Der herbstklare Oktobermorgen weckt die Lust auf einen Bergausflug – genügend Gipfel stehen ja um das Dorf. Doch Nino Unida winkt ab; wir leeren die Espressotassen, treten aus der Bar am Hauptplatz, gehen ein Stück den kräftig strömenden Chiarsò-Fluss entlang – und beginnen das Programm in Sachen Kultur und Handwerkstradition. „Paularo hat hier wirklich viel zu bieten“, verspricht unser Guide.
Kulturelle Schätze
Wenig später bewundern wir die prächtigen Karnevalskostüme der „Maschere di Ravinis“, die schon mehrfach am Karneval in Venedig teilgenommen und Preise gewonnen haben. Es folgt der Besuch eines weiteren Museumteils des Ökomuseums „I Mistîrs“ (friulanisch für Handwerk), in dem die „Mans d‘Aur di Paulâr“ (die goldenen Hände Paularos) die Tradition feiner Ricamo-Stickereiarbeiten bewahren und fortführen. Die Ausstellung der „Menàus“, der Holzarbeiter, veranschaulicht die Bedeutung der lokalen Forstwirtschaft, die mit dem Aufstieg der Republik Venedig ab dem 13. Jahrhundert begann und Paularo über Jahrhunderte Wohlstand brachte.
Eine große Überraschung bietet die „Mozartina“, eine erlesene Sammlung historischer Tasteninstrumente – Orgeln, Virginale, Spinette, Cembali, Clavichorde, Fortepianos und Klaviere –, die der aus Paularo stammende und 2018 verstorbene Musikwissenschaftler und Komponist Giovanni Canciani sammelte, restaurierte und in einem stattlichen Bürgerhaus unterbrachte. Spätestens nach dem Rundgang durch den eleganten Palazzo Calice-Screm aus dem Jahr 1591, der ehemaligen Residenz der „Stadthalter“ Venedigs, sind wir restlos beeindruckt und pflichten Nino bei: Paularo bietet jede Menge Sehenswertes, neben außergewöhnlichen Zeugnissen einer reichhaltigen Geschichte viele gewachsene Traditionen, deren Pflege sich viele engagierte Menschen verschrieben haben, weil sie stolz darauf sind.
Dass Paularo seit Sommer 2022 zum Kreis der Bergsteigerdörfer gehört, verwundert nicht. Denn diese touristische Initiative der Alpenvereine passt sehr gut zum Ziel, mitten in Karnien einen sanften Tourismus zu entwickeln. Nino, in der Gemeinde für Bergsteigerdorf-Belange zuständig, unterstreicht das, und auch Dina, Alessandro, Onorio, Raul und Renzo, die im Bergsteigerdorf-Komitee mitarbeiten und zu uns gestoßen sind, sehen es so.
Vom sonnigen Garten vor den Rundbögen des Palazzo blicken wir auf die Bergwelt rings um Paularo. Das liegt keine 20 Kilometer Luftlinie nordöstlich von Tolmezzo, und seine Bevölkerung, knapp über 2000 Menschen, verteilt sich auf über zehn Ortsteile im Talschluss des Val d‘Incarojo. Über dessen nachhaltig bewirtschafteten Mischwaldgürtel erstrecken sich weite Almwiesen, darüber ragen eindrucksvolle Felsgipfel auf. Im Süden fällt besonders der bergsteigerisch anspruchsvolle Monte Sernio ins Auge, während nordöstlich der Monte Zermula in den Himmel ragt. Wie es wohl hinter dessen breiter Kalkmauer aussieht?
Zum "Lanzenpass"
Um das zu erfahren, folgen wir einige Kilometer der schmalen, kurvigen Straße durch dichten Bergwald Richtung Passo del Cason di Lanza/Lanzenpass. Von der Casera Ramaz führt eine grobe Almstraße weiter hinauf, dann wandern wir unterhalb des grasbewachsenen Monte Lodin zum Rifugio Pietro Fabiani. Dort wartet unser Mittagessen mit bodenständiger lokaler Küche, das Ninos Frau zubereitet hat. Beide betreiben seit einigen Jahren auch die kleine, gepflegte Berghütte mit 20 Schlafplätzen. Die Region Friaul-Julisch Venetien hat die ehemalige Alm mitsamt umliegendem Gelände erworben, umgebaut und verpachtet. Unterhalb des Karnischen Höhenwegs gelegen, ist der Stützpunkt für Bergtouren zwischen dem Karnischen Kamm und dem Zermula-Massiv gut geeignet. Von hier geht es Richtung Cuestalta/Hoher Trieb-Kleiner Trieb, wo leichtes Klettersteiggelände lockt, und jenseits nach Kötschach-Mauthen hinab, ebenfalls ein Bergsteigerdorf, mit dem Paularo in freundschaftlichem Austausch steht. Oder man folgt mehr oder weniger dem Kammverlauf nach Osten bis zum Passo del Cason di Lanza.
Vom Lanzenpass wandern wir am nächsten Morgen durch das herbstliche Val Dolce aufwärts und freuen uns über idyllisch anmutende Latschenkiefer- und Rhododendronflecken, Torfmoorflächen und Wollgrasfelder zwischen den weitläufigen Hochalmwiesen. An der Sella di Val Dolce angelangt, dem Rattendorfer Sattel, reicht der Blick nach Norden übers Gailtal auf die Kärntner Berge. Im Südwesten aber beherrscht die breite Nordwand des Monte Zermula den Horizont. Neben dem Normalweg führt auch ein nicht zu langer und anspruchsvoller Klettersteig auf den Gipfel. Doch dafür braucht es einen weiteren Ausflug nach Paularo, dem jungen Bergsteigerdorf mit seinen außergewöhnlichen Schätzen.