Illustration von Menschen, der vor schmaler werdendem Weg steht
Eigenverantwortlicher Bergsport beruht auf geschulter Urteilskraft. Illustration: Georg Sojer
Risikomanagement philosophisch betrachtet

Berechnen oder Beurteilen?

Wer sich beim Umgang mit Unsicherheiten nur auf Regeln verlässt, entmündigt sich selbst. Eigenverantwortlicher Bergsport beruht auf geschulter Urteilskraft – und dazu braucht es Erfahrungen, die auch mal abseits des Normierten stattfinden. Der Philosoph Jens Badura plädiert darüber hinaus für die Bereitschaft, sich auf das Unerwartete im Leben einzulassen.

No risk, no fun – wer kennt diesen Spruch nicht. Im Alltag allerdings hat sich ein weniger spaßorientiertes Risikovoka­bular durchgesetzt: Man spricht von „Risikobewusstsein“ und vom Gebot zum systemati­schen „Risikomanagement“. Egal ob Lawinenprävention, Ernährungsverhalten oder Karriereplanung: Für alles gibt es heute ein breites Spektrum an Empfehlungen und Tools, mit denen „vertretbare“ Risiken vermeintlich rational ermittelt werden können.

So weit, so vernünftig, oder? Um dieses „oder“ soll es im Folgenden gehen. Denn es ist keineswegs selbst­verständlich, dass wir alles, was mit den möglichen Verläufen und Folgen, dem Glücken oder Scheitern unseres Handelns verbunden ist, in Denk­kategorien eines vermeintlich „messbaren“ Risikos verhandeln. Und es lohnt zu fragen, welche möglicherweise uner­wünschten Nebenwirkungen die zunehmende Allgegenwart dieses Diskurses hat – auch im Bergsport.

Eigentlich haben wir ein differenziertes Vokabular, um über Ungewissheiten und Gefahrenabschätzung bei unserem Handeln zu reden – Begriffe wie Wag­nis, Abenteuer oder Experiment. Das „Wagen“ und das „Wagnis“ beispielsweise entstammen dem Be­griff „wägen“, was etwas mit „abwägen“ zu tun hat, aber auch mit „in Bewegung sein“ – übertragen ge­sagt: geistig beweglich. Dazu braucht es Orientie­rungsvermögen, Erfahrenheit, das Gewichten von Zielen und Optionen. Wer etwas wagt, hat keine Sicherheit gegenüber der Gefahr: Man bleibt mit ihr auf Tuchfühlung, verantwortet sich aktiv, ver­traut dem eigenen Vermögen, die Situation zu meis­tern. Und wenn et­was durch ein Wagnis ge­wonnen wurde, dann war dieser Gewinn eben nicht planbar, sondern verdient – und immer auch ein Stück weit Gunst des Moments.

Dass wir heute eher von Risiken als von Wagnissen sprechen, ist Ergebnis einer kulturgeschichtlichen Entwicklung, die im 18. Jahrhundert gründet. Damals begann man, die Wahrscheinlichkeit für erwünschte oder unerwünschte Entwicklungen systematisch zu bewerten. „Probabilistische Revolution“ wird diese Entwicklung zuweilen genannt; von lateinisch „pro­babilis“ – wahrscheinlich. An die Stelle von Schick­salsglauben trat also nach und nach jenes erfah­rungsbasierte Kalkül, das bis heute die Risikoformel bildet: Risiko = Eintrittswahrscheinlichkeit x Scha­densausmaß. Ein in vielen Fällen – auch im Bergsport – wirkungsvolles Instrument zur Unterstützung der Urteilsbildung, wenn Gefahren und Chancen einzu­schätzen und abzuwägen sind.

Profis bewegen sich regelmäßig in "wildem" Gelände - jahrelange Erfahrung gibt ihnen die nötige Kompetenz, Urteilskraft und Intuition. Passieren kann trotzdem immer was. Vor allem, wenn weniger Erfahrene den Selfie-Schuss "re-enacten" wollen. Foto: DAV/Marco Kost

Und als pragmatisch­-unterstützende Maßnahme mag Risikomanagement im Umgang mit Gefahren ja auch sinnvoll sein. Heute aber wird es häufig zum gebotenen oder gar einzig legitimen Ansatz erklärt – und das ist problematisch. Denn so kann leicht aus dem Blick geraten, dass gutes Entscheiden in Situationen der Ungewissheit ein komplexes Zu­sammenspiel unterschiedlicher Kompetenzen erfordert, nicht allein Risikokalkül. Anders gesagt: Durch die starke Fokussierung auf das Risikodenken wird ein sehr eng gefasstes Konzept von Orientie­rungspraxis und Entscheidungsrationalität zuneh­mend zur Norm.

