Bergbauernidylle in Mitterleiten bei Sachrang, Foto: Axel Klemmer
Bergbauernidylle in Mitterleiten bei Sachrang, Foto: Axel Klemmer
Unterwegs in Schleching und Sachrang

Natur, Kultur und Bergsport in den Bergsteigerdörfern

Hochgebirge ist anders. Trotzdem haben die Chiemgauer Orte Sachrang und Schleching höhere Sphären erklommen: Sie sind die beiden neuen Bergsteigerdörfer in Bayern – ein steiler Aufstieg für Einheimische und Gäste.

Hochgebirge ist anders?

Erst 45 Minuten sind seit der Abfahrt am Münchner Ostbahnhof vergangen, da rauscht es im Lautsprecher. Der Zugbegleiter spricht: „Nächster Halt in Prien am Chiemsee. Dort haben sie Anschluss an die Regionalbahn ins Hochgebirge, nach Aschau.“ Die Fahrgäste im Meridian glucksen. Hochgebirge – echt jetzt?! Wer ins neue Bergsteigerdorf Sachrang reist, sieht keinen Watzmann oder Hochkalter wie über dem ersten bayerischen Bergsteigerdorf Ramsau. Überhaupt, Bergsteigerdorf: Das ist eine steile Ansage, die zwischen den netten grünen Bergen am Alpenrand, gleich hinter dem Chiemsee, durchaus Irritationen wecken kann. Oder eben Belustigung. Aber warum eigentlich? Wie schrieb der einst hochverehrte Alpinliterat Leo Maduschka: Bergsteigen ist Wandern.

Berglandwirtschaft als wichtige Stütze

Seit 1978 ist Sachrang ein Ortsteil der Gemeinde Aschau am Fuß der immerhin ganz oben felsigen Kampenwand. An seinem Schreibtisch im Aschauer Rathaus sitzt der Bürgermeister Peter Solnar, er sagt: „Sachrang hat nichts getan, um Bergsteigerdorf zu werden, sondern es ist Bergsteigerdorf geworden, weil es ist, wie es ist.“ Dann zählt er die vier Säulen auf, die das neue Konstrukt stützen: Berglandwirtschaft, regionale Vermarktung, Naturschutz, Tourismus. Ja, liebe Bergsteigergemeinde, es geht im Bergsteigerdorf nämlich nicht nur um euch und eure Watzmänner! Genau so sieht es das Konzept des Alpenvereins vor. Solnar erklärt, was ihm besonders wichtig ist, nämlich „die Sicherung des ländlichen Lebensraums, die Daseinsvorsorge und die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs“. Und er hebt zwei Initiativen hervor, die auch, aber eben nicht nur für den Tourismus wichtig sind: das Bergbauernmodell und den Dorfladen in Sachrang, der ebenso regionale Lebensmittel vermarkte wie der Prientaler Bergbauernladen in Aschau. Ist das Bergsteigerdorf am Ende eher ein Bergbauerndorf? Sehen wir es uns an.

Blick von der Feichtenalm, Foto: Axel Klemmer

Im Angesicht des Kaisergebirges

Zu Fuß vom Rathaus in Aschau nach Sachrang gelangt man auf dem 14 Kilometer langen „Grenzenlos-Wanderweg“ durch das Priental. Wer aber als Bergsteiger ein Bergsteigerdorf besuchen möchte, nimmt gleich hinter dem Schloss Hohenaschau den schönen Weg hinauf zur Ellandalm und weiter über die Angereralm zur Klausen. Dort steht in allerschönster Lage, genau auf dem Kamm, ein hübsches altes Gasthaus. Das heißt, hübsch war es früher. Seit Jahren verfällt es, ein Schild verweist auf Einsturzgefahr. Dieses Bild des Jammers hat immerhin einen positiven Nebeneffekt: Denn würden hier oben noch volle Biergläser über die Theke gereicht, müsste man die Aussicht vom Haus und vom nahen Gipfel sicher mit weitaus mehr Menschen teilen – ebenso wie den Übergang Richtung Spitzstein, die wohl schönste Bergwanderung im Gebiet. Um den Latschenrücken des Zinnenbergs herum tritt man hinaus auf die Feichtenalm, eine ungeheuer weite, sanft abfallende grüne Wiese mit einzelnen Bäumen, direkt vor der Zackenkulisse des gegenüberliegenden Kaisergebirges.

