planung durchgespielt. Dann vor Ort, also am Startpunkt oder auf der Hütte. Und letztlich auf Tour am Einzelhang oder am Checkpunkt.

Bei der Tourenplanung

Die Entscheidung für ein Zielgebiet oder eine bestimmte Skitour sollte sehr gut überlegt sein, denn hier werden die Weichen gestellt: Die Entscheidung zur Umkehr fällt schwerer, wenn man schon am Parkplatz, in der Hütte oder gar auf Tour unterwegs ist. Da mittlerweile die meisten Lawinenwarndienste schon am Vorabend die Gefahrenstufe für den nächsten Tag prognostizieren, ist die Risikobeurteilung mit der SnowCard am Vortag jetzt noch treffsicherer als früher möglich.

Tourenplanung im Winter Mantra Illustration: Georg Sojer

1. Probabilistik:

Wir ermitteln, ob auf der Tour Gefahrenstellen wie im LLB beschrieben zu erwarten sind, und schätzen das dortige Risiko mit der SnowCard ab. Für alle Stellen, zu denen die SnowCard ein erhöhtes Risiko ausgibt, planen wir sinnvolle Checkpunkte, an denen wir auf Tour nochmal eine ganz bewusste Entscheidung mit Hilfe des Mantras treffen müssen.

2. Analytik:

Sind schon zusätzliche Informationen verfügbar zu lokalen Besonderheiten oder zum Schneedeckenaufbau an den Gefahrenstellen? Wo erwarten wir auf Tour welches der im LLB beschriebenen Lawinenprobleme? Wie stark könnte es beim aktuellen Wetterbericht ausgeprägt sein? Wo sollten wir besonders auf Warnzeichen achten?

3. Faktor Mensch:

Wie ist die Gruppenzusammensetzung? Skifahrerisches Können? Lawinenkundliches Beurteilungsvermögen? Bereitschaft zur Umkehr falls notwendig? Individuelle Risikobereitschaft in der Gruppe?

4. Konsequenzanalyse:

Für jede Gefahrenstelle überprüfen wir das Gelände unterhalb laut Karte: Was würde passieren, wenn eine Lawine abginge? Wenn beispielsweise der fragliche Hang sehr groß ist und direkt über einem eingeschnittenen Bachbett liegt („Geländefalle“), dann sind die Konsequenzen dramatischer, als wenn der Hang nur klein ist und flach ausläuft. Welche Lawinengröße gibt der LLB an?

5. Vorsichtsmaßnahmen:

Wir überlegen uns, welche Optionen wir an den einzelnen Gefahrenstellen haben, mit Vorsichtsmaßnahmen das Risiko zu verringern. Können wir zum Beispiel erkennen, wann Entlastungsabstände Sinn machen? Und diese dann auch konsequent einhalten? Oder: ist die Gefahrenstelle kurz genug, um mit großen Sicherheitsabständen die Konsequenzen zu minimieren (maximal eine verschüttete Person und genügend Personen zum Suchen und Ausgraben)?

Vor Ort im Gebiet oder auf der Hütte

Sind die tatsächlichen Verhältnisse so wie bei der Planung angenommen? Direkt vor dem Losgehen überprüfen wir alle Aspekte, die uns bei der Tourenplanung vorlagen, und ob sich etwas daran geändert hat. Wir denken noch einmal alle fünf Schritte durch und aktualisieren die Planung mit den neuesten Informationen.

Vor Ort. Illustration: Georg Sojer

1. Probabilistik:

Sind Gefahrenstufe, Lawinenprobleme und Situationsbeschreibung am Morgen der Tour noch so wie am Vortag prognostiziert? Passt die Planung noch zu den aktuellen Verhältnissen? Oder müssen wir andere Gefahrenstellen beachten, neue Checkpunkte festlegen?

2. Analytik:

Wie war die Wetterentwicklung über Nacht? Gab es markante Temperaturänderungen? Sehen wir Schneefahnen über den Gipfeln? Gab es spontane Lawinenabgänge? Wie viel Neuschnee ist gefallen? Ist der Schnee gebunden? Haben die Hüttenwirtsleute aktuelle Zusatzinfos? Wir verdichten das Informationsnetz so gut wie möglich.