Die Welt ist nicht berechenbar

Die Welt ist jedoch immer komplexer als unsere Ri­sikoprognosen es sein können: Alle, die viel in den Bergen unterwegs sind, wissen, dass man zwar durch gute Planung manches Problem verhindern kann, nie aber gegenüber allen Eventualitäten gewappnet ist. Deshalb ist neben heuristischen Hilfsmitteln wie ei­nem soliden Risikomanagement vor allem eines wichtig: Urteilskraft – laut Immanuel Kant jenes be­sondere Erkenntnisvermögen, das zwischen Allge­meinem und Besonderem vermittelt. Das Spezifische einer Situation muss erkannt und dann im Lichte von vielfältigen Deutungsmustern beurteilt werden. Urteilskraft braucht also die Fähigkeit zur Wahrnehmung genauso wie zur Deutung dieses Wahrgenom­menen, sie erfordert sinnliche wie rationale Kom­petenzen, sie setzt Erfahrenheit voraus und beruht auf Weltoffenheit – also der Bereitschaft, Unerwar­tetes (an­) zu erkennen. Dieses Zusammenspiel kann nicht an ein Entscheidungstool delegiert werden, das für eine gelegentliche Wochenendtour zur Hand genommen wird, sondern erfordert konsequente Einübung. Nur dann ist ein selbstbestimm­tes und selbstverantwortliches Handeln möglich, auch am Berg. Das fundierte Vermögen zur Erken­nung und Einschätzung objektiver und subjektiver Gefahren ist unverzichtbar dafür, bewussten oder unbewussten Leichtsinn zu vermeiden. Eine ent­sprechend ausgebildete Urteilskraft ist daher die Bedingung für (nicht nur) alpinistische Mündigkeit – und damit auch dafür, probabilistische Entschei­dungshilfen vernünftig einzusetzen. Wobei „ver­nünftig“ heißt: diese als ein Element der Urteilsfin­dung einzuschätzen und mit anderen Elementen sorgfältig abzuwägen.

Eigenverantwortung ist nicht delegierbar

Auch wenn viel dafür getan wird, diesen Zusammen­hang deutlich zu machen und zu zeigen, dass Hilfsin­strumente und Regeln wie Snowcard & Co. nur einen begrenzten Sinn haben: De facto befördern diese wie auch die vielfältigen technischen Lösungen der Bergsportindustrie den gerade im Bergsport fatalen Eindruck, dass Entscheidungen delegier-­ oder versicherbar seien – und laden dazu ein, Unternehmun­gen zu „riskieren“, ohne sie wirklich im skizzierten Sinne selbstverantwortlich durchführen zu können. Im Fall des Falles wird es der Lawinenairbag, die Not­fall-­App oder das Rescue­Kit schon richten – oder das neue Entscheidungstool sagt, wann „go“ gilt. Der Bergsport-­Boom hält an und immer mehr Aktive begeben sich in zuweilen gefährliche Situationen – oft wenig erfahren, aber umso erlebnisorientierter.

Wichtig wäre daher eine deutliche Botschaft zur Re­lativierung der Leistungsfähigkeit solcher Entschei­dungshilfen und Versicherungsversprechen; abge­sandt von jenen, die relevante Adressaten erreichen können: von den alpinen Vereinen, Bergmagazinen oder Bergschulen. Vielleicht wäre es sogar sinnvoll, weniger Geld in die Entwicklung und Vermittlung von Risikomanagement­-Tools zu stecken, sondern in neue Konzepte für Überzeugungsarbeit gegenüber Bergsport­-Neulingen, sich beim praktischen Erwerb von „Urteilskraft“ von Profis begleiten zu lassen. Wahrscheinlich müsste man dann auch viel klarer als bisher deutlich machen, dass zum erstrebten Lustgewinn am Berg auch ein Wagnis im oben ge­nannten Sinne gehört, das eben nicht kalkulierbar ist. Zwar weist der verbreitete Begriff „Restrisiko“ auf diesen Aspekt hin. Doch zeigt sich in der Bild­sprache, mit der neben der Tourismus-­ und Ausrüs­tungsindustrie auch die alpinen Vereine werben, fast ausschließlich das verlockende Erlebnisver­sprechen. Hier müsste viel klarer adressiert werden, welches Können für welche Unternehmung nötig ist – gerade auch im Sinne einer bergsportlichen Ur­teilskraft.