Hinauf zum Spitzstein

Über den Weiler Mitterleiten mit seinen schönen Bauernhäusern, vorbei an Hornvieh und Hühnern und über prächtige Blumenwiesen geht es schließlich wieder hinab ins Priental. Hinter dieser Traumlandschaft folgt der Pfad sehr schmal und rau, teilweise fast schon alpin, dem Kammverlauf. Nach dem kurzen Abstecher zum Brandlberg, wird der Nordabbruch des Spitzsteins erreicht. Der dort angelegte Steig war schon früher brüchig und steinschlaggefährlich. Seit einigen Jahren wird er nicht mehr instand gehalten, ein Schild verspricht „Lebensgefahr“. Also außen herum – was den Vorteil hat, dass man so unmittelbar am Fuß der gewaltigen, senkrechten Spitzsteinwand entlangwandert: alpines Neuland, nahezu unerschlossen, sauschwer… Ist dann der Südanstieg über dem Spitzsteinhaus erreicht, sinkt das Genusslevel leider beträchtlich ab. Der ehemalige Zickzackweg ist zu einer monotonen Schräge aus Steinen und Erde erodiert. Der prallen Sonne ausgesetzt, sucht man sich seine Route zum Gipfel mit der kleinen Kapelle – fotogener Vordergrund vor dem großartigen Inntal-Panorama.

Kapelle auf dem Gipfel des Spitzstein, Foto: Axel Klemmer
Sachranger Dorfladen, Foto: Axel Klemmer

Dorfladen als Begegnungsstätte

Nur knapp die Hälfte der rund 600 Bergsteigerdörfler sind „echte“ Sachranger. Es gibt viele Zugezogene und, ja, auch eine Menge Ferien- und Zweitwohnungsbesitzer. Was aber gar nicht schlimm ist, wie man am nächsten Morgen im Dorfladen berichtet: Nur von den wenigen Einheimischen könnte der Laden nicht leben. Geschäftsführerin Ursula Havel und ihr Mann, Mitgesellschafter und Mitgliederrat der Mini-GmbH, sind selbst vor vielen Jahren aus dem Norden Deutschlands zugezogen. Das Gespräch wird draußen an einem Cafétisch geführt, weil drinnen umgebaut wird, und es dauert einige Zeit, weil viele Menschen begrüßt werden müssen. Der Dorfladen stellt seit 2010 nicht nur die Nahversorgung mit regionalen Lebensmitteln sicher, er funktioniert auch als Café und Begegnungsstätte. Und die Berglandwirtschaft, funktioniert die auch?

Bauern als Landschaftspfleger

Martina Bauer, Naturschutzexpertin, Bergwachtfrau und Almwirtschafterin, sieht Handlungsbedarf: „Es gibt zu wenig Bauern im Priental – nur noch vier Milchviehbetriebe.“ Das hat Folgen, denn Flächen, die nicht mehr genutzt werden, wachsen zu. Darum wurde 2015 das Bergbauernmodell gegründet, gefördert vom Bayerischen Naturschutzfonds und der Regierung von Oberbayern. Zusammen mit einem Experten geht der Landwirt ins Gelände, dann wird individuell entschieden, was zu tun ist: Sträucher entfernen, hier und da einen Baum umschneiden, eventuell die Beweidung anpassen. Auch mit neuen beziehungsweise alten Haustierrassen, Kühen, Pferden und Ziegen, vielleicht auch Schweinen, soll experimentiert werden. „Wir sehen uns als Landschaftspfleger“, sagt Bauer. „Der Geigelstein ist ja eine Kulturlandschaft. Der Blumenreichtum, die Artenvielfalt, das alles gäbe es ohne die Bewirtschaftung nicht.“

Auf der Angereralm, Foto: Axel Klemmer

Seit 1991 Naturschutzgebiet: Der Geigelstein

Geigelstein, der Blumenberg. Wie eine sehr hohe Brücke verbindet er Sachrang und Schleching miteinander. In Bergsteigerdörfern muss der Höhenunterschied zum höchsten Gipfel im Umkreis mindestens 1000 Meter betragen – was der Geigelstein (1808 m) über Schleching (569 m) locker, über Sachrang (738 m) gerade so erfüllt. Auf dem höchsten Punkt stehen ein Kreuz und eine kleine Kapelle, Symbole eines Friedens, der einige Jahre lang bedroht gewesen war. Der Plan, eine Skischaukel zwischen Schleching und Sachrang zu bauen, hatte in der Region über viele Jahre für Streit gesorgt und 1975 zur Gründung einer am Ende erfolgreichen Bürgerinitiative geführt: Wie der Watzmann 1978 anstelle einer Seilbahn den Nationalpark bekam, so bekam der Geigelstein 1991 sein Naturschutzgebiet. Besucher erleben hier eine Art Gesamtkunstwerk von Mutter Erde mit aktiver Beteiligung der bayerischen Alm- und Forstwirtschaft. Darum erfolgt der Aufstieg zu den alpinen Idyllen gerade in Talnähe oft auf breiten Fahrstraßen. Zwischen den Straßen gibt es auch schöne Steige und Wege, doch das Gelände verleitet geradezu zum Fahren auf zwei Rädern. Auch dort, wo es eigentlich dem Gehen auf zwei Füßen vorbehalten ist – wie auf dem Pfad zur Schreckalm oder auf den Steigen zwischen Geigelstein und Rossalm.

