Überquerungen von Mittelgebirgen werden ja gerne unterschätzt. Da macht der italienische Apennin keine Ausnahme. Weniger Höhenmeter als bei einem Alpencross, nicht so viele Kilometer und kaum klangvolle Passnamen. Dafür kann man im Apennin tief in die Geschichte eintauchen. Quer über das Gebirge ziehen eine Fülle von Übergangswegen, teils religiösen Ursprungs, teils Handelsrouten, teils Eroberungsachsen (mehr dazu unter camminiemiliaromagna.it). Eine dieser Routen ist aus ihrem Märchenschlaf erwacht: die Via Vandelli. Wiederentdeckt hat sie der Wanderer Giulio Ferrari aus Modena. Nach jahrelangem Studium historischer Quellen machte er sich von seiner Haustür zu Fuß auf den Weg. Was er dabei entdeckte, ließ ihn nicht ruhen: Diese Route musste der Nachwelt erhalten bleiben.
Eine neue Route zum Mittelmeer: Geschichtsstunde
Frühes 18. Jahrhundert, Herzog Francesco III. aus dem Herrschergeschlecht der Este hat ein Problem: bedeutende Teile seines Herrschaftsgebiets des Herzogtums Ferrara hat er an die Truppen des Kirchenstaates verloren und damit auch den Zugang zur Adria. Den Stammsitz hat er schon verlegen müssen, von Ferrara in Küstennähe nach Modena inmitten der Poebene. Es droht nicht nur der Machtverlust im Kräftespiel mit den toskanischen Nachbarn, auch wirtschaftlich steht für Francesco und seine Untertanen viel auf dem Spiel. Wenn sein Herzogtum im Warenhandel auf die die Handelswege kontrollierenden Nachbarn angewiesen ist, dann wird er leicht erpressbar.
Aber er hat eine Idee. Eine arrangierte Hochzeit seines Sohnes Ercole III. mit Maria Teresa Cybo-Malaspina, Herzogin von Massa und Prinzessin von Carrara, künftige Erbin des Herzogtums Massa, soll ihm erneut Seezugang bescheren, diesmal allerdings im Westen, am tyrrhenischen Teil des Mittelmeers. Ercole III. ist erst 10, die auserwähle Braut nur 2 Jahre älter. Sie war bereits einem Nachkommen der Savoyer versprochen worden, aber der Gatte in spe hatte die Hochzeit nicht erlebt. Durch den Zusammenschluss der beiden Herzogtümer Ferrara und Massa war der Seezugang zwar auf den Landkarten der damaligen Zeit besiegelte Sache, aber Apennin und Apuanische Alpen standen als natürliches Hindernis dazwischen und mussten erst einmal überwunden werden. Alle verfügbaren Straßen führten ausnahmslos über verfeindetes Gebiet.
An diesem Punkt kommt Domenico Vandelli ins Spiel. Der Universalgelehrte am Hofe Francescos III. war nicht nur Abt, sondern auch Mathematikprofessor, Geograph und Baumeister, ein typisches Kind der Aufklärung. Dass er nebenbei einen Kommentar zu Dantes Göttlicher Komödie veröffentlichte, tut in diesem Zusammenhang nichts zur Sache. Er bekam von seinem Herrn die Aufgabe übertragen, eine Straße über die Gebirge zu projektieren, befahrbar für Ochsengespanne, um den Handel mit Waren zu ermöglichen. Vandelli machte sich 1739 an die Arbeit, studierte Terrain, Täler und Gebirgskämme und konnte 13 Jahre später Vollzug melden. Nebenbei erfand er so etwas wie die Isohypse, eine höhengleiche gedachte Linie, die es ihm ermöglichte, Steigungen und Gefälle möglichst sanft zu wählen, damit Zugtiere und Lasten beim Traversieren nicht unnötig Gefahren ausgesetzt wären. Waren die Römer die ersten Baumeister des europäischen Straßenwesens gewesen, dann ist Vandelli der erste Straßenbauer der Moderne.