3. Faktor Mensch:

Sind wir heute fit genug für die Tour? Wie euphorisch ist die Stimmung in der Gruppe? Können wir Alarmzeichen objektiv wahrnehmen? Wie viele andere Menschen sind unterwegs? Wie groß ist der „Druck aufs Gelände“? Welche Einstellung herrscht vor: „der Weg ist das Ziel“ oder „der Gipfel muss heute fallen“?

4. Konsequenzanalyse:

Ist das Gelände so wie beim Kartenstudium erwartet? Ist das Bachbett so flach wie gedacht, oder doch ein gefährlich eingeschnittener Graben? Müssen wir doch mit größeren Lawinen rechnen als gestern prognostiziert?

5. Vorsichtsmaßnahmen:

Wir rufen uns noch einmal alle Gefahrenstellen ins Bewusstsein und überlegen, welche Gefahren dort zu erwarten sind und welche Vorsichtsmaßnahmen uns zur Verfügung stehen.

Im Hang/am Checkpunkt

Unterwegs auf Tour bleiben wir an den Checkpunkten stehen, die wir in der Planung festgelegt und eventuell vor Ort aktualisiert haben, und durchdenken das Mantra, um die Gefahrenstelle einzuschätzen. Zusätzlich registrieren wir laufend Veränderungen gegenüber den Vorannahmen (mehr Schnee als angenommen, Gelände ist steiler als aus der Karte ersichtlich, …) und bewerten sie im Sinne des Lawinenmantras. Die gewonnenen Beurteilungen können zum Abbruch der Tour oder zur Entscheidung für eine Alternative (Plan B) führen.

Im Hang / am Checkpunkt. Illustration: Georg Sojer

1. Probabilistik:

Wir rufen uns die Inhalte aus dem aktuellen LLB und die Risikoabschätzung mit der SnowCard für die fragliche Stelle ins Gedächtnis. Die Gefahrenstufe der Region und die Höhenlage gelten auch für die Risikoabschätzung am Checkpunkt und Einzelhang. Die Steilheit des Geländes wird geschätzt und verglichen mit der Annahme aus der Planung. Risiko laut SnowCard?

2. Analytik:

Welche Lawinenprobleme nennt der LLB? Liegt der Hang in der relevanten Höhe und Exposition für ein vorhergesagtes Lawinenproblem? Ist das Problem im fraglichen Hang tatsächlich vorhanden? Wenn ja, kann ich beurteilen, wie wahrscheinlich eine Auslösung ist? Hilft dabei ein Schneedeckentest? Kann ich den Test an einer repräsentativen, aber sicheren Stelle durchführen?

3. Faktor Mensch:

Was sagt mir mein Bauchgefühl? Was ist für eine Stimmung in meiner Gruppe? Nur noch dieser letzte Hang? Sind schon Spuren vorhanden?

4. Konsequenzanalyse:

Ist am Hangfuß eine Geländefalle? Geht es durch Absturzgelände oder oberhalb von Felswänden? Sind andere Gruppen im Hang? Wer kann helfen, wenn doch etwas abgeht?

5. Vorsichtsmaßnahmen:

Kann ich den Hang sinnvoll mit Entlastungsabständen begehen? Gibt es sichere Sammelpunkte für die Gruppe? Kann ich konsequent einzeln abfahren, von sicherem Sammelpunkt zu sicherem Sammelpunkt?

Planung immer den Verhältnissen anpassen

Ob Freeriden, Schneeschuh- oder Skitourengehen: Der empfohlene Entscheidungsablauf ist identisch: Die Tagesplanung basiert auf dem aktuellsten Lawinenlagebericht und der Gebietssituation. Im Gebiet passt man die Planung den aktuellen Verhältnissen an. Und im Einzelhang heißt es immer wieder neu zu beurteilen, Konsequenzen abzuwägen, Vorsichtsmaßnahmen anzuwenden – und letztlich zu entscheiden.