Ihre wachen Augen registrieren alles im Raum. Jede Bewegung, jede Veränderung. Sie selbst aber wirkt, als würde sie zum Inventar gehören. Kaum, dass man sie bemerkt im ersten Moment, wenn man das Caffè Nazionale betritt. Es riecht nach abgestandenem Rauch. Vergilbte Fotos an der Tapete, ein großer Spiegel, uralte Werbeschilder, verstaubte Pokale im Wandregal. Eine Atmosphäre, die hundert Jahre zurückversetzt. Man würde sich nicht wundern, kämen Kutschenfahrer oder Menschen mit Perücken herein. Paula Castagneris Haare sind immer noch echt. Sie sitzt unverrückbar hinterm Tresen, als wäre sie einer anderen Zeit entsprungen. Mit 88 Jahren hat sie viel erlebt in Balme, dem hintersten Dorf im Val di Ala.
Rundherum ragen steile Berge in den Himmel. Balme klebt unter der beinahe senkrechten Südflanke der Uia di Mondrone. Ihr alleinstehender Gipfelkegel, knapp 3000 Meter hoch, wird gerne als das „Matterhorn“ der Lanzo-Täler bezeichnet. Vielleicht ist dieser Vergleich auch entstanden, weil es hier durchaus wie in Zermatt zuging. Paula erzählt von ihren Vorfahren.
Wiege des italienischen Alpinismus
Zu den Valli di Lanzo gehören das Val Grande, das Val di Ala und das Valle di Viù – drei Täler, die parallel zueinander vom Grenzkamm der Grajischen Alpen in West-Ost-Richtung tief durchs Gebirge schneiden und sich nahe dem Städtchen Lanzo Torinese vereinen. Wild und ursprünglich sind die Talschlüsse. Nur einen Katzensprung von der piemontesischen Metropole Turin, doch Welten entfernt. Nicht immer war das so. Zu Zeiten der Belle Époque, während des Übergangs vom 19. ins 20. Jahrhundert, pulsierte in den Bergdörfern das Leben, ließ die „Bel mondo“, die bessere Gesellschaft aus der Stadt, sich herrschaftliche Villen bauen, um während der Hitzezeit des Jahres in die beliebte Sommerfrische zu ziehen.
Gipfel wurden erobert, der bereits 1863 gegründete Italienische Alpenverein CAI betätigte sich rege im zerklüfteten Felsreigen. Die Nähe zu Turin, Balme liegt nur 55 Kilometer entfernt, war optimal, gleichwohl auch die geländekundigen Einheimischen, die über den vergletscherten Grenzkamm Handel mit der benachbarten Maurienne betrieben und sich bestens als Führer eigneten. Es entwickelten sich ganze Dynastien von Bergführern. Tempi passati. Das einträgliche Führergeschäft im Alpinismus findet längst an den namhafteren Bergen statt, und auch die Haute Volée von Turin hat sich anderen Destinationen zugewandt. Immer mehr Einheimische verlassen die Region, aus den obersten Gemeinden der drei Lanzo-Täler wanderten seit jener glorreichen Zeit etwa drei Viertel der Bevölkerung ab. In Balme wären nur noch rund hundert „Residenti“ gemeldet, doch in der Realität sind es vielleicht gerade mal 70 Menschen, die ganzjährig vor Ort leben, verrät Paula. Auf einen ihrer Vorfahren ist sie besonders stolz. Antonio Castagneri, genannt Tòni dij Toùni, hatte sich unter den Bergführern besonders hervorgetan. Ihm ist auch das Museum in Balme gewidmet.
Über vierzig Erstbesteigungen werden ihm zugeschrieben, nicht nur in den Lanzo-Tälern, auch in den angrenzenden Gebieten. Er war am Matterhorn unterwegs und am Mont Blanc, wo er letztlich im August 1890 mit seinem Freund Jean Maquignaz und einem Gast im Sturm verschwand. Ihre Leichen sind nie mehr aufgetaucht. Guido Rey, mit dem Castagneri einige Routen eröffnet hatte (u.a. durch die 1500 Meter hohen Südabstürze der Uia di Ciamarella 1883; über den Nordgrat auf die Bessanese 1889), schrieb eine Biografie über den Führerheld und W.A.B. Coolidge ein ergreifendes Nachwort im britischen Alpine Journal.
So werden Bergtouren hier zu einer Retrospektive. Zwei Weitwanderwege, die Tour della Bessanese und die GTA (Grande Traversata delle Alpi) ziehen durch die Lanzo-Täler und lassen sich zu einer abwechslungsreichen Runde verknüpfen. Auf der einen Hälfte bieten aussichtsreiche Hütten Übernachtung, auf der anderen Hälfte schlummert man in nostalgischen Herbergen aus der Belle Époque-Zeit, die auch kulinarisch was zu bieten haben. Automatisch bleibt man dabei länger in Balme hängen.