Von Modena führt dieser Handelsweg erst einmal ziemlich flach südwärts Richtung Apennin. Dieses Mittelgebirge hat die Eigenschaft, ziemlich abrupt anzusteigen und sich in einer Vielzahl von Tälern und Seitentälern zu verästeln. Man verliert da gerne recht schnell die Orientierung. Nicht so Domenico Vandelli. Der lässt sich nicht beirren, nimmt bei der weiteren Planung durch das Frignano auch gelegentlich mal wieder ein Gefälle in Kauf und steuert unbeirrt auf den Apennin-Hauptkamm östlich des weithin sichtbaren Monte Cimone zu. In den dichten Wäldern überquert die Via Vandelli den Apennin am Lagadello-Pass, den man sich zu Vandellis Zeiten als undurchdringbaren Urwald vorzustellen hat.
Der erhoffte Blick aufs Meer muss allerdings noch warten: stattdessen schiebt sich ein weiterer massiver Klotz ins Blickfeld: die Apuanischen Alpen. Dieser gigantische Marmorblock aus weißem Gold türmt sich furchteinflößend zwischen dem tiefen Tal der Garfagnana und dem Mittelmeer auf und scheint seinen Betrachter*innen nur eines zuzuraunen: "Hier nicht, Freunde! Sucht euch einen leichteren Weg außen herum." Für Vandelli ist das aber keine Option, denn diese Route hätte wieder Feindesland passiert. Er muss also drüber, irgendwie. Und das Irgendwie bekommt bald einen Namen: Der Passo della Tambura, mit 1620 Metern über dem Meer einer der niedrigsten Übergänge in den Apuanischen Alpen, aber beidseitig so steil, dass einem schon beim Hinschauen schwindlig wird (ein Bild dazu findet man auf Facebook). Das, so wird Vandelli schnell klar, wird nur mit sehr vielen Kehren und Serpentinen gehen.
Wir starten im Zentrum Modenas direkt am Palazzo Ducale, dem prachtvollen Herzogspalast. Spuren der historischen Via Vandelli sucht man hier vergebens. Längst wurde im erweiterten Stadtgebiet alles mittels Autobahnen und Schnellwegen an moderne Verkehrsbedürfnisse angepasst. Einem GPS-Track folgend, der uns aus dem gröbsten Chaos heraushält, biegen wir ein ins stille Tal des Flusses Tiepido. Hier gibt’s nur noch Landwirtschaft, ein müde dahin dümpelndes Bächlein, Stechmücken und selbst Maranello, das wir mit röhrenden Formel-1-Motoren assoziieren, döst verschlafen in der Hitze der Po-Ebene. Flirrend heiß geht es flach dahin bis Torre Maina – immerhin erfrischt uns der Fahrtwind ein wenig. Ein Luxus, den man beim Wandern auf diesem Teil der Via Vandelli nicht genießt.
Nach 23 Kilometern endlich mal eine Steigung: Auf dem Hügel grüßt von weitem die Wallfahrtskirche Madonna di Puianello. Der schweißtreibende Anstieg wird belohnt von einem Automat mit kühlen Getränken. Weiter ins Frignano folgt nun Hügelkuppe um Hügelkuppe. Wie im Apennin üblich, versucht die Wegführung immer auf der Kammlinie zu bleiben und so Höhenunterschiede zu minimieren. Das klappt ganz gut, aber ein wenig Auf und Ab lässt sich nicht ganz vermeiden. Dafür lenken andere seltsame Dinge unsere Aufmerksamkeit auf sich. Bei den Salse di Puianello blubbert eine undurchsichtige Brühe verdächtig aus der Erde (hier ein kurzes Video dazu). Ein Vulkanausbruch bleibt uns immerhin erspart. Die Lehmbecken türmen zwar elefantengraue Kegelberge auf, scheinen aber ansonsten harmlos zu sein.
Bei San Dalmazio verheißt der GPS-Track einen steilen Downhill auf einem Wanderpfad, aber im brusthohen und unbegangenen Grashang ist davon nichts zu sehen, so dass wir auf die nahe Straße ausweichen müssen. Nach 43 Kilometern stoßen wir auf ein Wegedreieck, das auf eine Variante der Via Vandelli hinweist, von Sassuolo herführend. Dort hatten die Herrscher der Este ihren zweiten Stammsitz, wenn ihnen die Hitze in Modena zu sehr aufs Gemüt drückte. Es ist nicht mehr weit und ein paar Hügelkuppen später fahren wir ins kleine Provinzstädtchen Pavullo del Frignano ein, wo wir in einem kleinen Hotel Quartier beziehen. Pavullo hat neben allerhand Läden und einem bescheidenen Nachtleben immerhin auch einen Herzogspalast aufzuweisen. Dieser war der Sommersitz der Este in den Bergen.
