An manchen Tagen sind es über dreitausend: durchtrainierte Sportlerinnen auf dem Mountainbike. Behäbige Senioren mit ihren voll bepackten E-Bikes. Und all die anderen, die auf dem Alpe-Adria-Weg an meinem Fenster in Gastein vorbeiradeln. Sehnsüchtig schiebe ich die Arbeit beiseite, entfalte die Landkarte. Mein Finger wandert, kommt ins Friaul zum Lanzenpass, gleitet die Strada delle Malghe bei Sappada entlang und erreicht Sexten im geliebten Südtirol. Genial – meine Traumtour beginnt hier vor dem Fenster! Höchste Zeit, aufzubrechen. Am Bahnhof in Böckstein herrscht Chaos. Dutzende drängen sich mit ihren Rädern in den Autozug, um durch die „Tauernschleuse“ auf die Alpensüdseite zu gelangen. In Mallnitz fischen wir unsere Mountainbikes aus dem Waggon und sausen hinunter ins Mölltal. Mit jedem Kilometer fühlt es sich besser an, unterwegs zu sein. Wo sich Möll und Drau vereinen, wird das Tal breiter. Die Horde verteilt sich auf dem Drauradweg. Bei Villach zeigen die Wegweiser nach Süden, entlang der Gail. Die Sonne brennt herunter und es geht bergauf. In Thörl-Maglern biegen wir auf die als Top-Radweg umfunktionierte Bahntrasse ab. Hinter der italienischen Grenze wartet wieder ein knackiger Anstieg, die Julischen Alpen rücken langsam näher.
„Stellt die Bikes in den Garten“, sagt unser Gastgeber in Tarvis. Nein, nicht abschließen. Er schiebe sie in den Schuppen. Irgendwann schließen wir sie doch ab. In der Nacht höre ich Geräusche, schaue aus dem Fenster – wo sind unsere Räder? Doch sie sind noch da, sorgfältig mit Plane abgedeckt! Entspannt sausen wir anderntags zwischen mächtigen Betonpfeilern unter Autobahnbrücken durch. In Pontebba verlassen wir die Alpe-Adria-Radroute und sind mit einem Schlag allein. Durch malerische Weiler geht es zum berüchtigten Lanzenpass, ein Bergbach plätschert gemütlich. Dann die ersten Steilstufen. Motorradfahrer kommen vorsichtig von oben, winken uns und heben den Daumen.
Zwei Rennradler steigen ab. Ich bin also nicht die Einzige, die das anstrengend findet. Oben erwartet uns der Felsklotz des Monte Zermula auf der einen und eine Almhütte mit Gerstlsuppe im Angebot auf der anderen Seite. Rasant geht es nach der Stärkung auf dem ramponierten Asphaltstreifen bergab. Gegenverkehr und ein tiefes Loch in der Straße. Dann schöne Almwiesen und viel Wald. Wir erhaschen bereits einen Blick auf das Bergsteigerdorf Paularo.
Die meisten Fensterläden sind dort noch verschlossen. Wir finden eine Bar, eine fesche Lady in weißem Fransenkleid und Cowboystiefeln bringt kühlen Aperol, bis uns unsere Vermieterin in ihre entzückende Pension führt. Abends schlendern wir durch den Ort, entdecken die „Mozartina“, ein kleines, exquisites Museum mit alten Musikinstrumenten, und sind einsame Gäste in der einzigen geöffneten Pizzeria. Heute ist Ruhetag! Also fast. Zuvor keuchen wir in der heißen Morgensonne steil bergauf, bis die Sicht frei ist auf karge Grasrücken und imposante Felsgipfel. Die Abfahrt nach Paluzza, einem rausgeputzten Örtchen auf der Südseite des Plöckenpasses, ist erfrischend.
Dann die zweite Bergwertung: vierhundert Höhenmeter kräftig treten, während zu viele LKWs zu knapp an uns vorbeidonnern. Plakate erinnern an den Giro d’Italia und die berüchtigte Bergetappe auf den Monte Crostis. Vor uns liegt heute nur noch eine Abfahrt nach Comeglians – dann ist wirklich Ruhetag! Wir trinken Espresso und kommen ins Gespräch: Einige geben Tipps und viele schenken uns ein Lächeln. Am nächsten Morgen kommen wir durch reizende Dörfer, die Fenster sind liebevoll mit Blumen und allerlei Firlefanz geschmückt. Ein zwei Kilometer langer Tunnel – der Ausweichpfad ist gesperrt, wir nehmen ihn trotzdem. Der Steig windet sich durch ein Chaos umgestürzter Bäume, über einige müssen wir klettern. Zurück auf der Straße ist bald das malerische Forni Avoltri erreicht. Sturmschäden zwingen uns, auf der Hauptstraße zu bleiben, bis sich hinter blühenden Wiesen die Häuser von Sappada drängen.
