Auf zu neuen Zielen! DAV-Expeditionskader startet mit neuem Konzept und neuen Gesichtern
Das Erfolgsmodell geht weiter und wird optimiert: Bei einem Sichtungscamp im Allgäu haben sich 12 junge Alpinisten für das nächste Männerteam des DAV-Expedkaders qualifiziert. Ein Jahr lang werden sie gemeinsam lernen und trainieren, 2025 sollen sechs von ihnen zur Abschlussexpedition starten.
"Es war wettermäßig so ziemlich die schlechteste Woche im ganzen Winter – aber wir konnten das Beste draus machen und haben jetzt eine starke, motivierte Gruppe; ich bin happy und freue mich darauf, mit ihnen zu arbeiten." Ein positives Fazit zieht Christoph Gotschke nach dem Sichtungscamp für den DAV-Expedkader 2025, der mit ihm als Trainer in ein neues Konzept startet.
Junge Menschen, die mehr wollen als "nur" sauschwer klettern, fit zu machen für ambitionierten Alpinismus, das ist seit über 20 Jahren das Ziel des DAV-Expedkaders. Darunter war nie eine Art Nationalmannschaft der Allerbesten zu verstehen: Gemeinsame Verantwortung, Teamspirit und guter Umgang mit dem Risiko standen schon immer im Vordergrund. Denn "eine gute Zeit am Berg" bemisst sich nicht (nur) mit der Uhr.
Junge Alpinisten, die sich drei Jahre lang im Expedkader einbringen wollen, sollen nicht aus fälschlicherweise empfundenem Leistungsdruck hohe Risiken eingehen, um sich zu beweisen oder profilieren. Sondern in der Kaderzeit sollen sie mit professioneller Begleitung viel Tourenpraxis und Erfahrung in allen Bereichen des ambitionierten Alpinismus sammeln und eine gute Ausbildung inklusive fundiertem Risikomanagement bekommen. "Nachhaltige Aufbauarbeit für ein erfolgreiches und möglichst gesundes Athletenleben" nennt Gotschke als Ziel. Um dies konsequenter anzustreben, machten die Verantwortlichen im DAV sich Gedanken, berieten sich mit Bergführern, Trainern, Sportpsychologen – und entwickelten ein neues Konzept, das einen ganzen Fliegenschwarm mit einer Klappe zu schlagen verspricht:
- Bei der Sichtung geht es nicht wie bei den vorherigen Kadern für eine Woche nach Chamonix auf große Touren, wo Verhältnisse und Hochgebirgsatmosphäre Druck und Risiko bedeuten. Sondern ins Allgäu, wo die Teilnehmer auf überschaubaren Touren ihr Bestes geben können.
- Das Kaderteam wird zunächst zwölf Personen umfassen statt wie bisher sechs. So sind die Chancen besser, dabei zu sein, und ein schlechter Tag oder eine nachwirkende Erkältung oder Verletzung verhagelt nicht gleich die Drei-Jahres-Perspektive.
- Diese zwölf jungen Männer absolvieren im ersten Jahr mehrere Ausbildungs- und Trainingscamps gemeinsam; die Kompetenz von Deutschlands Top-Trainern und Bergführerinnen kommt also mehr Jung-Alpinisten zugute.
- Erst am Ende des ersten Jahres wird der eigentliche, sechsköpfige Expedkader festgelegt. Dabei fließen die Erfahrungen dieser gesamten Zeit zu Alpinpotenzial, Stressresilienz und Risikobewusstsein ein, und zudem die Bearbeitung von organisatorischen Aufgaben oder soziale Faktoren. Auch dies kann dazu beitragen, Druck durch zu viel Leistungsorientierung zu mindern.
- Für die anderen ist aber nach der Team-Aufteilung nicht Schluss: Als "Perspektivkader" können sie zu erweiterten Trainings eingeladen werden oder nachrücken, wenn ein Platz im Hauptteam frei wird – eventuell sogar für die Abschlussexpedition.
Dieses Konzept ist aufwändiger und komplexer. Aber Philipp Abels, im DAV zuständig für den Expedkader, steht voll dahinter: "In Wettkampfdisziplinen ist die Kaderzugehörigkeit extrem stark leistungsbedingt. Diesen Druck wollen wir beim Bergsteigen nicht haben." Denn "Abwarten und Umdrehen gehört auch dazu" beim Alpinismus.
