Anke Hinrichs: No Limits!
In einschlägigen Kreisen muss man Anke nicht vorstellen. Die sympathische Oldenburgerin, die seit Geburt eine Cerebralparese (Störungen des Nervensystems und der Muskulatur) hat und erst mit vier Jahren laufen lernte, ist eine wichtige Vorreiterin in Sachen Inklusion beim Deutschen Alpenverein. Vor etwa zwanzig Jahren initiierte sie das wegweisende JDAV-Projekt „No Limits“, bei dem behinderte und nichtbehinderte Jugendliche in einem so genannten Tandemmodell tolle Bergfreizeiten gemeinsam erleben – vom Hüttentrekking bis zum Klettern. Zudem hat Anke die erste inklusive DAV-Transalp und die erste inklusive Hüttentour der Sektion München mit auf den Weg gebracht und war Mitglied der Arbeitsgruppe „Positionspapier zur Inklusion“, das der DAV und die JDAV 2014 verabschiedet haben.
Ankes Liebe zu den Bergen begann bei Urlauben im Allgäu, wo sie ihre ersten zweihundert Meter Wegstrecke zur Bäckerei lief. „Die Berge hatten auf mich eine hohe Anziehungskraft. Zu Hause hatte ich neben Schule und Therapie kaum Freiräume, aber im Allgäu hatte ich sehr genaue Vorstellungen von dem, was ich erreichen wollte. Meine Mutter hat mich dabei extrem unterstützt, sie hat mir sehr viel ermöglicht, was andere Eltern nicht mitgemacht hätten. An schwierigen Stellen musste sie mich halten, da ich oft gestolpert bin und sonst gefallen wäre. Sie hatte auch die Idee, mit mir als Sechsjährige in die Schweiz zu fahren. Dort gab es Spezialskikurse für Kinder mit Cerebralparese.“
Das Skifahren wurde über die Jahre zu Ankes Königsdisziplin: „Für mich ist eine Woche Skifahren tausend Mal besser als eine neurologische Reha. Ich stehe nach einem Tag auf der Piste sicherer auf meinen Füßen, kann mich besser bewegen, deutlicher sprechen. Die Vibration, die beim Fahren erzeugt wird, senkt meinen zu hohen Muskeltonus, die Beckenrotation und das Spiel mit dem Gleichgewicht ersetzt jede noch so gute Krankengymnastik. Ich fühle mich auf der Piste nicht als ‚behinderter Mensch‘, ich habe da Urlaub von der Behinderung. Es ist für mich ein Gefühl von Freiheit.“
Bei den meisten anderen Bergsportarten benötigt Anke Unterstützung und daher Begleitung, die sie oft nicht findet. In der Schweiz unternahm sie Hüttentrekkings, bei denen Strafgefangene die Teilnehmenden mit Rollstuhl von Hütte zu Hütte getragen und auch Anke unterstützt haben. „Das war für mich eine sehr lehrreiche Erfahrung. Die alpinen Touren, an denen ich beim DAV teilgenommen habe, habe ich selbst initiiert und mit organisiert. Es waren Touren, bei denen ich von Anfang an Unterstützer*innen mit eingeplant habe. Beim Klettern ist es ähnlich. Ich habe fünf Mal an normalen AV-Ausfahrten teilgenommen. Das ging, weil alle Rücksicht nahmen, die Kursleiter sehr engagiert waren und ich auch mal verzichtet habe.“
Als ein Film über das Schweizer Hüttentrekking beim Tegernseer Bergfilmfestival gezeigt wurde, reichte die Bandbreite der Kommentare laut Anke von „Sind die völlig verrückt? Wie kann man solche Menschen diesen Gefahren aussetzen!“ über „Müssen die wirklich ins Hochgebirge?“ bis zu „Respekt, was die da geleistet haben“. Auf Skipisten wird Anke oft für betrunken gehalten und gefragt, wo denn ihre Begleitung sei. In solchen Fällen antwortet Anke: „Meine Assistenzhunde sitzen unten in der Ferienwohnung, die dürfen nicht mit auf die Piste!“ Ankes Mutter wurde früher sogar beschimpft, als sie mit ihr im Gebirge unterwegs war. Anke ist sich sicher: „Ich erlebe selten eine normale Reaktion, wie sie für andere am Berg üblich ist.“ Auf die Frage nach den inklusiven „No-Limits“-Kursen für Menschen mit und ohne Behinderungen meint die Oldenburgerin: „Ich bin bei den Kursen nicht mehr dabei. Auch bei zwei anderen inklusiven Projekten, die ich für den DAV initiiert habe, haben nichtbehinderte Kolleg*innen übernommen. Im Positionspapier Inklusion werden Gleichberechtigung und Mitbestimmung gefordert. In der Praxis – Bundeslehrteam ‚Bergsport inklusiv‘, Inklusionsbeauftragte, Projekte – planen und entscheiden momentan nur Menschen ohne Beeinträchtigung.“
Kai Mosbacher: Heidelberger Gipfelsammler
„Ich bin schon auf über 5500 Gipfel gestiegen und plane für nächstes Jahr den sechstausendsten. Ich denke, dann mehr Berge als jedes andere DAV-Mitglied bestiegen zu haben. Dieser inoffizielle Rekord ist mir wichtiger, als dass ich als behindert gelte“, freut sich Kai Mosbacher gleich zu Beginn des Interviews in einem kleinen Café in der Weilheimer Innenstadt. Der gebürtige Heidelberger stand auf vierzig Viertausendern. „Dreißig davon habe ich allein gemacht.“ 16 Sechstausender stehen darüber hinaus in seinem Tourenbuch, und auf dem Tourenportal hikr.org findet man nicht weniger als 1040 ausführliche Tourenberichte. 2014 schaffte es Kai, nahezu alle in seinem Leben gemachten Hochgebirgs-Gipfeltouren aufzuschreiben. Für diese unglaubliche Akribie, wie auch für die Tatsache, dass er meistens allein auf seinen geliebten Gipfeln steht, gibt es einen Grund: Kai hat das Asperger-Syndrom, eine Kontakt- und Kommunikationsstörung, die zum autistischen Formenkreis zählt.
