Die Schlucht, durch die sich der Fluss Navisence schlängelt, ist über hundert Meter tief. An der Kante stehen fünf Menschen, zwischen ihnen Taschen voll mit Slacklines, Schäkeln und anderem Befestigungsmaterial. Ihr Ziel: Eine Highline von der Felswand bis zur Mitte der nahegelegenen Hängebrücke zu spannen, dem Wahrzeichen der Siedlung Niouc. Samuel, einer aus der Gruppe, befestigt zusammen mit Salomé ein Ende der Slackline an der Stahlkonstruktion der Brücke. Währenddessen seilt sich Angelika an der Kante knapp zwei Meter ab, um am Bohrhaken im Felsen einen Ankerpunkt zu setzen. Um die Lines aufbauen zu können, hat die Gruppe zuvor bei Bungy Niouc, den Betreibern der Brücke, um Erlaubnis gefragt.
Was ist highlinen?
Highlinen lässt sich kurz als Balancieren über ein Band in großer Höhe beschreiben und gehört zum Slacklinen. Zum Highlinen wird das Slackline-Band über einen Abgrund gespannt. Je nach Ort dienen Bäume, Felsnasen oder Bohrhaken als Ankerpunkte. Als zusätzliche Absicherung wird direkt unter die sogenannte Main-Line eine Backup-Line gespannt. Auf diese zwei Bänder wird ein Ring gefädelt, woran sich die Sportler*innen mit einem Seil sichern. Das andere Seilende befestigen sie an ihrem Klettergurt. Kommt es zu einem Sturz, hängen sie daran etwa zwei Meter unter der Highline.
Wie beginne ich mit dem Highlinen?
Wer selbst Highlinen möchte, startet am besten mit einer Slackline im Park und spannt sie zwischen zwei stabilen Bäumen. Wichtig ist dabei ein Baumschutz, um die Rinde nicht zu verletzen. In manchen DAV-Sektionen wird Slacklinen angeboten.
Nachdem alle Elemente straffgezogen und überprüft wurden, ist es Zeit für den ersten Lauf. Die etwa dreißig Meter lange Highline hängt sehr exponiert etwa zweihundert Meter über dem Boden. Beim Highlinen geht es nicht nur um das körperliche Können. Da ein Fehltritt zu einem Sturz ins Nichts führt, der erst nach etwa zwei Metern durch das Sicherungsseil gebremst wird, spielt die Überwindung der Angst eine große Rolle. Sam, der seit über fünfzehn Jahren über Highlines läuft und mehrere Weltrekorde aufgestellt hat, wagt sich als Erster über den Abgrund.
Die Slackline ist nicht sonderlich stark gespannt, deshalb steht er in der Mitte mehrere Meter unter der Höhe der Ankerpunkte. „Rodeoline“ nennt man solche durchhängenden Lines. Sam lässt sich davon aber nicht abhalten, ein paar Tricks auszuprobieren. Er wirbelt mehrmals um das Band herum und landet danach wieder im Ausfallschritt oben auf dem Band. Doch dann strauchelt er, rudert mit den Armen und stürzt kopfüber nach unten. Nach einem kurzen freien Fall wird sein Sturz gestoppt, das Sicherungsseil spannt sich und er federt wieder nach oben. Diesen Schwung nutzt er und zieht sich mit beiden Armen auf die Highline. Dort läuft er federnd weiter, als wäre nichts gewesen.
Als nächstes ist Salomé an der Reihe, die ebenfalls eine geübte Highlinerin ist und bereits bei mehreren Wettbewerben auf dem Podest stand. Aber diese Highline setzt ihr zu. „Normalerweise zittere ich nicht so“, sagt sie, nachdem sie sich von der Brücke auf die Highline geschoben hat. Sie sitzt einige Momente konzentriert auf dem Band. Schließlich steht sie auf und setzt einen Fuß vor den anderen. Die Unsicherheit ist ihr nicht mehr anzumerken. Später erklärt sie: „Die Exponiertheit ist nicht das Schwierige an dieser Line. Es ist ihre Lockerheit.“ Dadurch, dass sie so wenig gespannt ist, spürt Salomé keinen Halt. „Normalerweise habe ich totales Vertrauen in das Material, weil ich die Spannung spüre. Auf dieser Line spüre ich nichts“, erklärt sie. Aber genau diese Überwindung ihrer Unsicherheit ist das, was das Highlinen für sie ausmacht. Sie liebt den Nervenkitzel.
Empfehlungen von Sam und Salomé
Salomé empfiehlt die Lines am Sustenpass, der den Kanton Uri mit dem Kanton Bern verbindet. “Die sind sehr hoch, super schön und perfekt zum Freestylen", sagt die 25-Jährige. Sam erinnert sich gerne an die Exposure 67 in den Kreuzbergen im Schweizer Kanton St. Gallen. “Die ist extrem ausgesetzt, da geht es 1500 Meter runter”, erzählt er. Zweimal war er bereits dort und selbst er verspürte jedes Mal Angst. Überquert hat er sie trotzdem. Dass er es nochmal wagt, ist allerdings fraglich. Der Zustieg ist beschwerlich: “Man läuft drei Stunden hin und muss dann nochmal zwei Seillängen klettern.” Und die Genehmigung dafür bekomme man nicht mehr so leicht wie früher. Aber es gibt noch viele weitere Highline-Möglichkeiten in den Alpen, die nur darauf warten, entdeckt zu werden.
Regeln beim Highlinen in der Schweiz
In der Schweiz müssen alle Highlines ab einer Höhe von 25 Metern bei der Luftfahrtbehörde registriert und ab 60 Metern Höhe bewilligt werden. Eine Übersicht über 19 Highline-Orte in der Schweiz gibt es auf der Webseite des Schweizer Slackline-Herstellers Slacktivity (slacktivity.ch/highline-spots/). Der Verein Swiss Highline bietet Mitgliedern Unterstützung bei der Registrierung und Bewilligung von Highlines und hält ebenfalls ein Highline-Topo bereit.