Ein Radweg entlang einer Landebahn läutet die zweite Etappe ein. Bald aber schon geht es beherzter zur Sache. Singletrails bei Montecuccolo führen in steilem Auf und Ab nach Monzone. Die nächste Sehenswürdigkeit ist bald erreicht, die Ponte d’Ercole, die Herkulesbrücke. Sie wird im Volksmund auch Ponte del Diavolo genannt. Es handelt sich um eine aus Fels erodierte Steinbrücke, über 20 Meter lang. Ein natürliches Kunstwerk, das – so der Aberglaube – nur vom Teufel höchstpersönlich erschaffen worden sein konnte. Immer mal wieder bekommt man nun auch das Gefühl, auf einer historischen Wegstrecke unterwegs zu sein: mal ist der Untergrund gepflastert, mal gesäumt. Immerhin gibt es stellenweise Passagen, die noch nicht vom Modernisierungswahn zunichte gemacht wurden.
Lama Mocogno ist bald erreicht und gibt herrliche Blicke auf den Hauptkamm des Apennin frei. Es wird Zeit für eine Erfrischungspause, denn bis La Santona geht es hauptsächlich bergauf. Bei Centocroci passieren wir einen der wenigen Straßenpässe, schrauben uns an der Capanna de Guerri vorbei, ein sehenswertes Steinhaus keltischen Ursprungs, und weiter dem Kamm entgegen. Derweil scannen wir die Umgebung nach Wasserstellen ab. Bei der herrschenden Hitze möchten wir keinen Brunnen verpassen. Die Blicke auf den Monte Cimone entschädigen für die Anstrengung.
Nicht immer ist es auf unseren Mountainbikes ratsam, dem Wanderweg der Via Vandelli zu folgen: Die Passhöhe am steilen Lagadello-Pass lässt man besser aus, folgt idealerweise ein kurzes Stück der Hauptstraße zum Radici-Pass, wo ein sehr schöner Trail um die Bergnase herum führt und San Pellegrino in Alpe von der Seite her ansteuert. Endlich sind wir über den Berg und haben uns einen langen Downhill bis in die Garfagnana verdient. 1300 Höhenmeter auf einem Mix aus schmalen und geschotterten Wegen bringen uns nach Castelnuovo, wo wir ziemlich geschafft in einem hübschen Agriturismo einchecken und beim Abendessen die Leckereien der Region genießen.
Die Garfagnana ist ein ziemlich isoliertes Tal. Im Zweiten Weltkrieg war die Bevölkerung hier vor harte Proben gestellt. Zu Essen gab es kaum etwas, barfuß zogen Frauen über die Berge in die Emilia mit ein paar Kilo Kastanienmehl im Gepäck, in der Hoffnung auf etwas Öl und andere Lebensmittel im Tausch. Viele haben diese Tortur nicht überlebt. Andererseits war die unzugängliche Garfagnana ein Partisanen-Schlupfloch, was die faschistischen Besatzer des Öfteren zu Säuberungsaktionen hinriss. Auch dies haben viele Unschuldige mit dem Leben bezahlt.
Wir sind uns bewusst: die Stunde der Wahrheit steht uns heute bevor. Wir haben viel gelesen über den Übergang am Passo della Tambura, der die Apuanischen Alpen überwindet. Und das hatte uns nicht unbedingt beruhigt. Die Ostseite ist steil und führt durch Marmor-Steinbrüche, in denen das weiße Gold auch heute noch abgebaut wird. Die Nutzung der Straße ist daher nur Betriebsfahrzeugen der Marmorgewinnung erlaubt. Normalsterbliche müssen den Wanderweg benutzen, der allerdings ab Vagli Sopra bergauf komplett unfahrbar ist.