„Ich fühlte mich schon immer als Außenseiter, als Fremdkörper, fremd in der Welt. In der Schule wurde ich von einigen gehänselt. Ich bin sehr verletzlich. Ich las letztes Jahr mit sechzig endlich ‚Der Steppenwolf‘, der von sich sagt: ‚Ich bin einsam, heimatlos, ein Fremdkörper, fühle mich fremd in der Welt.‘ Ich war verblüfft und berührt, mich in diesem Alter Ego von Hermann Hesse wiederzuerkennen. Nachdem ich Hesses Lebenslauf gelesen hatte, dachte ich: Er hatte wie ich ADHS und das Asperger-Syndrom. Im ‚Ärzteblatt‘ fand ich einen Artikel, in dem ebenselbiges vermutet wird.“ Ein Schullandheim im Jahr 1979 in Südtirol brachte für Kai die entscheidende Wende in seinem Leben. Die Klasse stieg aufs 2194 Meter hohe Astjoch. „Im Juni lagen dort noch Schneefelder. Da hat mich die Bergleidenschaft einfach gepackt“, erzählt Kai in der für ihn anstrengenden Umgebung des von vielen Stimmen gefüllten Cafés. Für Menschen mit autistischen Beeinträchtigungen sind Geräusche unserer Zivilisation Stressoren.
Obwohl Kai Abitur gemacht hat, schafft er es nicht, einer qualifizierten Arbeit nachzukommen. „Mein Problem war es immer, an einer Sache dranzubleiben. Nur in den Bergen, da bleibe ich immer dran. Wenn ich am Gipfel stehe, denke ich: endlich geschafft. Für mich ist das Bergsteigen schon auch anstrengend.“ Was sich etwas verwunderlich anhört, wenn man bedenkt, dass er nach der Besteigung der Dent Blanche im Wallis resümierte: „Was soll daran denn so schwer sein?“ Bis zur Schwierigkeit T6 (der höchsten Stufe der SAC-Wanderskala) ist Kai nach eigenen Angaben sehr sicher unterwegs – und nimmt in Kauf, dass er bei seinen Alleingängen ein deutlich höheres Risiko als in einer Gruppenunternehmung eingeht. Mit Seilsicherung hat er nicht so viel am Hut. Was nicht nur daran liegt, dass ihn die damit verbundene Technik ziemlich stresst: „Ich gehe am liebsten ohne Seil, da ich mich anderen Menschen schwer anpassen kann. Und ein Seil ist ja eine Verbindung.“
Neben den Bergen haben Kai auch so spezielle Fächer wie Astronomie, Quantenphysik oder Philosophie in ihren Bann gezogen. Für Rockmusik kann sich Kai außerdem begeistern: „Die Berge haben eine wilde Schönheit. Und die Rockmusik hat auch eine wilde Schönheit. Außerdem bedeutet ‚rock‘ ja Fels.“
Aufgrund permanenten Geldmangels übernachtet Kai meistens im Zelt oder in Winterräumen: „Eine meiner ungewöhnlichsten Unternehmungen fand im Sommer 2019 statt. Am 18. Juni bestieg ich solo sechs Gipfel des Monte Rosa und übernachtete allein im Winterraum der Capanna Margherita. Viele haben in dieser Höhe Probleme zu schlafen. Ich schlief wie ein Murmeltier und wachte erst gegen sechs Uhr auf, womit ich den Sonnenaufgang verpasste. Ziemlich spät startete ich zum Liskamm. Er soll ZS (‚ziemlich schwierig‘ nach SAC-Skala) sein, aber ich hatte beste Bedingungen und fand die Tour nicht schwierig, WS+ (wenig schwierig) allenfalls. Im Anschluss hielt ich mich bis Mitte Oktober im Aostatal auf und stieg auf 142 Dreitausender und den Viertausender Gran Paradiso.“
Um nicht mehr ganz so oft allein unterwegs zu sein, würde Kai gern Menschen für gemeinsame Touren kennenlernen. „Menschen mit Herz, die mich nicht dauernd kritisieren und die viel Zeit haben.“ Dabei gibt Kai unumwunden zu: „Ich bin wohl ein schwieriger Mensch.“ Und sagt am Ende des Interviews: „Ich würde mir wünschen, dass aufgeschlossene Leute auf mich zukommen, die nicht denken: Was ist das denn für einer?“