Im Wandel der Zeit
Während Paula Regie über die Kasse führt, bedient Tochter Stefania die Gäste. Meist Stammgäste wie Mauro Marucco. Er wohnt genau vis-à-vis. Ein Urgestein der GTA, Gründungsmitglied dieses legendären Weitwanderwegs und Jahrzehntelang Präsident des Dachverbandes. Mittels sanftem Tourismus sollte die GTA der Landflucht entgegenwirken. In den 1980er Jahren gab es in Balme keine Unterkunft mehr und Mauro Marucco funktionierte sein Haus, die Casa Bianca, zum Posto Tappa um. Kochen konnte er nicht, so schickte er seine Wandergäste ins Caffè Nazionale hinüber. Später revitalisierte man das Antico Albergo Camussòt nebenan – die älteste Unterkunft, wo dereinst die Bergsteigerelite und Persönlichkeiten aus der Glanz & Gloria-Welt, wie Königin Margherita und Schauspielerin Eleonora Duse, verkehrten. Das Gästebuch des Antico Albergo liegt heute sicher verwahrt im Museo Nazionale della Montagna in Turin. Mittlerweile aber sieht es traurig aus um das geschichtsträchtige Anwesen, auf dem nun eine halbe Hausruine Fragen aufwirft. Abgebrannt im Herbst 2019.
Längst hat sich das Albergo Les Montagnards im Ortsteil Cornetti einen Namen gemacht. Unter den GTA-Wandernden gilt es als eine der besten Unterkünfte entlang der Strecke. Man schlummert in einer ehemaligen Generalssommervilla aus dem Jahre 1925, die Antonella und Guido Rocci 2012 geschmackvoll herausputzten. Ein Schritt in die Selbstständigkeit, nachdem sie Jahrzehntelang ihre Gäste im Camussòt umsorgt hatten. Guido brilliert nicht nur als passionierter Koch mit umwerfenden Antipasti und lokalen Spezialitäten, er engagiert sich als ehemaliger Vize-Bürgermeister und Gemeinderat auch stark für den Erhalt des Kulturerbes. So setzte er sich erfolgreich dafür ein, dass Balme 2021 ins Netzwerk der Bergsteigerdörfer aufgenommen wurde. Dieses Qualitätszertifikat tragen aktuell 38 Orte verteilt in Slowenien, Österreich, Deutschland, Schweiz und Italien, deren größte Potenziale in ihrer Ursprünglichkeit, Tradition und Kultur liegen und die sich für deren Pflege verpflichten.
In den Gassen von Balme sind Informationstafeln installiert, die über das traditionelle Leben erzählen. Die Baukunst, mit deren Hilfe man den hier vorherrschenden harten Wintern trotzte, wird am besten vom Routchàss demonstriert, dem ältesten Haus des Ortes. Es wirkt höhlenartig, verschachtelt wie eine Wehrburg. Überdachte Gänge und Treppen verbinden Vorratskammern, Ställe und Wohnräume und gestatten auch bei meterhohem Schnee geschützten Zugang zum Brunnen, zum Backhaus, zum Waschhaus und zur Kapelle. Ein besonders schönes Fresko findet sich an einer der Hauswände. Es stellt das berühmte Grabtuch Christi dar, das im 16. Jahrhundert aufgrund von Religions- und Herrschaftskonflikten auf heimlichem Wege über den Grenzkamm zwischen Bessans und Balme nach Turin überführt worden ist.
Viele spannende Geschichten und Legenden über Einwanderung, Schmuggel und Eroberungen ranken sich um Dorf und Tal. Auch Frauen übernahmen den Grenzhandel. Paula schmunzelt und erzählt gerne die Anekdote von Antonio Castagneris Schwester. Dieser sagte man nach, sie könne mit einem 30 Kilogramm schweren Sack über der Schulter den acht Stunden dauernden Marsch hinüber nach Frankreich inklusive Kletterei und Eispassagen bewältigen, ohne dabei ihre Pfeife aus dem Mund nehmen zu müssen. Erst als sich die Grenze 1861 auf den Hauptkamm verschob, mussten diverse Warentransporte heimlich erfolgen. Doch die Kontrolle blieb lax, die Grenze wurde meist von Auswärtigen bewacht, die dem Gelände aus Fels und Eis nicht gewachsen waren. Wie eng die Verbindung zwischen dem französischen Bessans und Balme ist, zeigen nicht nur die ähnlichen Traditionen, sondern auch die verwandten Dialekte.
