Neuland zum Abschluss
19.12.2022, 10:41 Uhr
Ende Oktober gelang dem Frauenteam des DAV Expedkaders der Abschluss einer Erstbegehung, die sie im Herbst 2021 angefangen hatten. Damit geht ein ereignisreiches Jahr zu Ende – und der Blick weit nach vorne: in die Wildnis Grönlands.
"Ein Gefühl wie nach einer Weltreise, man hat alles erlebt: Schritt für Schritt kommt man weiter – tolle Wasserrillen, heikle Platte, bissl brüchige Verschneidung. Dass wir das entdecken dürfen!" So schwärmt Lea Luithle von "ihrer" Seillänge in der Erstbegehung, die sie gemeinsam mit Amelie Kühne fertigstellen konnte. Damit ist das einjährige Projekt erfolgreich beendet und der Weg frei für eine freie Begehung im nächsten Jahr.
"Es stellt sich die Frage, ob man alles erschließt, was man erschließen könnte."
Doch der Reihe nach. Aufbruch ins Unbekannte ist das Wesen einer Expedition. In den Alpen kann man das erleben, wenn man sich in Neuland begibt. Deshalb gehört das Thema "Erstbegehung" zum Curriculum des DAV-Expedkaders. Schließlich sollte man mit der Technik – vom Cliffen übers Hakensetzen bis zum Materialhandling – vertraut sein, wenn man das am Ende der Welt tut.
Doch noch mehr als in den "greater ranges" stellt sich in den Alpen die Frage der Verantwortung für die Ressource Wildnis. Wie Luisa "Lulu" Deubzer sagt: "Es soll ja etwas Gutes werden, wenn man etwas einbohrt, weil unerschlossener Fels eine knappe Ressource ist, man Rückzugsräume für Tiere berücksichtigen muss und sich deshalb die Frage stellt, ob man alles erschließt, was man erschließen könnte." Ein in dieser Hinsicht unbedenkliches Revier entdeckte das Team ausgerechnet an der touristisch intensiv erschlossenen Zugspitze: An den Riffelköpfen über dem Höllentalsteig hatte die Trainerin Dörte Pietron selbst Erstbegehungen gelegt, ein weiterer Wandteil war noch völlig unberührt.
Zwei Dreierteams an den Riffelköpfen
Dort traten die Mädels im Herst 2021 in zwei Dreierseilschaften an, suchten per Fernglas vielversprechende Felsbereiche und stiegen los. Rosa Windelband berichtet: "Es ist ein riesengroßes Abenteuer: in eine Wand einzusteigen, wo noch keiner durchgeklettert ist, und die ganze Zeit nicht zu wissen, ob es überhaupt zu klettern geht und was als nächstes kommt. Und dass nicht irgendwann der rettende Haken kommt, sondern man den erst selbst setzen muss." Caro Neukam ergänzt: "Da ist noch kein Mensch zuvor gewesen, man ist der allererste, der diese coole Stelle gerade klettert. Das ist ziemlich herausfordernd für den Kopf. Aber es macht total Spaß!" Und wenn dann doch einmal "der Kopf nicht mehr so gut mitmacht" (Amelie), kann man ja wechseln, auch während der Seillänge.
Denn die Bohrmaschine am Gurt (im leichteren Gelände) oder zum Nachziehen verspricht die Möglichkeit, einen Bohrhaken zu setzen, wenn es zu schwierig oder heikel wird und mit Klemmkeilen oder Normalhaken nichts geht. Allerdings muss man sich zum Bohren am Fels fixieren, um die Hände freizubekommen: an Keilen, Friends, Peckern (Mikrohaken) oder dem Cliff, einer gebogenen Metallkralle, die auf Löcher oder Leisten gelegt wird – "sehr freaky!" (Lulu). Und dabei kann es einem auch mal gehen wie Amelie, die keine Möglichkeit zum Cliffen fand, aus der Kletterposition an einem Untergriff bohren musste und zwischendurch immer wieder zu einem Schüttelgriff abklettern musste; "das war kein kleiner Sturz, den das gegeben hätte; ich war super beeindruckt, wie sie da am Kämpfen war und trotzdem die Nerven behalten hat", schildert Lulu, die die Szene beobachtete.
