Das schönste ist, wenn ich morgens aus dem Fenster schau“, schwärmt Sepp Thaler. „Im ersten Licht siehst du noch nicht so weit, nur die Zacken der Berge sind zu erkennen, doch dann wird alles dreidimensional und es wirkt, als würden die Berge scheinbar auseinander wandern – und die Welt wird groß“. Er wie seine Frau Theresa, die für die gute Küche der Stanglalm unter dem Kitzbüheler Horn verantwortlich ist, genießen die Panoramalage hoch über dem Tal und die einmaligen Stimmungen. „Wenn dann der Kaiser rot leuchtet, dann kann man den Rosengarten in Südtirol vergessen“, erzählt er begeistert. Der stets gut gelaunte Almwirt, dem immer ein lustiger Spruch über die Lippen kommt, liebt seine Heimat und die Kitzbüheler Alpen. „Wenn mich einer fragt, wohin er in Urlaub fahren soll, dann sag ich ihm, bleib bei uns – wenn Millionen herkommen, dann werden wir doch nicht wegfahren“.
Mit den Millionen übertreibt Sepp Thaler natürlich, doch Gäste gibt es genug. Vor allem in Kitzbühel, vor allem im Winter. Im Sommer sieht die Sache schon ganz anders aus. Denn die Kitzbüheler Alpen sind mit Ausnahme des Bereichs um die geöffneten Bergbahnen überraschend einsam, wie eine Mehrtagestour auf dem KAT Walk eindrucksvoll beweist. Der Kitzbüheler Alpen Trail (KAT) in der Variante Alpin führt in sechs Tagen von Hopfgarten im Brixental über Kitzbühel und St. Johann bis nach St. Ulrich am Pillersee. „Der KAT Walk soll alle Regionen der Kitzbüheler Alpen miteinander verbinden“, erklärt Christina Jöchtl, die für den Tourismusverband Kitzbüheler Alpen die Tour betreut. „Die Leute sollen die Möglichkeit haben, die gesamte Region wandernd zu erkunden – und das mit so wenig Aufwand wie nötig und so komfortabel wie möglich. Daher haben wir die Tour von Anfang an mit Gepäcktransport und mit Übernachtungen in Hotels und Gasthöfen geplant.“
Die erste Etappe ist dabei eher gemütlich und geradezu perfekt zum Einlaufen. Über sanfte Wiesenterrassen mit stattlichen, fotogenen höfen und begleitet von lautem Vogelgezwitscher geht es hinein in die Kelchsau und zum Fuchswirt. Das urgemütliche Gasthaus inmitten eines Ensembles besonders schöner Holzhäuser ist eine Oase der Ruhe. Am besten sitzt man im Garten unter dem großen, schattenspendenden Baum und geht dort zum gemütlichen Teil des Tages über. „Für mich ist das immer so, als wäre die Zeit stehen geblieben“, schwärmt Christina Jöchtl von der Kelchsau, einem kleinen Dorf in einem Seitental abseits des Durchgangsverkehrs.
„Hier ist es so ruhig, als ob man in einer anderen Zeit angekommen wäre“. Auf der zweiten Etappe über den Lodron zum Steinberghaus in der Windau taucht man endgültig ein in die Stille der Kitzbüheler Alpen. Dichte Wälder, malerische Almen, aussichtsreiche Bergrücken und ein leuchtendes Meer aus Almrosen inmitten saftig grüner Wiesen kennzeichnen diesen Wegabschnitt. Im Winter ein Skitourenklassiker, ist der Lodron im Sommer ein einsamer Wanderberg, auf den sich höchstens KAT-Walker*innen verirren – und dabei viele traumhafte Plätze entdecken. Beim Abstieg trifft man auf der Unteren Lärchenbergalm vielleicht Sepp Kahn, der mit seinem leuchtend weißen Bart den Idealtypus eines Senners verkörpert und sich gerne Zeit nimmt für einen kurzen Schwatz. Zumindest nachmittags, denn vormittags muss er die frische Milch verarbeiten. „Beim Käsen kann man die Gedanken schweifen lassen, da fällt mir viel ein“, erzählt er und zeigt stolz auf seine Bücher. Mittlerweile sind mehrere Titel erschienen; vom Krimi über Gedichte bis zu witzig-ironischen Kurzgeschichten, alle inspiriert von seinem Leben auf der Alm.