Wilde Wege
Das raue Relief schenkt einem zumindest auf der GTA nichts. Abenteuerlich der Übergang ins benachbarte Val di Viù. Eine wilde Talschlucht führt zu verträumten Seen, man muss sich gleich über zwei Pässe schuften, bis die Welt wieder zu Tale stürzt. Galant weicht die GTA durch steile Grasflanken den Felsabbrüchen aus. Spannend, doch anstrengend. Unten im Tal zittern die Knie. Usseglio versetzt mit seinen zwei herrschaftlichen Hotels wieder zurück in die Belle Époque. Der Glanz blättert schon etwas ab, auch die Gäste sind älter geworden, mitunter sehr alt. Man spielt Karten, flaniert etwas die Straße entlang und wartet auf die Mahlzeiten. Eine ganz eigene Stimmung herrscht hier. Die Familien zieht es hinauf in den Talschluss. Am gestauten Lago di Malciaussia wird gezeltet, gepicknickt, gegrillt und im See wird geplanscht. Italienische Ferien mit dem Auto eben. Kaum etwas los ist auf den Wanderwegen, selbst auf so aufregenden Routen wie dem Decauville. So nennt man die alte Bahntrasse der Kraftwerksgesellschaft, die hangparallel hoch über dem Tal durch Felsabstürze und Tunnel zum Lago di Malciaussia führt. Dieser Teilabschnitt des Sentiero Italia bietet sich als landschaftlich attraktivste Wanderverbindung von Usseglio zum Stausee an.
Zurück dann auf der GTA, die unten herumführt, ließe sich auch hier eine feine Runde schlagen. Das Rifugio Vulpot bietet beste Lage direkt am Malciaussia-See. So wie sich im Val di Ala die Familie Castagneri aus Balme unter den Bergführerdynastien einen Namen gemacht hatte, ist es hier die Familie Ferro Famil. „Vulpot“, Fuchs, nannte man Domenico Ferro Famil, Begründer des Rifugio Vulpot, weil er behände wie ein Fuchs auf die Gipfel kletterte. Vor der Hütte erinnert eine Gedenktafel an den Pionier.
Tour della Bessanese
Edelweiß am Wegesrand, ein Gletscherbach gurgelt durch Strudeltöpfe, Gämsen beäugen die einsamen Personen, die von Usseglio-Villaretto bergwärts steigen. Im Südosten lässt der Hitzedunst die Poebene erahnen. Auf einem kleinen Hochplateau am Fuße der schroff abfallenden Punta di Pera Ciaval im Grenzkamm zur französischen Maurienne verbirgt sich das Rifugio Cibrario. Ehrenamtlich wird die Hütte von Mitgliedern der Alpenvereinssektion Leini geführt. Herzlich der Empfang. „Ihr müsst morgen früh unbedingt einen kleinen Schwenk zum Lac Peraciaval unternehmen“, gibt Beppe gerne einen Tipp zu seinem Lieblingssee, der etwas abseits des Weges liegt.
Bei jeder Biegung des Pfades bringt uns die von Gletschern geformte Landschaft aufs Neue zum Staunen. Unzählige Karseen begleiten auf der Etappe zum Rifugio Gastaldi. Vom Colle Altare schweift der Blick zur vergletscherten Uia di Ciamarella, rechts lugt der Gran Paradiso über den Kamm. Als türkisfarbenes Juwel leuchtet der Lago della Rossa, dereinst höchstgelegener Stausee der Alpen, aus der Gesteinswüste. Moränenwälle winden sich wie Schlangen vom Alpenhauptkamm herab. Über dem Rifugio Gastaldi steht der wuchtige Felsobelisk der Bessanese Spalier. Inmitten der Mondlandschaft mäandert ein Gletschermilchbach durch saftig grüne Wollgrasmatten. Farbkontraste, die bezaubern.
Ein „Giro dei laghetti glaciali“, bereits 2013 am Rifugio Gastaldi eingeweiht, will den starken Wandel des Klimas deutlich machen. Der etwa einstündige Rundweg über die Höhenterrasse Crot del Ciaussinè führt zu den Gletscherseen, die sich durch den Rückzug des Bessanese-Gletschers gebildet haben. Alpine Ausrüstung braucht es für eine Besteigung von Bessanese und Ciamarella. Der Hüttengipfel Rocca Turo jedoch lässt sich ganz leicht mitnehmen. Ergreifend der Tiefblick ins Val di Ala, während die Morgensonne über dem markanten Schattenriss der Uia di Mondrone aufgeht. Später nach einem Steilabstieg in den Talschluss umfängt die Felsenarena von Pian della Mussa. Ein beliebtes Ausflugsziel an Wochenenden. Der weite Talboden lässt die Verlandung eines Sees erahnen. Starke Quellen versorgen Turin mit bestem Trinkwasser. Seit kurzem nutzt man das mineralienreiche Quellwasser auch zum Bierbrauen. Die Birrificio in Balme stellt seit 2017 bestes Bio-Bier her: das Birra Briga in allen möglichen Varianten, von klar bis unfiltriert, von hell bis dunkel. Herb und kräftig schmeckt das Steinbock Doppelmalz – voller Volumen wie die Lanzo-Täler selbst. Nach der Tour könnte solch ein erfrischender Hopfensaft kaum besser munden, am stilvollsten bei Paula im Caffè Nazionale.