Vier Tage wandern, zwei Tage radeln

Angesprochen auf die vielen Mountainbikespuren, holt Stephan Kleinschroth tief Luft. „Ich glaube fast, dass wir bald Verbotsschilder aufstellen müssen.“ Sein Radsportladen in Schleching ist ein Partnerbetrieb des Bergsteigerdorfs. Kleinschroth bietet zwölf Mountainbikes und zehn E-Mountainbikes im Verleih an; nachgefragt werden fast nur Letztere – und besonders gern das einzige Kinder-E-Mountainbike. (Berg-)Radeln ist auch für die Einheimischen ein großes Thema, das bestätigt Remigius „Muck“ Bauer in seinem Sportgeschäft: „Die wenigsten Aktiven im Ort sind keine Mountainbiker! Die Landschaft gibt es einfach her.“ Vier Tage wandern, zwei Tage radeln – oder umgekehrt. So beschreibt Bauer ein typisches Schlechinger Urlaubsprogramm. Aber da geht noch mehr. Im grünen Waldpelz der umliegenden Berge blitzen immer wieder graue Felsen heraus. Felsen zum Klettern!

Klettermekka Zellerwand

Zellerwand, Klobenstein, Kampenwand – diese Namen bürgen für steile Erlebnisse. Vor allem die lange, leicht erreichbare Zellerwand beim Ortsteil Mettenham leuchtet als einer der hellsten Fixsterne am oberbayerischen Kletterhimmel; im Sportkletterführer „Chiemgau Rock“ von Christoph Müller bekommt sie den meisten Platz. 163 Routen verzeichnet das DAV-Felsinformationssystem, maximal 45 Meter hoch und mit saisonalen Einschränkungen (Vogelbrutgebiet) in weiten Bereichen ganzjährig zu begehen.

Dem Namen Müller begegnet man hier übrigens noch öfter: Christophs Bruder Dominik führt zusammen mit seiner Frau Angelika das Traditionsgasthaus Zellerwand, eine gastronomische Institution mit toller Slowfood-Küche, Papa Reiner, Heeresbergführer mit bester Ortskenntnis, betreibt den sehr schönen Campingplatz am Zellersee unterhalb der Felsen. Von der Zellerwand zurück nach Schleching. Der Dorfladen, ähnlich organisiert und verwaltet wie jener hinterm Berg in Sachrang, präsentiert auf einem Regal Produkte des Ökomodells Achental. Vor bald 20 Jahren haben die Gemeinden Bergen, Grabenstätt, Grassau, Marquartstein, Reit im Winkl, Schleching, Staudach- Egerndach, Übersee und Unterwössen die Initiative gegründet, um eine umweltverträgliche und zukunftsorientierte Entwicklung der Region zu fördern.

Sanfter Tourismus

Das Bergsteigerdorf passt wunderbar dazu, meint Josef Loferer, der Bürgermeister und selbst Landwirt. Der Tourismus ist schon vorher sanft gewesen, auch im Winter. Wo in Sachrang Familien mit kleinen Kindern das – na ja – Skizentrum der Kaiserblicklifte am Laufen halten (ein Schlepplift, ein Übungslift, sogar Schneekanonen in niedriger einstelliger Zahl …), steht im Schlechinger Ortsteil Ettenhausen der Geigelsteinlift zur Wuhrsteinalm seit Jahren still. Eine neuerliche Inbetriebnahme ist unwahrscheinlich.

Kammwanderung am Klausenberg, Foto: Axel Klemmer
Auf dem Gipfel des Geigelstein, Foto: Axel Klemmer

Wachsen Schleching und Sachrang zusammen?

„Seit der Einrichtung des Naturschutzgebiets sieht man den Geigelstein im Prien- und im Achental wieder mehr als gemeinsamen Lebensraum“, sagt Loferer. „Das wächst immer mehr zusammen.“

Wobei das Zusammenwachsen wortwörtlich an Grenzen stößt. Um von Schleching nach Sachrang zu kommen, muss man im großen Bogen entweder nördlich über Aschau, Bernau und Grassau (35 Kilometer) oder südlich über Kössen und Walchsee in Tirol (30 Kilometer) fahren. „Der öffentliche Verkehr ist ein zentrales Thema“, sagt Bürgermeister Solnar in Aschau, „darum wünschen wir uns eine gegenläufige Bus-Ringlinie auf der Strecke.“ Sein Amtskollege Loferer nennt für deren Verwirklichung einen Zeithorizont von zwei Jahren. Dann wäre nebenbei schon mal die „Euregio“ Inntal mit Kössen eingebunden und damit auch das wilde Kaisergebirge – echtes Bergsteigerland, ohne jeden Zweifel.