Auffi muass i! Ich will alles! Und zwar sofort! - Wer den hedonistisch-rücksichtslosen Grundansatz der Leistungsgesellschaft mit in die Berge nimmt und meint, sich dort alles kaufen zu können - z. B. berechenbare Sicherheit, kann sich schmerzlich täuschen Foto: Hervé Barmasse

Zugleich ist explizit zu akzeptieren, dass sich wirklich Bergerfahrene nicht unbedingt von ei­nem Rot-­Gelb-Grün-­Schema oder der Formel „stop or go“ vorschreiben lassen wollen, wann sie wo wie zu gehen haben, sondern dass sie ihrer eigenen Ur­teilskraft vertrauen – auch wenn sie einmal der Lo­gik folgen „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“. Anstatt also einseitig auf das Denken vom (messba­ren) Risiko zu setzen, wäre es besser, vermehrt die unterschiedlichen Weisen zur Entscheidungsfin­dung unter Unsicherheit nebeneinanderzustellen und jeweils zu überlegen, was in welcher Situation und durch welche Akteur*innen sinnvoll einzusetzen ist. Dabei ist dezidiert auch auf Erfahrenheiten und Kompetenzen zu verweisen, die sich nicht in Durch­schnittswerten und Wahrscheinlichkeiten abbilden lassen – sie brauchen ein Sensorium, das im spezi­fischen Moment die angemessene Entscheidung er­laubt. Erfahrene Bergmenschen sprechen oft von In­tuition als wichtiger Ratgeberin. Und das ist kein Grund, ihnen irrationale Verstiegenheit vorzuwer­fen: Wer wirklich erfahren ist, wird neben dem Bauchgefühl immer auch andere, darunter probabi­listische wie strategische Faktoren in den Urteils­prozess angemessen einbeziehen.

Die oben angesprochene Weltoffenheit ist übrigens nicht nur gegenüber Gefahren von Bedeutung: Nur im weltoffenen Erleben ist es möglich, Neues zu erfahren. Andernfalls wird man wohl nur vorgeplantes Mittel­maß in erwartete Erlebnisse umsetzen. Das mag manchem genug sein – aber Berge haben mehr zu bieten.

Unsicherheit und Risiko im DAV

Der DAV plädiert unter anderem in seinem Risikomanifest für einen eigenverantwortlichen Umgang mit Gefahren und Chancen im Bergsport. Respekt vor der eigenen Freiheit und der Freiheit der anderen ist dabei eine wünschenswerte Grundeinstellung.

  • Bei geführten Touren und in der Ausbildung und Öffentlichkeitsarbeit, vor allem gegenüber weniger erfahrenen Bergsportler*innen, bieten die Systeme und Werkzeuge eines modernen Risikomanagements eine sinnvolle Leitschnur, um grobe Fehler zu vermeiden und gerade die ersten Erfahrungen in Räumen mit überschaubarem Risiko zu sammeln. Dazu gehören auch klare „Rezepte“ für gute Grundmuster, etwa zur Auswahl und Bedienung von Sicherungsgeräten.

  • Im Sinne einer „Kompetenzorientierung“ zielt die alpine (Aus-)Bildung im DAV aber langfristig auf mehr: auf Entwicklung von reflektierter Erfahrung, Urteilsvermögen und letztlich gar Intuition zur Unterstützung rationaler Abwägungen. Denn wer das sinnstiftende Potenzial des alpinen Erlebens ausschöpfen will, muss auch über gesicherte Räume hinausgehen und Grenzen antesten und erweitern dürfen.

Ein erfülltes Leben wagen

Ja: Das Leben hat mehr zu bieten! Eine Generalisie­rung des Risikodenkens dagegen, bei gleichzeitiger Abwertung alternativer Weisen, sich in der Welt und bei Entscheidungsprozessen zu orientieren, spiegelt ein Phantasma, dass das Leben berechen-­ und be­herrschbar sei. Daraus folgt dann unter anderem der Glaube, man müsse nur den Profis und ihren Risi­koprognosen folgen, um das eigene Schicksal zum beherrschbaren „Machsal“ umzuformen – sei es bei Gesundheitsfragen, der Partnerwahl oder anderen Themen. Aber was ist die Konsequenz? Letztlich doch der Versuch, unser „In­-der­-Welt­-Sein“ dadurch zu versichern, dass nur noch jenes erstrebenswert erscheinen soll, was wir erwarten wollen: etwa ein Wochenende am Berg gemäß fertiger Bilder im Kopf, die wir dann mit foto­grafischen Beweismitteln gesi­chert „re-­enacten“ können.

Die Welt ist unberechenbar – mal grandios, mal dramatisch. Sich diese Erfahrungsräume zu versagen und sich mit strategisch orchestrierter Erwartungserfüllung zu begnügen: Ist das ein wirklich gutes Leben?

Text: Der Kulturphilosoph Jens Badura leitet das berg_kulturbüro im Bergsteigerdorf Ramsau und das creativealps_lab an der Zürcher Hochschule der Künste, ist Bergwanderführer und bei der Bergrettung Salzburg.

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