Der Kader in der Jubi
So kamen Ende März 15 Jungs zwischen 19 und 25 Jahren in der DAV-Jugendbildungsstätte in Bad Hindelang (Jubi) zusammen; einige Krankheitsfälle hatten das Feld zuletzt etwas reduziert. Die meisten waren öffentlich angereist – ein weiterer Pluspunkt des DAV-eigenen Stützpunktes am Alpenrand: Von Freiburg bis Prien am Chiemsee, von Erlangen bis Innsbruck verteilte sich die Herkunft, so dass für alle die Zugfahrt nicht zu weit war. "Das passt zum Klimabewusstsein im DAV, dass auch der Leistungssport regional macht, was regional geht. Und es passt zu einer neuen Generation, die auf Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung achtet", sagt Christoph Gotschke, "manche hatten das Fahrrad dabei, einige hatten gar keinen Führerschein." Damit waren sie top untergebracht in der gut per Öffi erreichbaren Jubi. Auch deren rein vegetarische Küche passte dazu; für die anspruchsvollen Zeitpläne machte das Küchenteam sogar ein extrafrühes Frühstück möglich und alle Gäste fühlten sich herzlich willkommen.
Die "neue Generation" zeigt sich auch an der alpinen Sozialisation der Teilnehmer: Die meisten kamen aus dem Sport- und Hallenklettern, einige hatten auch Wettkampferfahrung bis hin zu Jugend-Europacups oder internationalen Berglauf- und Radrennen. Am Fels standen teilweise Yosemite-Highlights wie "Nose in a day" oder "Freerider" in den Tourenbüchern, im klassisch alpinen Gelände dagegen sahen auch die Teilnehmer selbst Steigerungspotenzial: "Meine Stärke ist schnell vorankommen in schwierigem alpinem Klettergelände, meine Schwäche sicheres Bewegen in leichtem Gelände", spitzt es etwa David Schneider aus Rosenheim zu. Und praktisch alle Aspiranten formulierten ihre Erwartung an eine mögliche Kaderzeit ähnlich wie Josef Vögele aus Garmisch-Partenkirchen: "Ich hoffe, dass ich mich alpinistisch gut weiterbilden kann auf ein hohes Niveau, so dass ich auch sicher unterwegs bin und es lange machen kann."
Die starke Prägung durchs Klettern sieht Christoph Gotschke "nicht negativ: Wer stark klettert, kann das auch schnell auf Eis und Mixed übertragen; ein hohes Kletterniveau zu erreichen fordert aufwändigeres Training." Eine Unterversorgung mit alpiner Erfahrung erklärt Gotschke auch mit den Corona-Einschränkungen: Junge Leute, womöglich ohne Führerschein, hatten es vor allem während der Lockdowns noch schwerer, hochalpine Tourenziele zu erreichen, und die tendenziell teuren Halbpensions-Hütten in der Schweiz und Frankreich strapazieren ein Schüler- oder Studentenbudget stärker als ein Sportklettertrip.
Um diese Lücken zu füllen, steht für den Kader ein ausgewähltes Trainerteam bereit: neben dem Trainer Gotschke waren beim Sichtungscamp der Bergführer und Alpinkletterer Jürgen Oblinger dabei; Sebi Brutscher aus dem Expedkader 2012 und dem Bergführerlehrteam; Jörn Heller aus dem DAV-Lehrteam Bergsteigen und regelmäßiger Expeditionspartner von Robert Jasper; und Michi Wärthl, Trainer des Expedkaders 2018. Bei künftigen Trainingscamps stehen zusätzlich zwei Frauen auf der Trainerliste, die während der Sichtung keine Zeit hatten: Dörte Pietron, Trainerin des Expedkader-Frauenteams, und Raphaela Haug aus dem Frauenteam 2019.
Die alpine Kunst des "Mach was draus!"
Trotz des mäßigen Winters waren im Allgäu noch zwei Wochen vor der Sichtung die Mixedrouten an Rubihorn und Aggenstein gut in Schuss, noch drei Wochen vorher standen die Wasserfälle – doch am letzten Märzwochenende fehlte das Wetterglück. "Es war das schlechteste Wochenende des Winters im ganzen Alpenraum, der Regen lief uns zum Ärmel rein und zur Hose wieder raus", erzählt Christoph Gotschke.