Und dann ist ja noch die Frage nach dem Stil. "Das persönliche Erlebnis ist mit weniger Bohrhaken intensiver, man ist mehr gefordert, muss mehr einschätzen; das macht die Tour cooler und lohnender", sagt Lea, "und wo man was legen kann, braucht's keinen Bolt. Aber vielleicht kommen noch ein paar dazu bei der freien Begehung." Rosa erinnert an einen weiteren Aspekt: "Man spürt beim Einbohren schon die Verantwortung für Wiederholer. Wir waren die ganze Zeit am Überlegen, wie es für jemanden ist, der es nach uns klettert und die Züge nicht kennt: Von wo kann man am besten clippen, findet man den Routenverlauf, wie lang sollten die Seillängen sein … alles Punkte, die man beachten möchte." Denn auch wenn die Wand mit 1300 Höhenmetern Zustieg nicht für die breite Masse taugt, "wollten wir etwas hinterlassen, was auch wiederholt wird", wie Lea sagt.
Austausch und Zusammenarbeit ist sehr wichtig
Im Herbst 2021 wurde eine Linie (9 SL) fertig, bei der anderen fehlten noch ein paar Seillängen – doch es war wie verhext: Drei Termine durchkreuzte schlechtes Wetter. Dann kam der Spätsommer-Oktober, und Lea und Amelie machten kurzen Prozess: mit Amelies Freund Martin Feistl (DAV-Expedkader 2018), seiner Bohrmaschine und dem Fotografen Silvan Metz starteten sie durch und konnten die letzten drei Längen vollenden.
Nun warten also zwei Linien im Wetterstein auf ihre erste freie Begehung im nächsten Jahr; "ich bin voll gespannt, im Frühjahr reinzugehen und hoffentlich zu versuchen es frei zu klettern!", freut sich Lulu. Wenn nicht wieder "Strickzeug, eine Haarbürste, eine leere Powerbank, eine Aubergine…" (Rosa) in den Rucksäcken sind, wie neulich dank überhastetem Packen, werden sie das schon schaffen, die starken Frauen vom Expedkader.
Einen interessanten Gedanken hat Rosa noch zum Thema Verantwortung: "Ich denke, als "Urlauber" sollte man vorsichtig sein mit dem Erschließen. Man sieht zum Beispiel, dass Deutsche irgendwo nach Albanien, Bosnien, Griechenland, … fahren und munter drauf los bohren, ohne Gesamtkonzept oder Absprachen. Ein Austausch und Zusammenarbeiten mit den Locals vor Ort ist sehr wichtig; man sollte ihnen die Chance lassen, ihren Fels selber zu erschließen, und ihnen nicht alles wegnehmen, nur weil die Kletterentwicklung dort noch nicht so fortgeschritten ist."
Was bei guten Allround-Bergsteigerinnen alles dazugehört...
Mit ihren neuen Linien fast in Sichtweite von Garmisch-Partenkirchen haben die Mädels jedenfalls keinem Local eine Chance genommen, die nicht seit Jahren hätte genutzt werden können. Und alle sind sich einig, dass die Erfahrung Erstbegehung "cool" war und dass sie im Team super zusammenarbeiten. "Es hat mir allgemein mehr Selbstvertrauen gegeben, auch in anderen Mehrseillängenrouten einfach mal da lang zu klettern wo es logisch aussieht", sagt Lulu. Und Lea findet: "Das ist auch eine Anwendung des bis jetzt Gelernten. Techno, Seilmanagement, Haulbag, Taktik, …"
Was alles dazugehört, eine gute Allround-Bergsteigerin zu werden, zeigt die Vielfalt der Trainingskurse, die das Team im vergangenen Jahr absolviert hat. Beim Eisklettercamp in Cogne lernten sie, dem Massenandrang durch Frühaufstehen zuvorzukommen und konnten sich so Klassiker wie "Repentance Super" (200 m, WI 6) sichern. Rosa: "Wir waren dort die ganze Zeit am Staunen ,was sich für verrückte Eisformationen bilden können: große Pilze, Bäuche, sogar eine Verschneidung; das fühlte sich fast an wie Sandsteinklettern!" Lulu erlebte ein Team-Highlight, als sie und Janina Reichstein die am ersten Tag nicht komplett ausgecheckte "Har Ice in the rock dry" (M8) "mit gegenseitigem pushen" beide am zweiten Tag durchsteigen konnten.
...zeigt die Vielfalt der Trainingskurse
Beim Lawinenlehrgang mit Flo Hellberg lernten die jungen Alpinistinnen, "Schneedecken anzuschauen und Suchzenarios durchzuspielen. Das war mega lehrreich und wichtig, dass wir dafür Zeit hatten", findet Janina. Später im Jahr war für sie das Bigwallcamp im Val di Mello eine beeindruckende Lehreinheit in Sachen "Demut vor großen Wänden – wenn man mit dem ganzen Zeug am Gurt so langsam ist, dass man gerade mal vier Längen am Tag schafft (im besten Fall)!"