Staunend radeln wir durch diese Bilderbuchlandschaft und kommen den Felswänden der Karnischen Alpen immer näher. Dort, am Fuße des Monte Peralba (Hochweißstein), liegt in einem Hochtal voller Blumen das Rifugio Sorgenti del Piave. Es regnet die ganze Nacht, doch ein Silberstreif am Morgenhimmel macht Hoffnung. Ein rumpeliger Weg führt durch frisch geschlagenen Wald hinunter ins Tal. Konzentriert überwinden wir glitschige Wurzeln, verstreutes Kleinholz und tiefe Matschlöcher. Unten jaulen Motorsägen, schwere Holztransporter dröhnen vorbei. Endlich liegt die Strada delle Malghe, der Weg der Almen, vor uns. Mit Almrausch übersäte Berghänge leuchten in der Sonne, der durchnässte Steig entlang der steilen, vom Regen aufgeweichten Flanken ist anspruchsvoll. Dann eben wieder „Laufrad“.
Ein junger Almhirte aus Somalia kommt strahlend aus einem Stall. Er sei am Morgen ins Tal gefahren, um sein Handy aufzuladen – sein einziger Kontakt zur Außenwelt. „Good, good“, sagt er lachend. Und der Steig oben? „Not good, not good!“ Es beginnt zu tröpfeln und wir wählen den Notabstieg, der sich als ruppig-steiles Schlammband entpuppt. Ich bin müde und frustriert. Und kein Cappuccino in Sicht! Wäre meine Brille nicht außen nass und innen angelaufen, könnte ich sehen, wie schön die Landschaft um die Forcella Zovo ist. So konzentriere ich mich aufs Treten und wir kommen schließlich dank Asphalt relativ locker auf die Passhöhe. Plötzlich zeichnet sich die Silhouette der Dolomiten mystisch im Nebel ab.
Der Regen lässt nach und wir machen einen Abstecher zum Monte Zovo, bevor wir zur Hütte fahren. Was für ein Ausblick, was für ein Ort! Die Wirtsleute des Rifugio de Dòo leben in dem modernen Holzhaus mit Hüttencharakter ihren Traum – und bieten das, was das Leben in solchen Momenten so schön macht: Dusche, Cappuccino, köstliches Essen und einen atemberaubenden Blick auf die Dolomiten. Vom Bett aus beobachten wir, wie ein Gipfel nach dem anderen von der Morgensonne beleuchtet wird. Dem Passo Silvella steht nichts mehr im Wege. Nach eineinhalb Stunden beginnt bei der Silvella-Alm der Weg über den Pass. Noch achthundert Höhenmeter! Kurz verschnaufen, dann konzentriert einen Weg zwischen Steinen und Gras durch diese Traumlandschaft suchen.
Schließlich schieben wir die Bikes über Schotter und Fels zum höchsten Punkt unserer Tour und werden mit purem Gipfelglück belohnt. Weit unter uns liegt der Kreuzbergpass, rechts die Karnischen Berge und links die Dolomitengipfel um Sexten – und unser Ziel, das Rifugio Rinfreddo. Der Regen sitzt uns auch am vorletzten Tag im Nacken. Auf der Alpe di Nemes mampfen Kühe und Pferde zufrieden das Gras weitläufiger Bergwiesen. Bei Vierschach verlassen wir die Südtiroler Bergidylle und gleiten auf dem Drauradweg mit vielen anderen über die Grenze ins österreichische Osttirol. In Lienz entdecken wir unser Hotel weit abseits. Das Restaurant sei geschlossen, aber oben, am Tristacher See, gebe es alles, verspricht der Wirt. Müde wandern wir hinauf zum See und schwimmen eine Runde im milden Wasser.
Fürs noble Vier-Sterne-Restaurant taugt unser Radloutfit nicht, dafür haben sie im Strandbadkiosk Erbarmen: Die knusprigen Wienerschnitzel essen wir mit Genuss im regensicheren Abstellraum. Als dann ein Regenbogen erstrahlt, ist unser Glück wieder perfekt. Am nächsten Tag die letzte Etappe: Wir kämpfen uns über den Iselsberg und rollen auf dem geliebten Radweg entlang der Möll Richtung Obervellach. Noch einmal geht es bergauf. In Mallnitz spuckt der Zug wieder dutzende Alpe- Adria-Radler*innen aus. Nach Norden müssen nur wir. Schon morgen werde ich also wieder an meinem Fenster sitzen. Und mich daran erinnern, wie glücklich es macht, nur das Nötigste zu packen und einfach aufzubrechen.