Bahnreisen vor 100 Jahren. Eine zeitgenössische Karikatur
Wer mit der Bahn in die Berge fährt, muss sich auf manche unliebsame Überraschung einstellen. Aber schon vor 100 Jahren gab es überfüllte Züge und Chaos am Bahnsteig - zudem war auch damals die richtige Ausrüstung entscheidend.
War früher alles besser? Bergtouristen drängen sich in einen bereits vollbesetzten Zug. Fahrräder können nicht mehr mitgenommen werden. Am Bahnsteig bricht Panik aus. Bereits bei der Abfahrt kommt die Ausrüstung zum Einsatz. Zur Sicherheit seilt man sich an. Familie Meyer aus dem Berlin des frühen 20. Jahrhunderts hätte bei einer Zeitreise in unsere Gegenwart wohl nur geringe Anpassungsschwierigkeiten. Wer momentan mit dem Zug in die Berge fahren möchte, muss sich auf manche unliebsame Überraschung einstellen.
Verspätungen, Zugausfälle, Signal- und Weichenstörungen, Störungen im Betriebsablauf, fehlende Wagons und streikende Klimaanlagen im Sommer (Fenster lassen sich schon lange nicht mehr öffnen) sind alltägliche Risiken im Regionalverkehr. Im Sommer 2022 ist jedoch durch die Einführung des Neun-Eurotickets die Nachfrage nach Bahnreisen in die Berge sprunghaft gestiegen. Die Züge sind heillos überfüllt – mancher Zug muss sogar in Stoßzeiten evakuiert werden. Reisende befürchten, dass sie am Bahnsteig zurückgelassen werden könnten, und die Mitnahme von Fahrrädern gleicht einem Glücksspiel. Kaum zu glauben, dass die circa hundert Jahre alte Karikatur von Johann Bahr (1859-1929) wieder aktuell ist.
Touristische Erschließung der Ostalpen dank Eisenbahn
Der Ausbau des Eisenbahnnetzes ab der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Voraussetzung für die touristische Erschließung der Ostalpen und ist auch indirekt für die Gründung des Deutschen Alpenvereins 1869 mitverantwortlich. Mit der Einführung des Achtstundentages und des Anspruches auf Urlaub für viele Arbeitnehmer nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Zug für breite Bevölkerungsschichten attraktiv. Schon damals kam es erst in den Sommermonaten, später auch in der Wintersaison, zu Engpässen. Um 1930 kostete der Bahnkilometer in der Dritten Klasse um die vier Pfennige (heute ca. 14 Cent). Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war die Eisenbahn das gebräuchlichste Verkehrsmittel für eine Reise in die Alpen. Die Sektionen des Alpenvereins und der Fahrtendienst des DAV (aus dem später der DAV Summit Club entstand) organisierten bis in die 1960er Jahre sogar Sonderzüge. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts drängte das Auto die Eisenbahn zunehmend aufs Abstellgleis, da es eine größere Flexibilität ermöglichte. Der fallende Benzinpreis im Vergleich zum gestiegenen Realeinkommen beschleunigte diesen Prozess. Seit vielen Jahren wirbt der DAV unter dem Motto „Mit der Bahn in die Berge“ für ein Umdenken. 2011 warb sogar eine Lokomotive der Deutschen Bahn mit diesem Motto und den Farben des Alpenvereins für diese Aktion.
Die Karikatur wurde zwischen 1920 und 1940 im Alpinen Museum in München ausgestellt. Im Archiv des DAV ist lediglich ein zeitgenössisches Glasdia vorhanden. Das Original kann bei meinen Kolleg*innen vom ÖAV in Innsbruck eingesehen werden. Dorthin reist man am besten mit der Bahn.
Stefan Ritter, Archiv des DAV