Zurückhaltung war auch beim Sommercamp angesagt. Lea: "Mein erstes Mal in Chamonix und endlich versteh ich den Hype: Die Berge sind der Inbegriff der Träume. Aber man hat's die ganze Woche krachen hören und auch sehen können, wo überall ganze Wände heruntergefallen sind." Da lag die Erkenntnis von Caro nahe: "Bedingungen muss man akzeptieren wie sie sind, auch wenn man motiviert ist. Es lohnt sich einfach nicht, unnötig Risiken einzugehen." Statt Kombi-Klassikern gab's also alpines Sportklettern in der Südwand der Aiguille du Midi – “Contamine” (6c), “Super Dupont” (7a) und “Fou de l’Aiguille” (7b) – und am Petit Clocher de Portalet: "Sud-Est" (6b+), "Etat de Choc" (7a) und "Ave César" (7c). An den Aiguilles Dorées trainierten sie flottes Vorwärtskommen im "alpinen Gelände" samt Biwak, die Spaltenbergung wurde wegen Gewitterwarnung in den Klettergarten verlegt.
Gewitter trotz bester Vorhersage machte die "République Bananière" (700 m, VII+/VIII-) an der Aiguille de la République für Rosa, Lulu und Amelie zu einem größeren Micro-Adventure: Hitze ließ sie langsam vorwärtskommen, am Gipfel fiel eine Stirnlampe runter, beim Abseilen gab es gleich zwei Seilverhänger, dann ein Biwak auf schmalem Band – und dennoch "sind wir am nächsten Tag wieder gut unten angekommen," erzählt Amelie; "ziemlich fertig, aber mit einem Lächeln auf den Lippen, denn wenn wir eins gelernt haben, war das, dass wir durch den Zusammenhalt und das Aufmuntern so ziemlich alles schaffen können: Das macht unser Team aus." Rosa zieht das Fazit: "Es war eine super Tour und gleichzeitig eine Warnung, dass man gut überlegen sollte, wann man umdreht." Noch vor dem Camp hatten Amelie und Caro ihre alpinistische Ader bewiesen: Caro mit Marina Kraus am elend langen Grat "Brouillard Integral" (D, V, 3500 HM) zum Mont Blanc, Amelie mit Kathi Sandbichler und Martin Feistl am noch längeren, noch elenderen und noch legendäreren "Peuterey Integral" (TD+, VI, A0, 4500 HM).
Mehr als "nur" Kader
Dass Alpinismus für die Kaderfrauen eine lebensprägende Leidenschaft ist, weit über die organisierten "Maßnahmen" hinaus, zeigen auch ihre privaten Erlebnisse. So durchstieg Caro neben dem Brouillard Integral auch den begehrten Bumillerpfeiler (800 m, TD, V+) am Piz Palü und kletterte die Route "Nanouk" (9 SL, 7a+) am Zervreilahorn.
Fast zwangsweise, aber nicht widerwillig, gab Lulu dem Fels die Priorität, nachdem sich Ausdauerbelastungen nach einer Coronainfektion Anfang des Jahres nicht gut anfühlten. Die ehemalige Wettkampfkletterin konnte nach zehn Tagen den Trad-Neoklassiker "Prinzip Hoffnung" (X+ R) an der Bürser Platte klettern – dann legte sie in Sachen Schwierigkeit noch eins drauf und stieg mit "Speed Integrale" (XI) im Gebiet Voralpsee ihre erste 9a. "Das war der Hammer, zu sehen, dass es beim Sportklettern auch nach so vielen Jahren immer noch möglich, ist ein neues Level zu erreichen."
"Vor zwei Jahren hätte ich mich das nicht getraut", urteilt auch Lea über ihre Überschreitung der Karwendel-Nordkette vom Solstein bis zum Thaurer Zunterkopf, zwei Tage à 10 1/2 Stunden auf teils brüchigen Graten. Wer das Gelände kennt, kann nachvollziehen, dass das mit Biwak-Rucksack nicht nur eine Konditionsleistung ist, sondern auch "sehr anstrengend für den Kopf. Aber ich bin nicht über meine Grenzen gegangen, habe die Entscheidungen gut getroffen. Cool zu sehen, was man kann!"
Amelie verbrachte mit Martin Feistl einen vollen Monat in den Tradklettergebieten an den Küsten der britischen Inseln: "Jede Tour war ein Abenteuer. Wir seilten an Schafzaunpfosten oder verrosteten Stäben im Boden direkt an die Küste ab und mussten dann wieder irgendwie hochkommen. Oft standen wir vor der Tour und dachten uns, da sollen wir jetzt wirklich hoch? Ganz ohne Haken? Wie das? Doch die Placements waren größtenteils sehr gut, manchmal galt es einfach mal den Kopf auszuschalten. Wir haben jede Tour in vollen Zügen genossen."