In der Improvisation zeigt sich alpine Meisterschaft – und das Trainerteam stellte ein Programm zusammen, das den vier Tagen zwar einen durchaus kompetitiven Touch bescherte, aber den Probanden auch Spaß machte und alpine Impulse mitgab.
Am ersten Tag ging es statt in den Klettergarten in die Kletterhalle Dietmannsried; drei Stunden lang hatten die Teilnehmer Zeit, Punkte zu sammeln: Je schwerer die Route und je besser der Stil (onsight – flash – rotpunkt), desto höher das Ranking. Dabei entstand trotzdem kein Konkurrenzstress, sondern die Jungs gaben sich gegenseitig Tipps zu gut oder schwierig zu flashenden Routen oder zu Schlüsselstellen – und sie waren als Seilschaft eigenverantwortlich mit ihren Laufzetteln unterwegs, ohne Kontrolle durch Schiedsrichter, so dass die Trainer Klettertechnik und Sicherungskompetenz beobachten konnten.
Eine Art Wettbewerb gab es auch am zweiten Tag: einen Berglauf von Rettenberg auf den Grünten mit knapp tausend Höhenmetern. Als nach unter einer Stunde die beiden ersten den Gipfel erreichten, verdunkelte ihn eine massive Gewitterzelle – kein guter Platz unter den Sendemasten. So musste der Lauf abgebrochen werden und die aktuelle Position der Teilnehmer bestimmte das Ranking.
An den letzten beiden Tagen gab's zumindest noch ein bisschen Alpinismus. Bohrhakengesicherte Allgäu-Klettereien, die im Sommer als "Plaisir" durchgehen würden: Das klingt nicht gerade expedkader-gemäß – doch bei wirklich miserablen Bedingungen, Neuschneebedeckung und Dauerregen und -schneefall wurde das grasdurchsetzte Gelände ordentlich anspruchsvoll, und die Jungs mussten und konnten zeigen, wie solide sie unterwegs sind, wenn die Bohrhaken sich unterm Schnee verstecken.
"Trotz widriger Umstände konnten wir unfallfrei eine gute Sichtung durchführen und eine faire Auswahl treffen", urteilt der Trainer Gotschke, "und ich freue mich, dass wir nicht sechs Personen rausfiltern mussten, sondern dass jetzt so viele eine echte Chance haben, weiterzukommen – denn es waren alles super Leute."
Das sind die neuen Gesichter
Florian Frank (DAV Bad Aibling)
Josef Vögele (DAV Garmisch-Partenkirchen)
Michael Ruthingsdorfer (DAV Eichstätt)
David Schneider (DAV Rosenheim)
Matthias Able (DAV Dingolfing)
Leon Schaake (DAV Freiburg)
Jonas Fertig (DAV Rosenheim)
David Voderholzer (DAV Prien am Chiemsee)
Hannes Tegethoff (DAV Reutlingen)
Luis Funk (DAV München-Oberland)
Emil Schäuffele (DAV Ludwigsburg)
Leo Luber (DAV Laufen)
Jetzt geht die Party richtig los
Vor diesen liegt nun ein spannender Sommer. Schon kurz nach der Sichtung gab es ein Treffen zur "Teambildung": In der endgültigen Gruppe wurden das Jahresprogramm besprochen, individuelle Trainingspläne erstellt und Aufgaben verteilt. So sollen die Jungs etwa die Ausrüstungs-, Logistik- oder Tourenplanung für die kommenden Trainingscamps selbst in die Hand nehmen, dabei einiges über systematische Organisation lernen und ihre Zuverlässigkeit und Strukturiertheit zeigen.
Das erste Camp im Mai steht im Zeichen des Tradkletterns; die selbst abzusichernden Risse der Pfalz sind dafür ideales Terrain – und erfordern keine weite Anfahrt. Zwingend etwas weiter fahren muss man, um das flotte und sichere Vorwärtskommen im komplexen alpinen Gelände zu üben: Chamonix oder das Wallis werden im Sommer die nächste Station sein. Und im September stehen die Dolomiten auf dem Plan, mit großen und anspruchsvollen Wänden. Themen wie Erste Hilfe und behelfsmäßige Bergrettung, die zum verantwortlichen Unterwegssein dazugehören, werden dabei oder mit zusätzlichen Treffen vermittelt werden.