Immerhin ist Wochenende und wir hoffen auf unsere Chance, dass keine Arbeiten oder schlimmer noch, Sprengungen im Gange sind. Wir bleiben also so lange es geht auf der befahrbaren Marmorrampe – zum Glück ohne Kontakt zu Arbeitern. Kurz unterhalb der 1200-Meter-Marke ist die Piste jedoch zu Ende und wir müssen unsere Bikes für den Rest des Übergangs bergauf schieben, selten mal ein paar Stufen tragen.
Immerhin verläuft der Wanderweg hier auf einer erstaunlich gut erhaltenen Trasse der historischen Via Vandelli. Hier lässt sich das Genie des Baumeisters erkennen, der die Wegführung sanft an die Konturen des Geländes angepasst hat. Ein paar umgestürzte Bäume, einige wenige Restschneefelder halten uns auf dem Weg zum Pass nicht länger auf. Es bleibt Zeit für ein Schwätzchen mit Wanderern, für die Suche nach einer nahen Quelle und dann endlich, für den sensationellen Blick vom Pass aufs Mittelmeer: Hier oben, da sind sich Wander*innen wie Biker*innen einig, haben sich die Strapazen des Aufstiegs gelohnt.
Die Euphorie sollte man allerdings unter Kontrolle halten: Der Abstieg auf der Meerseite hat es nämlich in sich. Die ersten zweihundert Höhenmeter bis zur Finestra Vandelli sind in verblocktem Gelände auf einem ziemlich steilen und geröllübersäten Pfad mit ausgesetzten Tiefblicken zu bewältigen. Hier hätte ein Fahrfehler fatale Folgen, daher ist Schieben die sicherere Option. An der Finestra lassen wir die Bikes liegen und zweigen kurz zum nahegelegenen Rifugio Nello Conti ab, wo wir uns ein Erfrischungsgetränk verdient haben. Hier könnte man auch übernachten, wenn man das Glück hat, einen der wenigen Lagerplätze zu ergattern. Wer wandert, ist auf einen Schlafplatz in der Regel angewiesen, denn Auf- und Abstieg an einem Tag sind nur für die Allertrainiertesten eine Option.
Wir hingegen können es ab der Finestra Vandelli bergab rollen lassen, wenngleich auch bei höchster Konzentration. Denn die Abfahrtsseite ist fast noch steiler: Tausend Höhenmeter auf sechs Kilometern Wegstrecke – das ist ein Gefälle, das einen schlucken lässt. Dafür ist der Zustand der gepflasterten und fast schon terrassenförmig angelegten Via Vandelli ab der Finestra als nahezu sensationell zu bezeichnen. Erstaunlich, wie das Bauwerk fast dreihundert Jahre lang Wind und Wetter nahezu ohne Beschädigungen trotzen konnte.
Zwischendrin begutachtet mal eine neugierige Ziegenherde unser Fahrkönnen, taucht dann aber wenig beeindruckt in die Steilflanke ab. Am Gegenhang erkennen wir „lizze“, das sind von Menschenhand angelegte steile Wegrinnen, auf welchen früher die aus dem Berg gebrochenen Marmorblöcke unter Lebensgefahr zu Tal geschoben wurden. Wenn dabei einer außer Kontrolle geriet, war er nicht mehr aufzuhalten und Tonnen Marmor krachten berstend zu Tal.
Im Dörfchen Resceto ist der Nervenkitzel der Abfahrt zu Ende. Eine geteerte Bergstraße führt nun Richtung Meer. Im Tal des Flüsschens Frigido verlässt die touristische Wiederbelebung der Via Vandelli zwar nochmals die Talstraße, damit Wander*innen nicht ewig lange auf Teer nach Massa laufen müssen, aber mit dem Rad wird man wahrscheinlich die schnelle Option wählen, anstatt am Gegenhang nochmals in die Talflanke auf den Viottolo delle Miniere aufzusteigen.
Zu Ende ist unser Abenteuer in die italienische Geschichte dann in Massa auf dem Hauptplatz Piazza Aranci direkt vor dem Palazzo Ducale: Von Herzogssitz zu Herzogssitz – wofür Domenico Vandelli bei der Planung 13 Jahre gebraucht hat, das haben wir mit dem Mountainbike in drei Tagen geschafft. Zur Belohnung haben wir uns noch einen „tuffo“ im Meer verdient.