Einsam ist auch die dritte Etappe des KAT Walks über die Hinterkarscharte, bei der ein kurzer Abstecher auf den mit einem Kreuz geschmückten Gipfel des Gassnerkogels führt. Neben grandiosen Ausblicken auf das markante Felsriff des Großen Rettensteins, der in den eher sanften Kitzbüheler Alpen unweigerlich auffällt, gibt es hier die letzten Altschneereste, die sich unter der Hinterkarscharte bis in den Frühsommer halten. Ein kleines Hochmoor mit wunderschönem Wollgras ziert den Abstieg auf dem Weg zur Labalm. „Sie wurde 1955 von meinem Urgroßvater in eine Jausenstation umgewandelt“, erzählt Christiane Klingsbigl. „Vorher war das eine reine Almwirtschaft, heute sind wir eher ein Alpengasthaus“. Und die erste Einkehrmöglichkeit auf der Strecke vom Steinberghaus nach Aschau. Wobei einige gleich hierbleiben, zumindest wenn sie die Labalm mit ihren acht Zimmern als Etappenziel gewählt haben. „Bei uns ist es wie bei Heidi“, meint Christiane, „wir haben eher einfache Hüttenzimmer mit Etagendusche, ohne Fernseher und Internet, und meistens auch keinen Empfang, bei uns gibt es Natur pur – so wie es sich für eine Alm gehört“. Hüttentypisch ist auch das Essen. „Bei uns gibt’s Knödelteller, Kasspatzn, Schlutzkrapfn oder einen Schweinsbraten“, erzählt die junge Wirtin, „die Gäste mögen das, ist halt ein Unterschied zu den Halbpensionstagen in den Hotels im Tal“.
Wer auf der Labalm übernachtet, hat mit dem Liegestuhl beim Fischteich schnell einen Lieblingsplatz gefunden – und startet den nächsten Tag mit einem Abstieg. Gut 45 Minuten sind es hinaus nach Aschau, vorbei am Kasplatzl, einer für ihren Käse bekannten Alm, und einer Hängebrücke, die einen spektakulären Blick auf einen Wasserfall ermöglicht. Die aussichtsreiche Etappe über den Pengelstein ist ein Kontrastprogramm und führt vom einsamen unberührten Teil der Kitzbüheler Alpen hinein in ein weltbekanntes Skigebiet. Das Aushängeschild ist die legendäre Streif, die zu den schwierigsten Abfahrten der Welt zählt und auf der seit dem Jahr 1937 die Hahnenkammrennen ausgetragen werden. Wie steil die Strecke wirklich ist, zeigt sich beim Abstieg nach Kitzbühel. Schautafeln erklären wichtige Streckenabschnitte wie Hausbergkate oder Mausefalle. Alternativ kann man auch die Gondelbahn für ein schnelles und kraftsparendes Bergab wählen, um im Anschluss mehr Zeit für einen Bummel durch die ehemalige Bergbaustadt zu haben.
Das von einem Sendemast gekrönte Kitzbüheler Horn ist einer der Höhepunkte des KAT Walks und begeistert neben dem einmaligen 360-Grad- Rundblick mit einem einzigartigen Alpenblumengarten. Zusammen mit ihrem Kollegen kümmert sich Jule Maier dort Tag für Tag um die rund 400 seltenen Gewächse. „Du findest hier Pflanzen aus den Pyrenäen, aus dem Kaukasus, aus der Mongolei oder aus Tibet“, erzählt sie, während sie das Himalayabeet vom Gras befreit. „Das sind schon Schätze, die du sonst nur siehst, wenn du dorthin reist“. Längst kennt sie die Namen der meisten Blumen, doch im Grunde haben die keine Bedeutung. „Der Eindruck der Pflanze an sich und wie sie auf dich wirkt, das ist viel wichtiger“, meint sie, „die Schönheit, die Energie zählt“. Eine Lieblingsblume hat Jule nicht, doch auf Nachfrage ergänzt sie: „Für mich steht das Edelweiß für eine Lebenskünstlerin, die unter härtesten Bedingungen das Beste draus macht“.
Der spektakulär angelegte Ludwig-Scheiber- Steig ermöglicht im Anschluss den Wechsel auf die Nordseite des Kitzbüheler Horns und damit zur Stanglalm. Die ist bekannt für ihre Strudel – und für das Almererschnitzel. „Das ist aus der Not geboren“, erzählt Sepp Thaler, „wir hatten keinen Schinken mehr für das Cordon Bleu und dann hat meine Frau einfach selbstgemachten Speck und Kräuterkäse verwendet – das kam bei den Leuten sehr gut an“. Die KAT-Walker*innen sind auf der Stanglalm willkommen, nicht nur weil sie hungrig und durstig sind. „Die sind alle gut aufgelegt“, weiß Sepp, „die haben schon eine Leistung erbracht und sind zufrieden, mit denen kann man über Gott und die Welt reden“. Etwa über den einmaligen Sonnenuntergang. „Doch da ist der Tag vorbei“, meint er, „während in der Früh die Vögel zwitschern und die Kuhglocken bimmeln, da geht’s los, da habe ich noch den ganzen Tag vor mir“. Ähnlich fühlen sich die KAT-Walker*innen. Noch einmal voller Tatendrang aufstehen, dann startet in St. Johann mit der Überquerung des einsamen Plateaus der Kalksteinalm zum Pillersee das Finale – für viele die schönste Etappe des KAT Walks.