Und dann steht irgendwann die Aufteilung in Expedkader und Perspektivkader an. Christoph Gotschke sieht darin kein Problem: "Für den Expedkader muss man sich voll reinhängen. Das passt nicht in jede Lebensplanung, und der ein oder andere wird das vielleicht für sich feststellen." Er freut sich jedenfalls, dass im ersten Jahr alle von den Trainings profitieren können und dass das System durchlässig bleiben wird. "Das Konzept ist zielführend, und ich hab Bock, das Team von Grund auf aufzubauen, zusammen mit den Trainerkollegen."
Frauenteam: auf der letzten Meile
Das Expedkader-Frauenteam wird in diesem Jahr seine Abschlussexpedition durchführen. Als Ziel wurde Grönland ins Auge gefasst, wie es auch das letzte Männerteam getan hat; die letzten Entscheidungen und Feinheiten zur Planung waren ein Thema des aktuellsten Trainingscamps.
Es fand zur gleichen Zeit wie das Sichtungscamp der Jungs statt, und eigentlich wollten die Mädels in Chamonix nochmal Eis und Mix in großen Wänden erleben. Doch leider war dort das Wetter genauso instabil – und auch sie bewiesen sich in der alpinen Kunst der Improvisation. Die Wände des Verdon nutzten sie, um nochmal Bigwalltechniken zu perfektionieren, Seilmanagement und Haulen zu trainieren und mit dem Portaledge in der Wand zu biwakieren. Auch im Grand Canyon Südfrankreichs schlug das Wetter Kapriolen: Mal fror am Campingplatz nachts das Wasser ein, bei Windstille dagegen wurde es in den Felsen sommerlich heiß. Nun, auch bei einer Expedition muss man mit der Witterung umgehen… Dennoch gelangen einige anspruchsvolle Freikletterklassiker wie La fête des nerfs (280 m, 7a), Les rideaux de Gwendal (250 m, 7b), Via Mathis (360 m, 7c) oder der überbreite Riss "L'Estamporanée (200 m, 6c) – die Übernachtung im mitgeschleppten Portaledge gab den Unternehmungen einen speziellen Touch.
Der Chamonix-Plan ist noch nicht aufgegeben: Die Kaderfrauen hoffen, ihr nächstes Trainingscamp im Juni dort realisieren zu können und dann noch brauchbare Eisverhältnisse anzutreffen; die Schneefälle im April lassen Optimismus zu.
Alpine Nachwuchsarbeit: international im Aufwind
"Bergsteigen ist das coolste was man machen kann", sagte David Voderholzer (Prien am Chiemsee) beim Sichtungscamp. Da hat er wohl recht. Aber auch Luis Funk (München) kann man verstehen, wenn er sagt: "Am meisten Spaß hab ich, wenn ich mich pushen muss und am Limit bin." Die Berge sind ein großartiger Erlebnisraum und wie wenig anderes geeignet, in demütig-realistischer Selbsteinschätzung die persönlichen Talente zu vervollkommnen und am Rand der Gefahr die Intensität des Lebens zu spüren.
Den Spirit dieses ambitionierten Alpinismus zu fördern und dabei einen verantwortlichen Umgang mit den Risiken zu propagieren, ist die Aufgabe des DAV-Expedkader-Programms. Ähnliche Konzepte gibt es in vielen anderen alpinen Vereinen, und es werden mehr. In Frankreich, Spanien, Österreich, Schweiz, Slowenien, Großbritannien gibt es "Junge Alpinisten Teams" oder wie immer sie heißen, nun hat gerade der italienische CAI 15 junge Männer und Frauen in sein neugegründetes "CAI Eagle Team" berufen. Auch sie werden in den nächsten zwei Jahren Ausbildungs- und Trainingscamps besuchen, sechs von ihnen sollen dann mit dem Cheftrainer Matteo della Bordella nach Patagonien fahren. Gute Ideen setzen sich eben durch.