Als Freundin verrückter Aktionen outete sich auch Rosa: Mit insgesamt 21 Frauen organisierte sie eine Riesen-Baustelle (Menschenpyramide) im Elbsandsteingebirge. "Es war richtig cool, so viele motivierte Frauen an einem Fleck zu haben und gemeinsam an einem Projekt zu arbeiten. Ein, zwei Frauen weniger und wir hätten es nicht geschafft. Vermutlich war es (leider) auch die erste sächsische Großbaustelle in reiner Frauenseilschaft. Wir haben ziemlich gekämpft, viele Versuche gebraucht und es am Ende doch noch geschafft. Das war ein saugutes Gefühl, dieser Teamerfolg!"
Blick nach vorne - in die Wildnis Grönlands
Ein gut erfülltes Jahr war es also für die Kader-Mädels. Lea: "Ich finde, wir hatten nur Highlight-Lehrgänge. Alle komplett verschieden, jedes Mal aufs Neue hat die Dörte es geschafft, interessante (Lern-)Inhalte mit einem coolen Ziel zu verbinden und dann vor Ort die Bedingungen im Rahmen des Möglichen voll auszunutzen." Lulu ergänzt: "Jedes Mal nehme ich echt viel mit. Vor allem alles, was mit Bergrettung zu tun hat, ist immer super zusammen zu üben und zu wiederholen, weil ich alleine oft zu faul dazu bin."
So fügt sich jede Aktion als Puzzleteil an die andere und rundet das Kompetenzspektrum des Teams ab. Für 2023 steht neben dem Ziel, die zwei Erstbegehungen frei zu klettern, im Kalender zuerst noch eine Trainingswoche Mixedklettern in Chamonix mit hoffentlich auch größeren Touren und ein Trip zu den Granit-Bigwalls im Tessin.
Dann steht die Abschlussexpedition an, für die jetzt schon die Planungen laufen. Das Ziel steht fest: Wie das Männerteam 2022 wollen die Frauen nach Grönland, auf die Insel der unbegrenzten Möglichkeiten, von Bigwallklettern bis Kombi-Alpinismus. Eine Aufgabe der besonderen Art haben sie sich unter dem Stichwort "Nachhaltigkeit" gestellt: Die größte Insel der Welt optimal klimaverträglich zu erreichen, auf jeden Fall ohne die Emissionen eines Interkontinentalflugs. Eine komplexe Jonglage mit Logistik, Zeitaufwand, Jahreszeiten und Kosten.
Was jetzt schon feststeht: Dort wird dann zum Reiz und Kitzel des Unbekannten, von dem die Mädels bei ihren Erstbegehungen im Wetterstein genippt haben, noch das Gefühl dazukommen, am Ende der Welt auf sich gestellt zu sein. Doch für dieses Team sollte das kein großes Problem sein.
Und was machen die Jungs?
Für das Männerteam des DAV Expedkaders startet 2023 eine neue Runde – mit einem neuen Konzept. Nach dem Sichtungscamp Ende März in den hoffentlich noch winterlichen Allgäuer Bergen wird nicht wie bisher ein sechsköpfiges Team bestimmt werden. Statt dessen werden zwölf junge Alpinisten an verschiedenen Lehrgängen im Sommer teilnehmen, und erst im Herbst wird die endgültige Auswahl getroffen. Dadurch kommen mehr Leute in den Genuss der Schulungsmaßnahmen, und es gibt mehr Möglichkeiten, sich kennenzulernen und aufeinander einzustellen. Der Trainer Christoph Gotschke, der auch dieses Team betreuen wird, freut sich schon sehr auf die neue Aufgabe.
- Hier gehts zur Anmeldung zum Sichtungscamp.
Mehr zum Expedkader
Weitere Infos zum Expedkader der Frauen und Männer gibt es unter alpenverein.de/expedkader oder auf den Sozialen Medien:
- Instagram DAV Expedkader
- Facebook DAV Expedkader
Vielen Dank an unsere Partner!
Ohne die Unterstützung durch die Partner des DAV-Expedkaders könnten die Lehrgänge so nicht stattfinden. Mit der Bekleidung, den Schlafsäcken und Kletter-Rucksäcken von Mountain Equipment sind die Athleten und Athletinnen bestens ausgerüstet, um den teilweise rauen Bedingungen standzuhalten. Edelrid sorgt dafür, dass das Teams zusätzlich mit hochwertiger Kletter-Hardware ausgestattet sind. Und dank Katadyn sind Mahlzeiten und Trinkwasser selbst abseits der Zivilisation gesichert.
Danke, dass ihr dazu beitragt die jungen Alpinistinnen und Alpinisten zu fördern und für alle Herausforderungen in den Bergen vorzubereiten!